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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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27. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24. Mai 1996 i.S. B. gegen Regierung des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Entzug von Fürsorgeleistungen an abgewiesene Asylbewerber; Grundrecht auf Existenzsicherung; Art. 20a und 20b AsylG; Art. 10b der Asylverordnung 2 über Finanzierungsfragen vom 22. Mai 1991. |
Ein gänzlicher Entzug von Fürsorgeleistungen ist ein Grundrechtseingriff. Erfordernis der gesetzlichen Grundlage (E. 2). |
Unverhältnismässigkeit des gänzlichen Entzugs im konkreten Fall (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Mit Verfügung vom 8. August 1995 stellte das Bundesamt für Flüchtlinge fest, dass B. die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, lehnte sein Asylgesuch ab, wies ihn aus der Schweiz weg und setzte ihm eine Ausreisefrist bis 31. Januar 1996. Dieser Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
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Mit Rekurs an die Regierung des Kantons St. Gallen beantragte B., die Verfügung des Departements des Innern vom 8. August 1995 sei vollumfänglich aufzuheben. Die Regierung wies den Rekurs mit Entscheid vom 3. Oktober 1995 ab.
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B. erhob am 6. November 1995 Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht mit dem Antrag, der Rekursentscheid der Regierung und die Verfügung des Departements des Innern seien aufzuheben und es sei festzustellen, dass ihm Anspruch auf Fürsorgeleistungen zustehe.
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Aus den Erwägungen: | |
1. a) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen (Art. 97 OG in Verbindung mit Art. 5 VwVG). Für die Fürsorgeleistungen im Asylbereich gelten unterschiedliche Rechtsgrundlagen: während des Asylverfahrens sind die Art. 20a und 20b des Asylgesetzes vom 5. Oktober 1979 massgebend. Wird das Asyl gewährt, so richtet sich die Fürsorge nach den Art. 31-40 des Asylgesetzes, bis der Flüchtling die Niederlassungsbewilligung erhält; von diesem Moment an ist das kantonale Fürsorgerecht anwendbar (Art. 40a AsylG). Wird das Asylgesuch abgewiesen, ist aber der Vollzug der Wegweisung nicht möglich und wird der abgewiesene Bewerber daher gemäss Art. 18 Abs. 1 des Asylgesetzes vorläufig aufgenommen, so richtet sich die Fürsorge nach Art. 14c Abs. 5 und 6 ANAG (SR 142.20). Der Beschwerdeführer hat weder Asyl erhalten noch ist er nach Art. 14a ANAG vorläufig aufgenommen worden. Er gehört somit zu den Personen, die zwar weggewiesen worden sind, deren weiterer Aufenthalt aber wegen einstweiliger Nichtdurchsetzbarkeit der Ausreise faktisch vorläufig toleriert wird. Für diesen Personenkreis besteht keine ausdrückliche Fürsorgeregelung. Es liegt jedoch nahe, hinsichtlich der Fürsorge für diese faktisch tolerierten Personen ebenfalls die Art. 20a und 20b des Asylgesetzes anzuwenden (ebenso ALBERTO ACHERMANN/CHRISTINA HAUSAMMANN, Handbuch des Asylrechts, 2. A. Bern 1991, S. 407; WALTER SCHMID, Grundsätze des Fürsorgerechts im Asylbereich, Asyl 1992/2+3, S. 23-28, 25; REZA SHAHRDAR, Die Rechtsstellung des Asylsuchenden bis zum Entscheid über die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, Diss. Freiburg 1995, S. 175). Das ergibt sich schon daraus, dass gemäss Art. 20b Abs. 1 AsylG der Bund den Kantonen die Fürsorgeauslagen bis längstens zu dem Tag vergütet, an dem die Wegweisung zu vollziehen ist, was voraussetzt, dass auch in dieser Verfahrensphase für die Fürsorgeleistungen Art. 20a AsylG gilt. Selbst wenn die Fürsorge anstatt nach Art. 20a AsylG in analoger Anwendung von Art. 14c ANAG geleistet würde (so FELIX WOLFFERS, Fürsorgeleistungen an abgewiesene Asylbewerber, Asyl 1995/1, S. 3-8, 4), würde sich im Ergebnis nichts ändern, da die Unterstützung der vorläufig Aufgenommenen weitgehend derjenigen für Asylbewerber entspricht ![]() | 6 |
b) Gemäss Art. 46 Abs. 2 AsylG richtet sich die Beschwerde gegen Verfügungen und Beschwerdeentscheide von Bundesbehörden oder letzten kantonalen Instanzen unter Vorbehalt von Art. 11 AsylG nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Art. 11 AsylG betrifft einzig Beschwerden gegen Verfügungen des Bundesamtes für Flüchtlinge, schliesst aber die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide nicht aus. Da es nicht um die Verweigerung einer Fürsorgeleistung nach den Art. 31 ff. AsylG geht, ist auch die Regelung von Art. 36 AsylG nicht anwendbar. Es besteht auch sonst kein Ausschlussgrund im Sinne der Art. 98 ff. OG.
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c) Auf die frist- und formgerecht eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.
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a) Aus Art. 23 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (SR 0.142.30) kann der Beschwerdeführer nichts für sich ableiten. Das Abkommen gilt nur für Flüchtlinge, was der Beschwerdeführer gemäss rechtskräftigem Asylverweigerungsentscheid gerade nicht ist. Daran ändert auch Art. 25 AsylG nichts: zum einen ist der Beschwerdeführer nicht vorläufig aufgenommen; auch wenn er es wäre, so werden gemäss Art. 25 AsylG nur diejenigen Personen, die als Flüchtling vorläufig aufgenommen wurden, den Flüchtlingen gleichgestellt. Dazu gehören nicht alle vorläufig Aufgenommenen, sondern nur Personen, die an sich Flüchtling wären, aber ![]() | 10 |
b) Gemäss Art. 20a Abs. 1 AsylG erhält der Asylgesuchsteller, der seinen Unterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten kann, vom Kanton, dem er zugewiesen wurde, die nötige Fürsorge. Das Bundesgericht hat zudem kürzlich entschieden, dass die Bundesverfassung ein ungeschriebenes Recht auf Existenzsicherung enthält, das auch Ausländern, die sich in der Schweiz aufhalten, ungeachtet ihres rechtlichen Status zusteht (BGE 121 I 367 E. 2 S. 370 ff.).
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c) Ist ein verfassungsmässiges Recht auf Existenzsicherung anerkannt, so stellt sich der gänzliche Entzug von Fürsorgeleistungen als Grundrechtseingriff dar und unterliegt den dafür geltenden Voraussetzungen, insbesondere dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (WOLFFERS, a.a.O., 1993, S. 88 f., 166).
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aa) Der Regierungsrat stützt seinen Entscheid richtigerweise auf Art. 10b der Asylverordnung 2. Wie vorne (E. 1a) ausgeführt, richten sich die Fürsorgeleistungen für abgewiesene Asylbewerber, die nicht vorläufig aufgenommen wurden, nach Art. 20a AsylG, so dass auch die diese Bestimmung ausführenden Art. 10 ff. der Asylverordnung 2 Anwendung finden. Das Verhalten des Beschwerdeführers erfüllt offensichtlich die Voraussetzungen für den Leistungsentzug gemäss Art. 10b lit. g der Asylverordnung 2. Zu prüfen bleibt, ob diese bundesrätliche Verordnung eine genügende gesetzliche Grundlage darstellt.
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bb) Das Bundesgericht kann im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens vorfrageweise Verordnungen des Bundesrates auf ihre Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit prüfen. Bei unselbständigen Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation stützen, prüft es, ob sich der Bundesrat an die Grenzen der ihm im Gesetz eingeräumten Befugnis gehalten hat. Soweit das Gesetz den Bundesrat nicht ermächtigt, von der Verfassung abzuweichen, befindet das Gericht auch über die Verfassungsmässigkeit der unselbständigen Verordnungen. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsstufe eingeräumt, ist dieser Spielraum nach Art. 114bis Abs. 3 BV für das Bundesgericht verbindlich. Es darf in diesem Fall bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen, sondern beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenz offensichtlich sprengt oder aus andern Gründen gesetz- oder verfassungswidrig sei (BGE 120 Ib 97 E. 3a S. 102; 118 Ib 81 ![]() | 14 |
cc) Die Art. 10 ff. der Asylverordnung 2 können sich auf Art. 50 sowie allenfalls auf Art. 20a Abs. 2 des Asylgesetzes stützen. Diese Bestimmungen geben dem Bundesrat ein erhebliches Ermessen in der Konkretisierung der zu erbringenden Leistungen; sie ermächtigen ihn indessen nicht, von der Verfassung abzuweichen. Die Asylverordnung 2 erlaubt daher eine Kürzung oder einen Entzug von Fürsorgeleistungen nur insoweit, als sich dies nicht als Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Minimum erweist.
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dd) Das bundesverfassungsmässige Recht auf Existenzsicherung begründet einen Anspruch auf positive staatliche Leistungen. Als solcher ist er zwar unmittelbar gerichtlich durchsetzbar (BGE 121 I 367 E. 2c S. 373), doch wird er in der Regel durch ausführende Bestimmungen konkretisiert. Soweit diese Bestimmungen den Anspruch bloss umschreiben, müssen sie jedenfalls von Bundesrechts wegen nicht in der Form eines formellen Gesetzes ergehen, solange die gewährten Leistungen noch oberhalb dessen liegen, was bundesverfassungsrechtlich als Minimum staatlicher Leistung geboten ist. Die Frage der formellgesetzlichen Grundlage stellt sich erst dann, wenn - wie vorliegend - in diesen Mindestbereich eingegriffen wird.
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ee) Es ist anerkannt, dass selbst ohne gesetzliche Grundlage ein vollständiger Leistungsentzug zulässig ist, wenn sich die unterstützte Person rechtsmissbräuchlich verhält (BGE 121 I 367 E. 3b S. 375; WOLFFERS, a.a.O., 1993, S. 168), da das Rechtsmissbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz in der ganzen Rechtsordnung herrscht, auch ohne dass es ausdrücklich angeordnet sein müsste (vgl. BGE 119 Ia 221 E. 5a S. 228; BGE 116 II 497 E. 3 S. 500). Eine formellgesetzliche Grundlage für den Entzug von Fürsorgeleistungen ist daher insoweit entbehrlich, als die Entzugsgründe sich als Konkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots darstellen. Als solche Konkretisierungen sind diejenigen Kürzungsgründe zu betrachten, die an die Verletzung von Obliegenheiten anknüpfen, welche die unterstützte Person aufgrund der Natur des Fürsorgeverhältnisses erfüllen muss, um Leistungen beanspruchen zu können, auch wenn sie nur teilweise ausdrücklich gesetzlich festgehalten sind (vgl. ANNE MÄDER/URSULA NEFF, Vom Bittgang zum Recht, Bern 1988, S. 65 ff.; WOLFFERS, a.a.O., 1993, S. 105 ff.). Das betrifft zumindest die lit. a-d von Art. 10b der Asylverordnung 2.
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ff) Art. 10b lit. g der Asylverordnung 2, auf den sich vorliegend der Entzug hauptsächlich stützt, knüpft jedoch nicht an die Verletzung solcher ![]() | 18 |
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b) Die Prüfung der Verhältnismässigkeit verlangt eine Gesamtwürdigung aller Umstände. Dabei sind die Persönlichkeit und das Verhalten des Leistungsempfängers, die Schwere der ihm vorgeworfenen Verfehlungen, die Umstände des Leistungsentzugs sowie die Gesamtsituation der betreffenden Person in Betracht zu ziehen.
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bb) Das Verhalten des Beschwerdeführers ist nicht zu entschuldigen. Immerhin muss berücksichtigt werden, dass es sich bei seinen Verfehlungen nicht um schwere Verbrechen oder Vergehen handelt. Umgekehrt ist der ihm gegenüber angeordnete unbefristete und vollständige Entzug von Fürsorgeleistungen die schwerstmögliche Massnahme. Es ist zwar den kantonalen Behörden beizupflichten, dass es nicht sinnvoll wäre, Asylbewerbern, die sich nicht an die Hausordnung eines Zentrums halten, statt der primär vorgesehenen Sachleistungen (Art. 20a Abs. 3 AsylG) eine Geldleistung auszurichten oder eine private Unterkunft zuzuweisen, weil das eine Privilegierung derjenigen bedeuten würde, die sich nicht korrekt verhalten. Indessen wären in einer ersten Stufe weniger einschneidende Massnahmen denkbar, wie ein Entzug des Taschengeldes oder allenfalls anderer, über das physische Existenzminimum hinausgehender Leistungen. Sodann sind in solchen Fällen Entzug und Kürzung von Leistungen grundsätzlich zu befristen (WOLFFERS, a.a.O., 1993, S. 169).
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cc) Schliesslich muss die Gesamtsituation des Beschwerdeführers in Betracht gezogen werden. Er wurde gemäss Art. 20 des Asylgesetzes dem Kanton St. Gallen zugewiesen, darf sich somit nicht ausserhalb des Kantons einen Aufenthaltsort aussuchen. Im Unterschied zu anderen Fürsorgeempfängern, die nach dem Entzug von Fürsorgeleistungen in einem Kanton immerhin noch ihren Wohn- oder Aufenthaltsort in einen anderen Kanton verlegen können, bedeutet ![]() | 23 |
c) Gesamthaft ergibt sich, dass der unbefristete Entzug sämtlicher Fürsorgeleistungen unverhältnismässig ist. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben. Es kann nicht Sache des Bundesgerichts sein, selber die dem Beschwerdeführer auszurichtenden Fürsorgeleistungen festzusetzen. Die Sache ist daher in Anwendung von Art. 114 Abs. 2 OG zu neuer Beurteilung an die Regierung des Kantons St. Gallen zurückzuweisen. Diese wird dabei zu berücksichtigen haben, dass eine Kürzung der Fürsorgeleistungen angesichts des Verhaltens des Beschwerdeführers zwar zulässig ist, dass aber ein Entzug auch der für das physische Überleben notwendigen Leistungen zumindest für die Zeit unzulässig ist, in der es dem Beschwerdeführer rechtlich verwehrt oder objektiv unmöglich ist, seinen Lebensunterhalt selber zu bestreiten.
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