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24. Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. April 1986 i.S. Frau X. gegen Schweizerische Eidgenossenschaft (Direktprozess) | |
Regeste |
Art. 47 OR. Höhe der Genugtuungssumme. |
2. Grundsätze und Anhalte für die Bemessung der Genugtuungssumme in schweren Fällen (E. 2); Beispiele aus der neuesten Rechtsprechung (E. 3). |
3. Umstände, welche wegen der Art der Verletzungen und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Betroffenen eine verhältnismässig hohe Genugtuungssumme rechtfertigen (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Das Divisionsgericht 11 verurteilte Oberleutnant A. am 29. Juni 1979 wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gefährdung durch Sprengstoffe zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von zwanzig Tagen. Es hielt das Verschulden des Angeklagten für erheblich, weil er die vorgeschriebenen Sicherheitsmassnahmen völlig ausser acht gelassen habe, obschon er gut ausgebildet worden sei und als Offizier der Luftschutztruppen einen gelben Sprengausweis erworben habe.
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B.- Frau X. ist 1940 geboren, seit 1964 verheiratet und Mutter von drei Kindern im Alter von 21, 15 und 11 Jahren. Sie erhielt von der Schweizerischen Eidgenossenschaft neben Schadenersatzleistungen, die nicht streitig sind (vgl. BGE 111 Ib 194, Fr. 60'000.-- Genugtuung. Mit Klage vom 31. Oktober 1985 beantragte sie dem Bundesgericht, die Eidgenossenschaft zur Zahlung von weiteren Fr. 140'000.-- Genugtuung nebst 5% Zins seit 29. Mai 1978 zu verurteilen. Die Klägerin berief sich in der Sache auf Art. 47 OR und prozessual auf Art. 41 lit. b OG.
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Die Beklagte beantragte in der Antwortschrift, die Klage abzuweisen.
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Ein weiterer Schriftenwechsel fand nicht statt. Der Instruktionsrichter hat die Herausgabe der Akten verfügt, welche über den Sprengunfall bereits bestanden. Von einer mündlichen Vorbereitungsverhandlung hat er im Einverständnis mit den Parteien abgesehen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Nach der neuesten Rechtsprechung pflegt das Bundesgericht im Rahmen seines Ermessens die Genugtuungssumme in schweren Fällen erheblich höher anzusetzen als früher und erhöhte Summen, die von Vorinstanzen zugesprochen werden, eher als angemessen zu bestätigen. Damit soll einerseits der Geldentwertung vermehrt Rechnung getragen und anderseits den kantonalen Gerichten erlaubt werden, die verschiedenen Grade seelischer Unbill in einem erweiterten Rahmen differenzierter zu bewerten (BGE 107 II 349). Da die Bemessung der Genugtuungssumme von den besonderen Umständen des einzelnen Falles abhängt und sich nicht beliebige Unfallfolgen miteinander vergleichen lassen, geht es freilich nicht an, allgemeingültige oder gar starre Regeln aufstellen und ein für allemal feste Grenzen ziehen zu wollen. Anhand konkreter Fälle lassen sich aber Massstäbe setzen, die in anderen, einigermassen vergleichbaren Fällen Anhalt für die Bemessung sein können. Anlass zu einer Erweiterung des Rahmens und zu einer feineren Aufgliederung besteht um so mehr, als die meisten Fälle, sei es gerichtlich oder aussergerichtlich, durch Vergleich erledigt werden. Schliesslich ist stets im Auge zu behalten, dass die Genugtuungsleistung als Wiedergutmachung immaterieller Unbill zu verstehen ist, die sich aber nicht in Geld umsetzen lässt, folglich immer nur ein ![]() | 8 |
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In zwei weiteren Fällen wurden je Fr. 60'000.-- Genugtuung zugesprochen. Im ersten führten schwere Sturzverletzungen eines 19jährigen Dachdeckergehilfen zu einer Lähmung der beiden Körperseiten sowie der Verdauungs- und Sexualorgane; die Lähmung liess auf längere und häufige Spitalaufenthalte und eine um 10% verkürzte Lebenserwartung schliessen. Im zweiten erlitt ein 48jähriger Bauarbeiter eine offene Schädelverletzung mit Gehirnbreiaustritt, ein psychoorganisches Syndrom und eine linksseitige Lähmung, weshalb er vollinvalid und dauernd an den Rollstuhl gebunden ist. Dazu kam im ersten ein grobes, im zweiten ein mittelschweres Verschulden des Schädigers nebst je einem leichten Selbstverschulden. Weil es sich um vergleichbare Fälle handelte, hat das Bundesgericht im zweiten die Genugtuung auf Berufung hin von Fr. 35'000.-- auf Fr. 60'000.-- erhöht (BGE 107 II 349 und das dort zitierte Urteil).
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Auf Anschlussberufung hin hat das Bundesgericht in einem weiteren Fall die Genugtuung von Fr. 20'000.-- auf Fr. 30'000.-- erhöht. Es ging um einen 45jährigen Zugführer, der infolge ausschliesslichen Verschuldens eines Lastwagenführers ein Schädeltrauma mit starker Hirnerschütterung, eine Oberschenkel- und eine Tibiafraktur sowie Atmungsstörungen erlitt, während zehn Monaten im Spital lag, vier Monate lang der Nachbehandlung bedurfte, ![]() | 11 |
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a) Das Nachbehandlungszentrum Bellikon der SUVA hat dem Bundesamt für Militärversicherung am 27. April 1984 über die Unfallfolgen und den damaligen Zustand der Klägerin berichtet. Die Gutachter stellten eine posttraumatische mittelschwere bis schwere Hirnleistungsschwäche und Wesensveränderung mit direkter psychischer Traumatisierung fest; die Patientin wirke grob depressiv und verlangsamt, verhalte sich aber adäquat. Neurologisch habe sich die Situation verglichen mit dem Zustand nach der Behandlung vom Herbst 1981 kaum verändert. Durch die vielen plastischen Eingriffe, die teils noch bevorständen, hätten sich die Symptome eher noch verstärkt, da die Patientin die psychischen Probleme wegen ihrer Wesensveränderung nur schlecht in den Griff bekomme. Die Hirnleistungsschwäche und die Wesensveränderung liessen auf eine mittelschwere Hirnfunktionsstörung schliessen und gehörten zusammen mit einer echten Unfallneurose und der depressiven Verstimmung zu den Dauerschäden. Die Gutachter ![]() | 13 |
Dazu kommt, dass das Mittelgesicht der Klägerin, das samt der Nase durch den Metallsplitter zertrümmert worden ist, trotz wiederholter Rekonstruktionen der Jochbeinpartie und des Oberkiefers sowie trotz mehrerer Nasenkorrekturen und Transplantationen dauernd sehr entstellt bleibt. Das gilt insbesondere für die rechte Gesichtshälfte, die durch die Schielstellung des erloschenen Auges zusätzlich verunstaltet wird. Die Klägerin hat ausserdem oben alle natürlichen Zähne verloren und hat nun infolge der Gesichtszertrümmerung einen Kreuzbiss. Die Gutachter hielten es im April 1984 für unwahrscheinlich, dass der Oberkiefer der Klägerin chirurgisch wiederhergestellt werden könne. Sie schlossen schliesslich eine berufliche Wiedereingliederung oder eine Umschulung aus; die Patientin müsse vielmehr als vollinvalid bezeichnet werden.
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b) Die Auswirkungen der Dauerschäden auf das tägliche Leben der Klägerin ergeben sich vor allem aus einem Bericht des Bundesamtes für Militärversicherung vom 18. November 1982. Danach war die Patientin damals beim Essen, Trinken und Atmen stark behindert und konnte wegen Kauunfähigkeit praktisch nur Weichspeisen zu sich nehmen. Obschon sie nur langsam trank, verschüttete sie vieles; für eine normale Mahlzeit benötigte sie über eine Stunde. Leichtere Haushaltarbeiten konnte sie zwar selbständig verrichten, blieb im übrigen aber stets auf die Hilfe ihrer Familienangehörigen angewiesen. Daran hat sich nach Berichten, die dem Gutachten vom 27. April 1984 zugrunde lagen, auch nachher kaum etwas geändert; die Patientin bedurfte weiterhin der täglichen Unterstützung durch Dritte. Ihr arg entstelltes Gesicht, mit dem sie auf der Strasse Aufsehen oder Widerwillen erregte, sowie ihre Schwierigkeiten, sauber zu essen und sich ausserhalb der Wohnung ungezwungen zu benehmen, veranlassten sie, zuhause zu bleiben statt auszugehen und soziale Kontakte zu pflegen. Ihre Vereinsamung wird nur durch die sozial gute Integration innerhalb der Familie etwas gemildert.
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Nicht zu übersehen sind schliesslich das Ausmass körperlicher Schmerzen, die Beeinträchtigung des Lebensgenusses und die empfindliche Verminderung der Lebensfreude samt ihren weiteren ![]() | 16 |
c) Bei einer solchen Häufung besonders tragischer Unfallfolgen fällt das strafbare Verhalten von Oberleutnant A. als Bemessungsfaktor nicht mehr besonders ins Gewicht. Das heisst allerdings nicht, sein Verschulden lasse sich verharmlosen; angesichts seiner Ausbildung und Stellung als verantwortlicher Sprengoffizier sowie der Art der Abbruchsprengung innerorts erweisen seine Unterlassungen sich vielmehr als grobe Fahrlässigkeit (vgl. BGE 111 Ib 197 E. 4).
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Entgegen den Einwänden der Beklagten kommt zudem nichts darauf an, ob Oberleutnant A. als Organ der Eidgenossenschaft oder bloss als Angehöriger der Armee gehandelt habe; sein Verschulden ist der Beklagten so oder anders wie ein eigenes anzurechnen, bei der Bemessung der Genugtuung folglich zu berücksichtigen. Inwiefern darin eine gefährliche Abkehr von der Organtheorie und damit von der bisherigen Rechtsprechung liegen soll, ist nicht zu ersehen. Das ergibt sich insbesondere nicht aus BGE 107 II 496 E. 5b, wo es um die Bedeutung des Verschuldens im Falle eines Regresses auf eine kausalhaftpflichtige juristische Person ging. Die ![]() | 18 |
d) Die physischen und psychischen Lebensbeeinträchtigungen der Klägerin infolge des Sprengunfalls wiegen so schwer, dass sie sich entgegen der Annahme der Beklagten nicht mit Fr. 60'000.-- Genugtuung abgelten lassen. Angesichts der neuesten Rechtsprechung, wonach in schweren Fällen die Genugtuungsleistung erheblich höher anzusetzen ist als früher, rechtfertigt sich vielmehr ein Betrag von über Fr. 100'000.--; das Gericht hält in Würdigung der besonderen Umstände des Falles eine Summe von Fr. 110'000.-- für angemessen. Die Klägerin hat daher, nachdem sie bereits Fr. 60'000.-- erhalten hat, noch Anspruch auf Fr. 50'000.--, die seit dem Tag des Unfalles mit 5% zu verzinsen sind.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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