BGE 115 II 464 - Beratungsvertrag | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Jana Schmid, A. Tschentscher | |||
83. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Dezember 1989 i.S. X. Treuhand AG gegen Y. (Berufung) | |
Regeste |
Art. 404 Abs. 1 OR. | |
Sachverhalt | |
A.- Die X. Treuhand AG und Y. schlossen am 20. August 1984 einen "Beratungsvertrag" ab, worin Y. sich im wesentlichen zur Erstellung von Jahresrechnungen, zu Betriebsanalysen und zur Entwicklung und Einführung neuer Betriebsmodelle verpflichtete. Am 9. November 1984 kündigte die X. Treuhand AG den Vertrag fristlos. Dem widersetzte sich Y., indem er sich auf den Standpunkt stellte, eine Kündigung sei nach dem Vertrag frühestens auf Ende März 1985 möglich. Seine Tätigkeit wurde nach der Kündigungserklärung nicht mehr beansprucht.
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B.- Eine Klage des Y. auf Bezahlung von Fr. 39'808.-- nebst Zins wurde vom Amtsgericht Luzern-Land mit Urteil vom 14. Juli 1987 abgewiesen, auf Appellation des Klägers aber am 19. Dezember 1985 von der I. Kammer des Obergerichts des Kantons Luzern im Umfang von Fr. 34'681.60 nebst Zins gutgeheissen.
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C.- Das Bundesgericht heisst die von der Beklagten eingereichte Berufung teilweise gut und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
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Aus den Erwägungen: | |
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Insbesondere reicht die Feststellung, die Beklagte habe aus wichtigen Gründen die Kündigung des Vertrages mit sofortiger Wirkung beansprucht, für die Annahme der Ausübung eines Gestaltungsrechts nach Art. 107 OR nicht aus. Die Beklagte beruft sich auch nicht auf ein offensichtliches Versehen der Vorinstanz (Art. 63 Abs. 2 OG) oder darauf, dass im kantonalen Verfahren vorgebrachte Behauptungen unberücksichtigt geblieben, die vorinstanzlichen Feststellungen mithin zu ergänzen seien (Art. 64 OG; BGE 111 II 473 E. 1c mit Hinweisen). Das eine oder das andere aber wäre erforderlich, sollen die Vorbringen der Beklagten nicht als neu und damit als unzulässig gelten (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Darüber hilft auch der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen nicht hinweg. Dieser entbindet die Parteien nicht von ihrer Behauptungslast. Unter der Herrschaft der Dispositions- und der Verhandlungsmaxime ist es vielmehr deren Sache, die geltend gemachten Ansprüche zu benennen sowie den Sachverhalt darzulegen und zu beweisen; dem Richter obliegt einzig, die zutreffenden Rechtssätze auf den behaupteten und festgestellten Sachverhalt zur Anwendung zu bringen (GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 156). Ein Rechtssatz kann daher nicht von Amtes wegen angewendet werden, wenn sein Tatbestand nicht einmal behauptet, geschweige denn bewiesen ist (a.a.O., Anm. 9). Der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen schützt nicht vor dem Verlust eines materiellen Anspruchs durch unsorgfältige Prozessführung.
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Auf die verzugsrechtlichen Einwände der Beklagten ist daher nicht einzutreten.
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Das Obergericht hat die Rechtsnatur des von den Parteien geschlossenen Vertrages unter verschiedenen Qualifikationsgesichtspunkten geprüft und ist zum Ergebnis gelangt, er sei entweder den Bestimmungen über den einfachen Auftrag oder denjenigen über den Arbeitsvertrag zu unterstellen. Von dieser Alternative gehen übereinstimmend auch die Parteien aus. Im Hinblick auf Art. 55 Abs. 1 lit. b OG kann sich daher auch die bundesgerichtliche Rechtskontrolle auf diese beiden Vertragstypen beschränken.
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Die Frage, ob ein Auftrag oder ein Arbeitsvertrag vorliegt, hat das Obergericht offengelassen, da es die von den Parteien getroffenen Kündigungsmodalitäten als mit beiden Typen vereinbar erachtet hat. Die Beklagte erblickt darin eine Verletzung von Art. 404 Abs. 1 OR.
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a) Art. 404 Abs. 1 OR bestimmt, dass der Auftrag von jedem Teil jederzeit widerrufen oder gekündigt werden kann. Die Rechtfertigung dieser Regel ist darin zu erblicken, dass der Beauftragte regelmässig eine ausgesprochene Vertrauensstellung einnimmt, es aber keinen Sinn hat, den Vertrag noch aufrechterhalten zu wollen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien zerstört ist (BGE 104 II 115 f. E. 4).
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist das jederzeitige Auflösungsrecht zwingend und beschlägt sowohl reine Auftragsverhältnisse als auch gemischte Verträge, für welche hinsichtlich der zeitlichen Bindung der Parteien die Bestimmungen des Auftragsrechtes als sachgerecht erscheinen (BGE 110 II 382 E. 2; 106 II 159 E. b; 104 II 115 f. E. 4 mit Hinweisen). In BGE 109 II 467 E. 3e hat das Bundesgericht allerdings die Frage offengelassen, ob der zwingende Charakter von Art. 404 Abs. 1 OR sämtliche Auftragsverhältnisse schlechthin erfasse oder auf typische, namentlich unentgeltliche oder höchstpersönliche Aufträge zu beschränken sei, mit der Folge, dass atypische Aufträge einer anderen, insbesondere einer parteiautonomen Beendigungsordnung zugänglich seien. Dies entspricht zwar einer weitverbreiteten Auffassung in der Literatur (vgl. z.B. JÄGGI, SJZ 69/1973, S. 304 f.; BUCHER, ZSR 102/1983 II, S. 322 ff.; GAUCH, Baurecht 1984, S. 51; derselbe, Der Werkvertrag, 3. Aufl. 1985, Nr. 58), wird von anderen Autoren aber weiterhin und - wie im folgenden zu zeigen ist - mit Recht abgelehnt (GAUTSCHI, N. 10 zu Art. 404 OR; HOFSTETTER, SPR VII/2, S. 52 ff.; MERZ, ZBJV 121/1985, S. 216; derselbe, Die Qualifikation des Architektenvertrages, in Innominatverträge, Festschrift Schluep, S. 213).
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aa) Art. 404 OR ist in die Gesamtordnung des Auftragsrechtes integriert; diese aber regelt sowohl entgeltliche wie unentgeltliche (Art. 394 Abs. 3 OR), höchstpersönliche wie andere (Art. 399 OR) Auftragsverhältnisse und unterstellt sie alle einem einheitlichen Beendigungssystem (Art. 404 ff. OR). Der klare Wortlaut des Gesetzes lässt eine Differenzierung nicht zu (MERZ, Festschrift Schluep, a.a.O.).
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bb) Eine Unterscheidung nach der Vergütungspflicht liefe zudem einer gefestigten Praxis zuwider. Das Bundesgericht hat den zwingenden Charakter von Art. 404 Abs. 1 OR stets ohne Rücksicht darauf bejaht, dass die zu beurteilenden Streitsachen entgeltliche Auftragsverhältnisse betrafen (vgl. z.B. BGE 110 II 380 ff.; BGE 106 II 157 ff.; BGE 98 II 305 ff.). Eine Abwendung von dieser konstanten Praxis wäre mit dem Gebot der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren.
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cc) Der Begriff der Höchstpersönlichkeit ist kein taugliches Abgrenzungskriterium. Einerseits ist er nicht Ausdruck eines besonderen Vertrauensverhältnisses, indem ein solches durchaus auch bei befugter Auftragserfüllung durch Hilfspersonen oder Substituten gegeben sein kann, anderseits erlaubt er keine Abgrenzung nach systematisch klaren Grundsätzen, sondern ist ausgesprochen am Einzelfall orientiert. Ob beispielsweise bei Inanspruchnahme eines Arzt- oder eines Anwaltskollektivs, einer industriell organisierten und auf eine weitgehend anonyme Vielzahl von Fachkräften abgestützten Architekten- oder Ingenieurunternehmung ein höchstpersönliches Auftrags- und Vertrauensverhältnis begründet wird, lässt sich kaum nach einheitlichen Gesichtspunkten beurteilen und bietet Auslegungsschwierigkeiten, die sich mit der bisherigen, dem klaren Gesetzeswortlaut folgenden Rechtsprechung vermeiden lassen.
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dd) Von der Frage der Abgrenzung zwischen typischen und atypischen Auftragsverhältnissen ist diejenige nach der Begrenzung der Reichweite des Auftragsrechtes als solchem zu unterscheiden. Dabei geht es nicht um die dispositive oder zwingende Natur einzelner auftragsrechtlicher Bestimmungen, insbesondere von Art. 404 Abs. 1 OR, sondern um die Anwendbarkeit des Auftragsrechts überhaupt. Geprüft wird, auf welche Dienstleistungsverträge das Auftragsrecht Anwendung findet und inwieweit gemischte Verträge mit auftragsrechtlichem Einschlag nach den von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Kriterien (vgl. SCHLUEP, SPR VII/2, S. 800 ff.) dem Auftragsrecht zu unterstellen sind (vgl. BGE 115 II 111 E. c). Gelangt jedoch Auftragsrecht auf die Beendigung eines Vertrages zur Anwendung, besteht keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen und den zwingenden Charakter von Art. 404 Abs. 1 OR in Zweifel zu ziehen. Es bleibt somit dabei, dass das freie Widerrufsrecht im Auftragsverhältnis vertraglich weder wegbedungen noch beschränkt werden darf (BGE 104 II 116; BGE 98 II 307 mit Hinweisen).
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b) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz wäre deshalb eine Berufung des Klägers auf die vertraglich vereinbarten Kündigungsmodalitäten ausgeschlossen, wenn es sich bei dem mit der Beklagten geschlossenen Beratervertrag um ein Auftrags- oder um ein gemischtes Vertragsverhältnis handelte, das in bezug auf seine Beendigung dem Auftragsrecht untersteht.
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c) Welchen gesetzlichen Bestimmungen ein Vertrag zu unterstellen ist, ergibt sich aus seinem Inhalt. Dieser ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei in erster Linie auf den übereinstimmenden tatsächlichen Willen der Parteien abzustellen ist (Art. 18 Abs. 1 OR). Da die Vorinstanz die vertraglichen Kündigungsmodalitäten sowohl nach den Bestimmungen über den Arbeitsvertrag als auch nach denjenigen über den einfachen Auftrag als zulässig erachtete, konnte sie darauf verzichten, die tatbeständlichen Grundlagen der Zuordnung zum einen oder zum andern dieser Vertragstypen näher zu klären; ebensowenig brauchte sie zu prüfen, ob das auftragsrechtliche Widerrufsrecht allenfalls rechtsmissbräuchlich ausgeübt worden war. Ist aber nach dem Gesagten die Rechtsauffassung der Vorinstanz mit dem zwingenden Charakter des Art. 404 Abs. 1 OR nicht zu vereinbaren, bedarf der Sachverhalt entsprechender Ergänzung. Diese kann vom Bundesgericht nicht selbst vorgenommen werden. In teilweiser Gutheissung der Berufung ist daher der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG).
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