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63. Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Juni 1987 i.S. U. J. und Mitbeteiligte gegen X. SA (Berufung) | |
Regeste |
Haftung des Luftfrachtführers. Art. 25 des Warschauer Abkommens vom 12. Oktober 1929 (Haager Fassung). | |
Sachverhalt | |
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Der Unfall ist im wesentlichen auf folgende Ursachen zurückzuführen: Der durchgeführte Instrumentenflug mit Landeanweisungen bedingte die Eingabe einer Checkliste. Dabei gab der Copilot die Höhe des angeflogenen Flugplatzes richtig mit 1998 Fuss an, doch unterlief ihm bei der Angabe der Überflugshöhe über das äussere Schwellenfunkfeuer in der Anflugschneise ein folgenschwerer Ablesefehler, indem er statt 3282 Fuss 2382 Fuss angab. In der Folge sank das Flugzeug im Anflug unter die vorgeschriebene Überflugshöhe. Daraufhin setzte das Ground Proximity Warning System (GPWS) mit der Warnung ein "Terrain, terrain, whoop, whoop, pull up". Bei diesem System handelt es sich um einen automatisch funktionierenden Radiohöhenmeter, der mit akustischen und optischen Signalen auf potentiell gefährliche Flugbahnen hinweist, insbesondere auf Risiken einer Bodenberührung. Nebst der zitierten akustischen Warnung leuchtet zusätzlich ein rotes Signal mit der Aufschrift "GPWS" oder "Pull up" auf. Kommandant und Copilot nahmen die Warnung wohl zur Kenntnis, beachteten sie indessen nicht, ergriffen insbesondere keine Sofortmassnahmen.
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B.- Am 17. März 1986 klagten die Mutter und die beiden Brüder der getöteten R.J. beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Fluggesellschaft auf Zahlung von rund Fr. 270'000.-- Schadenersatz und Genugtuung. Am 19. Juni 1986 schlossen die Parteien einen Vergleich über die Beschränkung des Verfahrens auf die Frage, ob die Beklagte gemäss Art. 25 des Warschauer Abkommens über die in dessen Art. 22 festgesetzten Limiten hinaus hafte; für den Fall der Verneinung dieser Frage durch das Handelsgericht sollte die Beklagte den Klägern vergleichsweise nebst den bereits bezahlten Beträgen noch Fr. 43'400.-- bezahlen. Mit Urteil vom 28. Oktober 1986 wies das Handelsgericht die Klage, soweit sie den vergleichsweise anerkannten Betrag überstieg, ab, weil das von Art. 25 für eine Ausdehnung der Haftung vorausgesetzte subjektive Bewusstsein der objektiv unbestrittenermassen fehlerhaft handelnden Piloten, ihr Verhalten werde wahrscheinlich den eingetretenen Schaden zur Folge haben, von den Klägern nicht bewiesen sei.
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Aus den Erwägungen: | |
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Art. 22 WA beschränkt die Haftung des Luftfrachtführers auf bestimmte Beträge. Die Beschränkung entfällt, wenn die in Art. 25 WA umschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Bestimmung lautet in der für die Auslegung massgebenden (BGE 108 II 235 E. 4a mit Hinweis) französischen Originalfassung (RO 1963 664):
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"Les limites de responsabilité prévues à l'article 22 ne s'appliquent pas s'il est prouvé que le dommage résulte d'un acte ou d'une omission du transporteur ou de ses préposés fait, soit avec l'intention de provoquer un dommage, soit témérairement et avec conscience qu'un dommage en résultera probablement, pour autant que, dans le cas d'un acte ou d'une omission de préposés, la preuve soit également apportée que ceux-ci ont agi dans l'exercice de leurs fonctions."
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Die Kläger machen geltend, das Handelsgericht habe das nach Art. 25 WA haftungsbegründende Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde, zu Unrecht subjektiv verstanden, anstatt es aus den Umständen zu objektivieren. Absicht werfen auch die Kläger dem Bedienungspersonal nicht vor. Demnach ist zunächst zu prüfen, ob die Vorinstanz die Anwendbarkeit von Art. 25 WA allein aufgrund des von ihr für das Bundesgericht als Tatfrage verbindlich festgestellten fehlenden Bewusstseins (BGE 95 II 40 E. 3) der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts verneinen durfte. Sollte sich diese Auslegung als zutreffend erweisen, kann mit der Vorinstanz offenbleiben, ob die kumulative Voraussetzung, nach der das Verhalten der Besatzung "téméraire" sein muss, erfüllt wäre.
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a) Die Entstehungsgeschichte des Art. 25 WA zeigt, dass diese Bestimmung in ihrer ursprünglichen Fassung die erweiterte Haftung u.a. für den Fall vorsah, dass der Luftfrachtführer oder sein Personal den Schaden durch Fahrlässigkeit herbeigeführt hatte, die nach der lex fori dem Vorsatz gleichstand (BS 13 S. 664). Grund für die fehlende Rechtsvereinheitlichung war das angelsächsische Recht, das - im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Recht - den Begriff der groben Fahrlässigkeit nicht kannte, sondern ihn mit dem Vorsatz unter dem Begriff des "wilful misconduct" zusammenfasste (vgl. BGE 93 II 347 und dortige Hinweise). Die schweizerische Rechtsprechung ihrerseits legte den ursprünglichen Art. 25 dahingehend aus, dass die unbeschränkte Haftung des Luftfrachtführers durch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit begründet werde (BGE 93 II ibidem).
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Die Neuumschreibung und Vereinheitlichung der Voraussetzungen einer unbegrenzten Haftung des Luftfrachtführers war das umstrittenste Problem der Haager Konferenz zur Revision des Warschauer Abkommens (OTTO RIESE, Die internationale Luftprivatrechtskonferenz im Haag zur Revision des Warschauer Abkommens, Zeitschrift für Luftrecht 5 (1956) S. 30). Die Meinungen, ![]() ![]() | 11 |
Die Entstehungsgeschichte des Haager Protokolls macht deutlich, dass die Tendenz der Rechtsvereinheitlichung wesentlich auf den anglo-amerikanischen Rechtskreis ausgerichtet war, indem die kontinentaleuropäische Praxis, die für eine unbegrenzte Haftung des Luftfrachtführers auch grobe Fahrlässigkeit genügen liess, bewusst aufgegeben und als zusätzliches Erfordernis das als innere Tatsache verstandene Bewusstsein der Schadenswahrscheinlichkeit in das Übereinkommen aufgenommen wurde. An diesem Ergebnis vermag nichts zu ändern, dass die bundesdeutsche Delegation im Zeitpunkt ihrer Zustimmung zum Haager Protokoll offenbar der Auffassung war, grobe Fahrlässigkeit genüge weiterhin, um die unbegrenzte Haftung des Luftfrachtführers zu begründen (RIESE, a.a.O., S. 33), und auch der Schweizerische Bundesrat in seiner Botschaft diese Interpretation für möglich hielt (BBl 1962 I 1409; FF 1962 I 1457). Die diesbezüglichen Äusserungen, auf die sich die Kläger berufen, stehen in offensichtlichem Widerspruch zu den in dieser Hinsicht entgegen der klägerischen Behauptung eindeutigen Materialien, die auch nichts für den Standpunkt hergeben, dem in Art. 25 WA übrigens klar als kumulative Voraussetzung formulierten Bewusstsein könne gegenüber der "témérité" wegen der Beweisschwierigkeiten nur subsidiäre Bedeutung zukommen. Diese Schwierigkeiten waren den Konferenzteilnehmern durchaus bewusst, weshalb denn auch die Forderung, das Bewusstsein der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts müsse einem Indizienbeweis zugänglich sein, unwidersprochen blieb (Nachweise bei GULDIMANN, Internationales Lufttransportrecht, N 11 zu Art. 25 WA; GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 19 zu Art. 25 WA; MANKIEWICZ, The Liability Regime of The International Air Carrier, S. 116 f.; vgl. zur Grundsatzfrage auch KUMMER, Berner Kommentar, N 92 zu Art. 8 ZGB). Im übrigen bestätigt die Diskussion über die Beweisschwierigkeiten das Ergebnis der historischen Auslegung, ist doch das Bewusstsein der Schadenswahrscheinlichkeit als Wissenselement nur zu beweisen, wenn es subjektiv, d.h. als innere Tatsache verstanden wird, wogegen die objektive, d.h. abstrakte Zurechnung eines hypothetischen Wissens als rechtliche Schlussfolgerung aus den konkreten Umständen nicht Gegenstand der - beweismässigen - Sachverhaltsermittlung ![]() | 12 |
b) Zu keinem anderen Auslegungsergebnis führt die teleologische Methode. Das Ziel der Neufassung von Art. 25 WA lag darin, die Voraussetzungen einer unbegrenzten Haftung des Luftfrachtführers zu verschärfen, jedenfalls bezogen auf die kontinentaleuropäische Praxis, welche derjenigen des anglo-amerikanischen Rechtskreises angepasst werden sollte. Gerechtfertigt wurde die Verschärfung damit, dass das Haager Protokoll gleichzeitig die Haftungsgrenzen des Art. 22 Abs. 1 verdoppelte (vgl. zum Grundsatz der Erschwerung der unbegrenzten Haftung die Urteile BGE 98 II 241 mit Hinweis auf SCHLEICHER/REYMANN/ABRAHAM, Das Recht der Luftfahrt, 3. A. 1966, Bd. II, S. 1004, sowie des deutschen Bundesgerichtshofes vom 16. Februar 1979 in BGHZ 74 (1979) S. 168, und vom 12. Januar 1982 in NJW 1982 I S. 1218; sodann GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 3 und 14 zu Art. 25 WA; GERBER, a.a.O., S. 86; GULDIMANN, a.a.O., N 11 Ziff. 2 zu Art. 25 WA; SESSELI, La notion de faute dans la Convention de Varsovie, Diss. Lausanne 1961, S. 155).
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Allfällige Beweisschwierigkeiten (KUMMER, ZBJV 110 (1974) S. 87) vermögen am teleologischen Auslegungsergebnis nichts zu ändern (GULDIMANN, a.a.O., N 11 zu Art. 25 WA; GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 19 a.E. zu Art. 25 WA), zumal es nicht angeht, den Ausnahmecharakter von Art. 25 WA durch eine extensive Auslegung zu unterlaufen.
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Dass das Bewusstsein ein tatsächliches sein muss und blosses Erkennenmüssen nicht genügt, wird im übrigen bestätigt durch die im Haager Protokoll neu formulierten Anforderungen an den Begriff einer willentlichen Schädigung. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung verlangt Art. 25 WA nicht lediglich Vorsatz, sondern Absicht. Damit sollte klargestellt werden, dass sich das Bewusstsein des Schädigers nicht bloss auf sein Verhalten, sondern auch auf den Erfolg, d.h. den Schaden richten muss (GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 15 zu Art. 25 WA).
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c) In der Literatur herrscht die Auffassung vor, das Bewusstseinserfordernis in Art. 25 WA sei subjektiv, als innere Tatsache zu verstehen (vgl. aus dem jüngeren Schrifttum GULDIMANN, a.a.O., N 6 zu Art. 25 WA; GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 17 zu Art. 25 WA; MANKIEWICZ, in ZLW 26 (1977) S. 186; MANKIEWICZ, The Liability ..., S. 117).
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d) Die Rechtsprechung hat sich ebenfalls vornehmlich zur subjektiven Auffassung bekannt, so insbesondere in Belgien, Grossbritannien und Italien (wo allerdings jüngstens die Haftungsgrenzen nach Art. 22 Abs. 1 WA als verfassungswidrig erklärt wurden; vgl. KUHN, Keine Haftungslimitierung ... vor italienischen Gerichten, ZLW 35 (1986) S. 99 ff.), wogegen die französische Praxis vorerst der objektivierten Betrachtungsweise folgte, aber in neuester Zeit eher auch der subjektiven Auffassung zuneigt (Nachweise bei GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 17 zu Art. 25 WA, SCHONER, Die internationale Rechtsprechung zum WA, ZLW 29 (1980) S. 353 ff., MANKIEWICZ, The Liability ..., S. 115 ff. Ziff. 158).
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Die Rechtsprechung der Vereinigten Staaten ist insofern nicht aussagekräftig, als die USA dem Warschauer Abkommen bis heute nur in der ursprünglichen Fassung von 1929, nicht aber in derjenigen des Haager Protokolls von 1955 beigetreten sind.
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Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland kann noch nicht als gefestigt bezeichnet werden (GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, SCHONER sowie MANKIEWICZ, je a.a.O.). Abzulehnen ist jedenfalls die vom deutschen Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 16. Februar 1979 angetönte Auffassung, unter Umständen gestatte Art. 25 WA herabgesetzte Anforderungen an eine Haftungsausdehnung, wenn Personen- und nicht Sachschäden zu beurteilen seien (BGHZ 74 (1979) S. 168). Eine solche Differenzierung findet im Staatsvertrag keine Stütze (gleicher Meinung GIEMULLA/LAU/MÖLLS/SCHMID, N 17 zu Art. 25 WA; GIESEN, a.a.O.). Die These ist in der deutschen Rechtsprechung auch mit der Begründung verworfen worden, es lasse sich durchaus die umgekehrte Prämisse vertreten, dass der natürliche Selbsterhaltungstrieb der Besatzung bei Gefahr für Leib und Leben die Erkenntnis ![]() | 20 |
Schliesslich hat sich auch das Schweizerische Bundesgericht bei Sachschäden zur subjektiven Auffassung bekannt, indem es für die unbegrenzte Haftung des Luftfrachtführers voraussetzt, der Handelnde müsse sich der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts bewusst sein (BGE 98 II 240 ff. E. 4, insb. S. 242).
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Da beweismässig insbesondere feststeht, dass die Piloten auch nach Einsetzen akustischer und optischer Warnsignale des GPWS bis wenige Sekunden vor dem Aufprall in ruhigem Ton weitergesprochen und keine Sofortmassnahmen ergriffen haben, fehlt es am von Art. 25 WA vorausgesetzten Bewusstsein. Die Klageabweisung durch die Vorinstanz ist somit zu bestätigen. Den Klägern muss freilich zugestanden werden, dass die vom Bundesgericht anzuwendende lex lata Fluggesellschaften mit unqualifiziertem Personal begünstigen kann.
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