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24. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Juni 1989 i.S. X. gegen Psychiatrische Gerichtskommission des Kantons Zürich (Berufung) | |
Regeste |
Fürsorgerische Freiheitsentziehung. | |
Sachverhalt | |
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Am 7. November 1988 wandte sich X. mit dem Begehren um gerichtliche Beurteilung an die Psychiatrische Gerichtskommission des Kantons Zürich. Nachdem er vom ärztlichen Referenten am 10. Dezember 1988 mündlich befragt und untersucht worden war, wies die Gerichtskommission das Entlassungsgesuch mit Zirkularbeschluss vom 5. Januar 1989 ab. Auf das Eventualbegehren, mit dem die Versetzung in eine geeignete Anstalt bis Ende 1988 oder ![]() | 2 |
X. hat gegen den Entscheid der Psychiatrischen Gerichtskommission beim Bundesgericht Berufung eingereicht. Er verlangt seine Entlassung sowie die Feststellung, dass die derzeitige Zwangsmedikation widerrechtlich sei. Gleichzeitig ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Die Psychiatrische Gerichtskommission des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
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Aus den Erwägungen: | |
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Diese Bestimmungen haben unter dem Einfluss der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK vom 4. November 1950, SR 0.101) Eingang ins Schweizerische Zivilgesetzbuch gefunden. Wegleitend war dabei namentlich Art. 5 Ziff. 4 EMRK, wonach jede Person, der die Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht hat, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit ihre Entlassung angeordnet wird (Botschaft, über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Fürsorgerische Freiheitsentziehung] und den Rückzug des Vorbehaltes zu Art. 5 EMRK vom 17. August 1977, in BBl 1977 III, S. 3 ff.).
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Die gerichtliche Beurteilung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung stellt anerkanntermassen ein Verfahren im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK dar (BGE 114 Ia 185). Die Ausgestaltung der Verfahrensordnung obliegt den Kantonen, wobei diese den erwähnten bundesrechtlichen Vorschriften Rechnung zu tragen haben. Der Kanton Zürich ist dieser Aufgabe mit der Schaffung der Verordnung über das Verfahren der Psychiatrischen Gerichtskommission vom 28. Januar 1981 nachgekommen (Zürcher Gesetzessammlung ![]() | 7 |
a) Mit der Berufung wird auch eine Verletzung von Art. 397f Abs. 3 ZGB geltend gemacht. Wenn diese Bestimmung der EMRK gerecht werden wolle - so führt der Berufungskläger aus -, erfordere dies die Anhörung des Betroffenen durch das gesamte entscheidende Gericht und nicht nur, wie vorliegend geschehen, durch den delegierten medizinischen Referenten.
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Der Berufungskläger verlangt damit sinngemäss die Überprüfung der Rechtmässigkeit kantonalen Rechts. Das Berufungsverfahren bietet ihm diese Möglichkeit, dürfen doch die Kantone im Rahmen ihres Prozessrechts keine Normen erlassen, welche die Verwirklichung des Bundeszivilrechts verunmöglichen oder seinem Sinn und Geist widersprechen (BGE 110 II 48 E. 4c, BGE 108 II 340 E. 2d). Dabei muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Revision des Vormundschaftsrechts erklärtermassen unter der Zielsetzung stand, die bei Eingriffen in die persönliche Freiheit durch Bundesverfassung und EMRK gewährleisteten Garantien in die Bundesgesetzgebung aufzunehmen; jede Missachtung dieser Garantien beinhaltet demgemäss zunächst eine Verletzung der in das ZGB aufgenommenen Bestimmungen, die vor Bundesgericht mit der Berufung geltend zu machen ist (Botschaft, a.a.O., S. 43).
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In der Lehre ist dieser Entscheid nicht ohne Kritik geblieben. So wird etwa darauf verwiesen, dass gerade in Kantonen, in denen der Sachverständige im Richterkollegium sitze und gleichzeitig als Referent tätig sei, dieser Sachverständige eine sehr starke Stellung erhalte (SCHNYDER, in ZBJV 122/1986, S. 99, sowie in ZVW 40/1985, S. 90 f., vgl. auch TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 10. A. 1986, S. 386; anscheinend zustimmend indessen DESCHENAUX/STEINAUER, Personnes physiques et tutelle, 2. A. 1986, S. 320 N. 1184).
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a) Ein Verfahren im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat nach der einschlägigen Rechtsprechung gewissen Anforderungen zu entsprechen. Die Konvention schreibt freilich eine bestimmte Gerichtsorganisation oder einen bestimmten Verfahrensweg nicht vor (BGE 108 Ia 186 E. 4a mit Hinweisen). Das Verfahren braucht auch nicht notwendigerweise in allen Fällen, in denen nach der Konvention an ein Gericht gelangt werden kann, dasselbe zu sein. Verlangt wird jedoch, dass bei der gerichtlichen Überprüfung nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK die grundlegenden Verfahrensgarantien beachtet werden. Darunter fallen etwa der Anspruch auf hinreichende ![]() | 13 |
Den erwähnten Anforderungen vermag die Verfahrensordnung des Kantons Zürich vollauf zu genügen. Weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur finden sich Hinweise, die für die vorliegend zu beurteilende Rechtsfrage von unmittelbarer Bedeutung wären (vgl. etwa Olivier JACOT-GUILLARMOD, Intérêt de la jurisprudence des organes de la CEDH pour la mise en oeuvre du nouveau droit suisse de la privation de liberté à des fins d'assistance, ZVW 36/1981, S. 41 ff., insb. S. 49, 50 f.). Desgleichen können auch die von der Rechtsprechung aus Art. 4 BV hergeleiteten Verfahrensgarantien nicht als Entscheidungshilfen dienen, gewährt doch die Bundesverfassung weder ein Recht auf mündliche Äusserung (BGE 109 Ia 178, BGE 108 Ia 191 E. 2a, BGE 96 I 312 u.a.) noch auf Äusserung vor der ganzen entscheidenden Behörde (Rolf TINNER, Das rechtliche Gehör, in ZSR 83/1964 II S. 345 f.; ebenso Klaus REINHARDT, Das rechtliche Gehör in Verwaltungssachen, Diss. Zürich 1968, S. 17 ff.).
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b) Den Kantonen kommt bei der Ausgestaltung der Verfahrensordnung im Rahmen der bundesrechtlichen Schranken ein erhebliches Mass an Freiheit zu. Entsprechend wird etwa in der bundesrätlichen Botschaft die Auffassung vertreten, die Funktion des in Art. 397f ZGB erwähnten Richters könne sowohl von einem Einzelrichter als auch von einem Richterkollegium erfüllt werden (Botschaft, a.a.O., S. 39). Zur Frage aber, ob bei erstinstanzlich tätigen Kollegialbehörden ein Anspruch auf persönliche Anhörung durch die Gesamtbehörde von Bundesrechts wegen besteht, ist der Botschaft nichts zu entnehmen.
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Es ist die Auffassung vertreten worden, dass in den kantonalen Einführungserlassen als Grundsatz die Anhörung durch die Gesamtbehörde festgehalten werden sollte, derweil in begründeten Fällen (z.B. wenn Gefahr im Verzug ist oder durch die Anhörung das Beschleunigungsgebot verletzt würde) Ausnahmen möglich blieben (Arbeitsgruppe des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements: ![]() | 16 |
c) Mit der in Art. 397f Abs. 3 ZGB verankerten Pflicht zur Einvernahme sollte einerseits der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör auf Gesetzesstufe verankert werden; andererseits hat dieser Anspruch mit der Ausgestaltung des Gesetzes eine wesentliche Erweiterung erfahren, da sich - wie erwähnt - ein Recht auf mündliche Äusserung aus Art. 4 BV selbst nicht ableiten lässt (Botschaft, a.a.O., S. 40). Diese Erweiterung findet ihren Grund im besonderen Gegenstand des Verfahrens nach Art. 397d ZGB. Hier bezieht sich das Erkenntnisverfahren auf die Beurteilung der betroffenen Persönlichkeit und der Notwendigkeit freiheitsbegrenzender Massnahmen; der Richter, der die Anordnung oder Fortführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung - durch die immerhin eines der wichtigsten Rechtsgüter des Menschen beschnitten wird - zu beurteilen hat, soll aus diesem Grund vorweg einen eigenen, unverfälschten Eindruck vom Betroffenen gewinnen können (sinngemäss auch Botschaft, a.a.O., S. 40). Hierin liegt ein grundlegender Unterschied etwa zur Frage der Beweisabnahme durch den delegierten Richter, eine prozessuale Möglichkeit, die weit verbreitet und nicht zu beanstanden ist (Übersicht bei GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. A. 1979, S. 417).
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Erschöpft sich mithin der Gehalt des Art. 397f Abs. 3 ZGB nicht in der Gewährung des rechtlichen Gehörs im Sinne eines blossen ![]() | 18 |
Erheblich verstärkt werden die Bedenken gegenüber der blossen Befragung durch ein delegiertes Mitglied der Kollegialbehörde sodann durch den Umstand, dass es sich beim Referenten im Falle der Befragung psychisch Kranker (Art. 397e Ziff. 5 ZGB) regelmässig zugleich um den mitwirkenden Sachverständigen handelt; diesem wird dadurch eine sehr mächtige Stellung eingeräumt, die gerade unter dem Gesichtspunkt eines grösstmöglichen Rechtsschutzes nicht zu befriedigen vermag und die auch durch die Einsitznahme weiterer fachkundiger Mitglieder im Kollegium (vgl. für den Kanton Zürich § 3 Abs. 1 VO) kaum auszugleichen ist (SCHNYDER, ZVW, a.a.O.).
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Ergibt sich endlich nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände, dass in aller Regel ein umfassender und wirksamer Rechtsschutz des Betroffenen die unmittelbare Wahrnehmung durch das entscheidende Gericht erfordert, ist eine wörtliche Auslegung von Art. 397f Abs. 3 ZGB geboten. Demgemäss hält die bislang im Kanton Zürich wie auch in anderen Kantonen geübte Praxis, wonach die mündliche Einvernahme durch einen delegierten Richter vorgenommen wird, vor Bundesrecht nicht stand. In diesem Sinne ist die Berufung gutzuheissen und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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