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80. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Oktober 1992 i.S. Armin, Monique und Martina W. gegen S. Versicherungsgesellschaft (Berufung) | |
Regeste |
Genugtuungsanspruch der Angehörigen nach Art. 47 OR. | |
Sachverhalt | |
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B.- Armin, Monique und Martina W. klagten am 30. Oktober 1990 beim Appellationshof des Kantons Bern gegen die Versicherungsgesellschaft auf Zahlung von je Fr. 60'000.-- und Fr. 25'000.-- an Armin und Monique W. sowie von Fr. 30'000.-- und Fr. 15'000.-- nebst Zins an Martina W. Mit Urteil vom 7. November 1991 wies der Appellationshof die Klage ab. Er befand, dass die Genugtuungsansprüche der Angehörigen für die Verletzungen von Reto W. verjährt und überdies durch den Vergleich vom 27. Juli/4. August 1982 abgegolten seien; sodann fehle es an der nach der alten Fassung von Art. 49 OR noch vorausgesetzten Schwere des Verschuldens. Eine Genugtuung für die Tötung eines Angehörigen nach Art. 47 OR erachtete der Appellationshof als unbillig, weil die Eltern spätestens beim Ableben von Reto W. durch Erbgang in den Genuss seiner Genugtuung gekommen seien.
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C.- Armin, Monique und Martina W. haben gegen das Urteil des Appellationshofes Berufung eingereicht. Sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Beklagte zu folgenden Zahlungen zu verurteilen:
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a) An den Kläger 1:
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- Fr. 60'000.-- nebst Zins zu 5% seit 12.4.1979
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- Fr. 25'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988
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- Fr. 60'000.-- nebst Zins zu 5% seit 12.4.1979
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- Fr. 25'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988
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c) An die Klägerin 3:
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- Fr. 15'000.-- nebst Zins zu 5% seit 19.11.1988.
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Die Versicherungsgesellschaft beantragt im wesentlichen Abweisung der Berufung, soweit darauf eingetreten werden könne, und Bestätigung des angefochtenen Urteils. Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut
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aus folgenden Erwägungen: | |
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Die Kläger rügen, der Appellationshof lasse die Frage offen, ob sich die Angehörigen die seinerzeit dem Verletzten ausbezahlte und nach dem Tod geerbte Genugtuungssumme anrechnen lassen müssen, gehe aber dennoch davon aus, dass diese Anrechnung stattfinden solle. Diese Auffassung sei dogmatisch unhaltbar und führe zu widersprüchlichen Ergebnissen. Wisse ein Verletzter um die Anrechnungspflicht, so werde er das Geld verprassen und den Haftpflichtigen zu einer kumulierten Entschädigung zwingen, während der Sparsame letzterem oder seinem Versicherer einen Gefallen tue.
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Der Einwand der Kläger, dass die Vorinstanz eine Anrechnung der für Reto W. bezahlten Genugtuung vorgenommen hat, trifft zu. Im folgenden ist zu prüfen, ob das zulässig ist.
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Nach OFTINGER haben die Angehörigen selber einen Anspruch aus eigenem Recht, wenn der Verletzte später an den Unfallfolgen stirbt; ohne Begründung versagt dieser Autor jedoch dem Getöteten für die noch zu Lebzeiten zugefügte Unbill einen eigenen Genugtuungsanspruch und erachtet damit nur die eine oder die andere Forderung für gerechtfertigt (Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 4. Aufl., S. 294). HÜTTE (Die Genugtuung, 2. Aufl., I/20, Ziff. 1.11) hält dafür, dass ein vom Verletzten mit dem Haftpflichtigen abgeschlossener Vergleich beim späteren Tod des Verletzten keine neuen Ansprüche der hinterbliebenen Angehörigen entstehen lasse; durch die Abfindung seien sämtliche Ansprüche nach Art. 47 OR abgegolten. Beiden Auffassungen kann nicht gefolgt werden. Stirbt der Verletzte erst nach geraumer Zeit, so sind die Angehörigen genugtuungsberechtigt, wenn der Kausalzusammenhang feststeht und die Verjährung noch nicht eingetreten ist. Dass der Betroffene selbst schon eine Genugtuung erhalten hat, welche nun die Hinterbliebenen erben, ist nicht massgeblich; grundsätzlich haben beide Ansprüche nebeneinander Platz, wobei im Ergebnis jener des Verletzten auf die begrenzte Zeit seines Leidens abzustimmen ist (KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, S. 113; ähnlich auch BREHM, N 118 ff. zu Art. 47 OR, S. 326, und TERCIER, Die Genugtuung, in Strassenverkehrsrechts-Tagung 1988, S. 2, sowie BEAUVERD, L'action des proches en réparation de la perte de soutien et du tort moral, Diss. Freiburg 1986, S. 120 ff., Rz. 233).
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Abzulehnen ist eine Anrechnung der geerbten Genugtuung im Sinne BREHMS (N 120 zu Art. 47 OR), denn die Ansprüche beruhen auf verschiedenen Rechtsgründen, was einer Kompensation grundsätzlich entgegensteht. Zudem handelt es sich bei der Genugtuung um einen Anspruch, der sich ziffernmässig nicht errechnen lässt ![]() | 18 |
b) Die Kläger verlangen für beide Elternteile eine Genugtuungssumme von je Fr. 25'000.--, für die Schwester eine solche von Fr. 15'000.--.
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aa) Die Genugtuung bezweckt ausschliesslich eine Abgeltung für erlittene Unbill, indem das Wohlbefinden anderweitig gesteigert oder dessen Beeinträchtigung erträglicher gemacht wird. Ob und in welcher Höhe Genugtuung zuzusprechen ist, hängt neben der Schwere der Unbill von der Aussicht ab, dass die Zahlung eines Geldbetrages den körperlichen oder seelischen Schmerz spürbar lindern wird (BGE 115 II 158 E. 2 mit Hinweisen).
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Reto W. erlitt beim Unfall vom 12. April 1979 im Alter von fast sieben Jahren äusserst schwere Hirnverletzungen mit nachfolgender Tetraplegie. Er wurde 1980 nach Hause entlassen und von seiner Mutter gepflegt, welche deswegen ihren Beruf aufgegeben hatte. Der vollinvalide Sohn hat durch die Pflege im Kreise seiner Angehörigen mehr Zuwendung und Wärme erfahren als in einem Pflegeheim. Die räumliche Nähe und der grosse Schmerz, der den Eltern erwuchs, haben trotz der entstandenen Unannehmlichkeiten die persönliche Beziehung der Betroffenen zum Geschädigten ohne Zweifel noch vertieft. Es bedarf deshalb nicht vieler Worte, dass der Tod von Reto W. den hinterbliebenen seelisches Leid verursacht hat und dass eine Entschädigung für diese erlittene Unbill geschuldet ist.
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bb) Die Frage, ob und in welchem Ausmass eine Mitberücksichtigung in Betracht gezogen werden soll, hängt entscheidend von den Gegebenheiten des Einzelfalles ab, wobei auch hier dem Richter - wie bei der Bemessung einer Genugtuung an sich - ein breiter ![]() | 22 |
cc) Die Vorinstanz hat der Schwester von Reto W. eine solche Abfindung auch deshalb versagt, weil nach Aussagen der Eltern Retos Tod bei ihr nicht nur Betroffenheit ausgelöst habe. Dem Mädchen, das in diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt gewesen war, sei damit eine jahrelange Last weggenommen worden. Dass Martina W. durch das Ableben ihres hilflosen Bruders, mit dessen Leid sie tagtäglich konfrontiert war, ihrerseits von einer seelischen Pein erlöst worden war, ist einfühlbar. Ebenso verständlich ist, dass ihre Lebensfreude während dieser Zeit eingeschränkt war. Diese Umstände allein erlauben indessen nicht, von der Zusprechung einer Genugtuung abzusehen. Vorweg sprechen ethische Gesichtspunkte klar dagegen, den Tod eines Menschen, für den ein Haftpflichtiger verantwortlich ist, als Erlösung zu betrachten und eine Betroffenheit der Hinterbliebenen leichthin zu verneinen. Martina W. hat gemäss dem angefochtenen Urteil Mühe bekundet, ihren invaliden Bruder zu akzeptieren, ist zu einem ruhigen Mädchen geworden und hat sich zurückgezogen. Diese Persönlichkeitsveränderungen hätten ohne Zweifel für die Zusprechung einer Entschädigung für seelische Unbill nach Art. 49 OR ausgereicht, wäre dieser Anspruch nicht verjährt gewesen (E. 2e). Die Schwierigkeiten, die Martina W. mit der psychischen Verarbeitung der Invalidität ihres Bruders hatte, und die in derartigen Fällen grösser als im Fall des Todes sein können (Art. 49 OR; vgl. BGE 112 II 223 E. c) und die mit dem Hinschied von Reto W. weggefallen sind, dürfen grundsätzlich nicht mit dem seelischen Schmerz für den Verlust ihres Bruders nach Art. 47 OR gegeneinander abgewogen werden, denn diese Ansprüche bestehen unabhängig voneinander. Martina W. wird sich zeitlebens an die mit ihrem Bruder verbrachte Kindheit erinnern, die durch den Unfall jäh abgebrochen wurde, und sein Tod hat sie nach dem angefochtenen Urteil erschüttert. Es erscheint deshalb angemessen, ihr für diesen Schmerz eine Genugtuung von Fr. 6'000.-- zuzubilligen, welche ab Todestag zu verzinsen ist.
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