BGE 119 II 222 - Patientenkartei | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Jana Schmid, A. Tschentscher | |||
45. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. April 1993 i.S. M. gegen E. (Berufung) | |
Regeste |
Vertrag über die Veräusserung und Übernahme einer ärztlichen Praxis; Schutz der Persönlichkeitsrechte der Patienten (Art. 28 ZGB, Art. 20 OR). |
2. Soweit damit der übernehmende Arzt berechtigt wird, über die Patientenkartei zu verfügen, ist eine Vertragsnichtigkeit aufgrund der heutigen Gesetzgebung zu verneinen (E. 2b). | |
Sachverhalt | |
Der 1914 geborene Arzt E. betrieb während vieler Jahre eine gynäkologische Praxis in gemieteten Räumen in B. Er suchte 1989 einen Praxisübernehmer, mit dem er am Anfang eine Praxisgemeinschaft bilden wollte, aus welcher er dann in einem späteren Zeitpunkt auszuscheiden beabsichtigte. Interessiert an einer solchen Praxisübernahme war M., der damals als angestellter Arzt in einem öffentlichen Spital tätig war. Zu einem Vertragsschluss kam es jedoch nicht. Kurz darauf erlitt E. einen Verkehrsunfall, an dessen Folgen er am 10. Januar 1990 starb. Als Erben hinterliess er seine Ehefrau und den im Jahre 1978 geborenen Sohn G.
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Am 27. Januar 1990 fand in den Praxisräumen eine Zusammenkunft statt, an der M. und Frau E. sowie deren Rechtsberaterin C. teilnahmen. Im Rahmen dieser Zusammenkunft wurde zwischen Frau E., die zugleich als Vertreterin ihres Sohnes handelte, und M. mündlich vereinbart, dass dieser die gynäkologische Praxis zum Preis von Fr. 70'000.-- übernehmen werde. Die mündliche Vereinbarung wurde von Fürsprecherin C. am 30. Januar 1990 schriftlich bestätigt. Danach sollten im Kaufpreis, der mit der Übernahme der Praxis fällig wurde, insbesondere "sämtliche Krankengeschichten der Patientinnen von Dr. med. E." enthalten sein.
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Mit Brief vom 29. Januar 1990 an Fürsprecherin C. hatte M. seinerseits mitgeteilt, er habe am Vortag bei der Durchsicht eines Teiles der Krankengeschichten festgestellt, dass die Karteiunterlagen grösstenteils unleserlich und zudem mit unverständlichen Aufzeichnungen versehen seien; unter diesen Umständen stellten diese Unterlagen keinen grossen Goodwill der Praxis dar, weshalb die von Frau E. geforderte Entschädigung zu hoch sei. R. M. schlug vor, den Goodwill der Praxis im vorgesehenen Zeitpunkt der Übernahme durch einen neutralen Experten schätzen zu lassen. In ihrem Antwortschreiben vom 2. Februar 1990 lehnte Fürsprecherin C. den Vorschlag ab.
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Nachdem die Erben E.'s das Mietverhältnis über die Praxisräume gekündigt hatten, wurden sie an M. vermietet, der ab Dezember 1990 darin seine ärztliche Praxis betrieb. Über eine Herabsetzung der Goodwillentschädigung kam auch in der Folge keine Einigung zustande.
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Im März 1991 reichten Frau E. und ihr Sohn G. beim Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen M. ein. Die Kläger verlangten die Zahlung von Fr. 70'000.-- nebst 6% Zins seit 1. April 1990 als Goodwillentschädigung und von Fr. 11'312.-- nebst 5% Zins seit 15. Juli 1990 als Entschädigung für die anstelle des Beklagten bezahlten Mietzinse.
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Mit Urteil vom 7. Juli 1992 hiess der Appellationshof die Klage im wesentlichen gut. Eine vom Beklagten gegen dieses Urteil eingereichte Berufung wird vom Bundesgericht abgewiesen.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Gegenstand des Praxisübernahmevertrags bildeten einerseits einige wenige Instrumente und Geräte, deren Wert bei der Bestimmung des Übernahmepreises von Fr. 70'000.-- unwesentlich war, und andererseits der Goodwill der Praxis. Darunter wird im allgemeinen der wirtschaftliche Wert verstanden, der für den Übernehmer eines Betriebs in der Chance besteht, die bisherigen Kunden für sich zu gewinnen und sich so eine Grundlage für sein eigenes Unternehmen zu schaffen (vgl. zum Goodwill eines Restaurants: BGE 93 II 459 E. 4, und einer Arztpraxis: UHLENBRUCK, in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, S. 134 Rz. 1 und S. 136 Rz. 7). In ihren Rechtsschriften bezeichnen die Parteien denn auch damit übereinstimmend den "potentiellen Kundenkreis" als Gegenstand des Vertrages. Insoweit ist aber eine Widerrechtlichkeit des Praxisübernahmevertrages nicht ersichtlich. Etwas anderes lässt sich auch nicht dem vom Beklagten zitierten Urteil des Deutschen Bundesgerichtshofs vom 11. Dezember 1991 entnehmen (abgedruckt in NJW 1992, S. 737-741). Dieser Entscheid geht - in Übereinstimmung mit der deutschen Lehre und Rechtsprechung (vgl. UHLENBRUCK, a.a.O., S. 134 Rz. 1) - von der grundsätzlichen Gültigkeit des Praxisübernahme- oder -veräusserungsvertrages aus und erklärt ihn lediglich insoweit für nichtig, als er den Praxisveräusserer auch ohne Einwilligung der betroffenen Patientinnen und Patienten verpflichtet, dem Erwerber die Patienten- und Beratungskartei zu übergeben (E. I 3).
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b) Einig sind sich die Parteien allerdings auch darin, dass der Verkauf des Goodwills nur dann einen Sinn hatte, wenn der Beklagte Namen und Adressen der Patientinnen des verstorbenen Dr. E. verwenden und hinsichtlich solcher Patientinnen, die sich von ihm behandeln lassen wollten, auch die Krankengeschichten einsehen durfte. Nach ausdrücklicher Vereinbarung sollte denn auch der Beklagte das Recht haben, die Patientinnen des verstorbenen Dr. E. selbst anzuschreiben, um ihnen die Praxisübernahme mitzuteilen; zudem sollten sämtliche schriftlichen Unterlagen bezüglich der Patientinnen mit der Praxisübernahme in den Gewahrsam des Beklagten übergehen.
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aa) Die Personendaten der Patientenkartei einer Arztpraxis sind grundsätzlich dem durch Art. 28 ZGB geschützten Geheimbereich der betreffenden Patientinnen und Patienten zuzurechnen (vgl. zur Unterscheidung von Geheim-, Privat- und Gemeinbereich BGE 118 IV 45 E. 4 mit Hinweisen). Daten über die Gesundheit gehören nach Art. 3 lit. c Ziff. 2 des - im jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht in Kraft stehenden - Bundesgesetzes über den Datenschutz denn auch zu den besonders schützenswerten Personendaten (BBl 1992 III 960). Die Weitergabe solcher Daten bedeutet in der Regel eine Persönlichkeitsverletzung der Patientinnen und Patienten, die nur dann nicht widerrechtlich ist, wenn sie durch Einwilligung der Betroffenen, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB).
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bb) Den Anforderungen des Persönlichkeitsschutzes kann bei einer Praxisübergabe in der Regel ohne weiteres entsprochen werden, wenn der die Praxis veräussernde Arzt genügend Zeit zur Verfügung hat, um seinen Patientinnen und Patienten die beabsichtigte Praxisübergabe anzuzeigen und Weisungen zur Behandlung der Daten bzw. ihre Einwilligung zur Weitergabe der Krankengeschichten an einen Nachfolger einzuholen. Im Falle des Todes eines praktizierenden Arztes ist es zwar denkbar, dass die ehemaligen Patienten von einer Person zur Behandlung ihrer Daten befragt werden können, welche ihrerseits - etwa als ehemalige Hilfsperson des Verstorbenen - mit Einverständnis der Betroffenen in die Daten Einblick hatte. Steht jedoch eine solche Person nicht zur Verfügung, so müssen Dritte die betroffenen Patientinnen oder Patienten anfragen, was mit deren Unterlagen geschehen soll. Dafür müssen sie praktisch in dem Umfange Einsicht in die Patientenakten nehmen, als dies zur Einholung von Weisungen seitens der Betroffenen bzw. zum Erhalt einer allfälligen Einwilligung für die Herausgabe der Akten an einen Nachfolger erforderlich ist.
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cc) Eine zweckmässige und unter allen Gesichtspunkten auch für die betroffenen Patientinnen und Patienten befriedigende Behandlung der Daten ist in diesem letzten Falle aufgrund der heutigen Gesetzgebung nicht erkennbar. Die Patientinnen und Patienten haben ein berechtigtes Interesse daran, dass die schriftlichen Unterlagen nicht vernichtet werden, sondern im Falle der Fortführung der Behandlung durch eine andere Ärztin oder einen anderen Arzt zur Verfügung stehen, damit sich diese möglichst zuverlässig über die Krankengeschichte informieren können. Die Pflicht zur Aufbewahrung der Patientenunterlagen wird im Kanton Bern denn auch nach Art. 20 Abs. 2 des kantonalen Gesundheitsgesetzes den praktizierenden Ärzten für die Dauer von zehn Jahren vorgeschrieben. Die Erben des Verstorbenen haben zwar faktisch Zugang zu den Daten und treten als Gesamtnachfolger in dessen Rechtsstellung ein. Das Auftragsverhältnis erlischt jedoch mit dem Tod des Arztes (Art. 405 Abs. 1 OR), und die Verpflichtung der Erben gegenüber den Patientinnen und Patienten beschränkt sich im wesentlichen auf die Rechenschaftsablage, die Herausgabe und die Abrechnung (Art. 400 und 402 OR). Wenn sie dieser Verpflichtung in der Weise nachkommen, dass sie die Praxis mitsamt den Unterlagen an einen fachkundigen Nachfolger übertragen, so ist dieses Vorgehen - solange eine datenschutzrechtlich befriedigendere Regelung nicht erlassen worden ist - durch das überwiegende Interesse der Patientinnen oder Patienten gerechtfertigt.
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dd) Zwar wäre denkbar, die Patientenkartei zu verschliessen und bei einer staatlichen Stelle wie der kantonalen Aufsichtsbehörde über die Ärzte zu hinterlegen. Eine Einsichtnahme durch eine Drittperson ist auch in diesem Falle insoweit unvermeidlich, als Betroffene in der Folge ihre Unterlagen anfordern. Unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsschutzes ist indessen eine Rechtfertigung für die Einsichtnahme mangels möglichen Einverständnisses der Betroffenen durch eine staatliche Stelle nicht ohne weiteres vorzuziehen. Der strafrechtlich durch Art. 321 StGB geschützte Geheimbereich wird grundsätzlich auch durch Bekanntgabe an Drittpersonen verletzt, die ihrerseits der Geheimhaltungspflicht unterliegen (vgl. BGE 106 IV 132). Entscheidend ist vielmehr das Vermögen der Drittperson zur Wahrnehmung der objektiven Interessen der Personen, deren Daten in Frage stehen.
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ee) Mit der Übernahme der Patientenkartei hat der Beklagte zwar nicht das Recht erhalten, ohne Einwilligung der Patientinnen in deren Krankengeschichten Einsicht zu nehmen. Die Einsichtnahme in die Patientenunterlagen durch nicht in das ärztliche Mandatsverhältnis einbezogene Personen ist nur insoweit gemäss Art. 28 Abs. 2 ZGB gerechtfertigt, als dies zur Wahrnehmung objektiver Interessen der Betroffenen erforderlich ist. Die Kläger haben dem Beklagten vertraglich das Recht übertragen können, insoweit in die Unterlagen Einsicht zu nehmen, als dies zur Kontaktaufnahme mit den Patientinnen erforderlich war. Die von den Parteien angestrebte Übertragung des Goodwills bzw. des potentiellen Kundenkreises kann auf diese Weise praktisch erreicht werden. Soweit sich die Patientinnen in der Folge vom Beklagten hätten behandeln lassen, hätten sie auch in die Einsichtnahme in ihre Krankengeschichte eingewilligt. Für die Patientinnen, die ihm kein Mandat zur ärztlichen Behandlung anvertraut hätten, hätte der Beklagte mit der faktischen Übernahme der Kartei auch die Verpflichtung übernommen, die Unterlagen nach deren Weisung herauszugeben. Wie es sich damit verhält, ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Die von den Parteien angestrebte Übertragung des Goodwills der Arztpraxis war jedenfalls unter Respektierung der Persönlichkeit der betroffenen Patientinnen durchführbar. Der Vertrag ist daher entgegen der Auffassung des Beklagten nicht nichtig im Sinne von Art. 20 OR.
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