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2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 5. November 1997 i.S. B. S. gegen Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsrechtliche Abteilung) (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 12 Abs. 2 OHG; Berücksichtigung des Selbstverschuldens bei der Ausrichtung und Bemessung einer Genugtuung nach OHG. |
Bei der vorliegenden Genugtuungsvereinbarung handelt es sich um einen gerichtlichen Vergleich (E. 3a). Rechtsnatur des gerichtlichen Vergleichs (E. 3b). Bloss relative Gleichstellung des gerichtlichen Vergleichs mit einem Urteil (E. 3c). Wirkungen eines gerichtlichen Vergleichs über die zivilrechtliche Genugtuung auf den Genugtuungsanspruch aus OHG (E. 3d). Die OHG-Behörden dürfen nur unter bestimmten Voraussetzungen von einem Strafurteil abweichen. Der vorliegende Vergleich ist für die OHG-Behörden nicht verbindlich (E. 3d/cc). |
Bedeutung des Selbstverschuldens für die Ausrichtung und Bemessung der Genugtuung im vorliegenden Fall (E. 5c). | |
Sachverhalt | |
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Am 31. Oktober 1996 sprach die Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern (JKG) B. S. eine Entschädigung nach Art. 12 Abs. 1 OHG (Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten [OHG; SR 312.5]) zu, wies hingegen dessen Gesuch um Genugtuung gemäss Art. 12 Abs. 2 OHG ab. Am 24. März 1997 wies die verwaltungsrechtliche Abteilung des bernischen Verwaltungsgerichts (nachfolgend: Verwaltungsgericht) die Beschwerde von B. S. gegen diesen Entscheid der JKG ab.
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B. S. hat dieses Urteil beim Bundesgericht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Zusprechung einer Genugtuung von Fr. 8'000.--.
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Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut
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aus folgenden Erwägungen: | |
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a) Das Verwaltungsgericht stellte sich auf den Standpunkt, es sei nicht an den Vergleich gebunden, welchen der Beschwerdeführer mit dem Täter im Rahmen der im Strafverfahren adhäsionsweise anhängig gemachten Zivilklage abgeschlossen habe. Aus den Strafakten gehe zwar hervor, dass dieser Vergleich mit Hilfe der Kriminalkammer ausgearbeitet worden sei. Das Geschwornengericht habe im Genehmigungsbeschluss jedoch nicht in einer für die mit der Genugtuungsfrage nach OHG befassten Verwaltungsjustizbehörde ![]() | 6 |
b) Vorweg ist festzuhalten, dass durch die Vereinbarung einer (zivilrechtlichen) Genugtuungsleistung des Täters an das Opfer keine grundsätzliche Bindung der (staatlichen) Opferhilfebehörde an ebendiese Genugtuung erreicht werden kann. Wollte man es anders halten, hiesse das, Verträge zulasten Dritter billigen, was nicht angeht. Hingegen fragt sich, ob - und wenn ja - welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass die besagte Vereinbarung zwischen Opfer und Täter im Rahmen des Strafverfahrens mit gerichtlicher Hilfestellung und unter Beachtung bestimmter Verfahrensvorschriften geschlossen wurde. Der Beschwerdeführer macht geltend, es handle sich um einen gerichtlichen Vergleich, an welchen das Verwaltungsgericht gebunden sei; ein Abweichen davon rechtfertige sich nur dann, wenn der darin festgelegte Betrag im Lichte des OHG als nicht angemessen erscheine.
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3. a) Die prozessuale Form des gerichtlichen Vergleichs bestimmt sich nach kantonalem Recht (vgl. BGE 76 II 371 E. 3 S. 374). Das bernische Zivilprozessrecht verlangt die gerichtliche Protokollierung des Vergleichs (Art. 152 Abs. 1 und Art. 207 Abs. 1 des Gesetzes vom 7. Juli 1918 betreffend die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern [ZPO]; vgl. Georg Leuch/Omar Marbach/Franz Kellerhals, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, Kommentar, Bern 1995, Ziff. 1 und 2 zu Art. 152 ZPO und Ziff. 2d zu Art. 207 ZPO). Gleiches muss gelten für Zivilansprüche, die adhäsionsweise vor bernischen Strafjustizbehörden anhängig gemacht worden sind (vgl. zur Zivilklage vor bernischen Strafgerichten Art. 47 Abs. 2 Ziff. 2 und Art. 310 des Gesetzes vom 15. März 1995 über das Strafverfahren [StrV] sowie PETER STAUB, Kommentar zum ![]() | 8 |
b) Mit dem gerichtlichen Vergleich einigen sich die Parteien über den Streitgegenstand (BGE 121 III 397 E. 2c S. 404 f. mit Hinweisen). Der (gerichtliche) Vergleich ist im Bundesprivatrecht nicht geregelt und daher Innominatskontrakt; als solcher untersteht er den Regeln des Obligationenrechts und ist wegen Übervorteilung sowie insbesondere wegen Willensmängeln anfechtbar (vgl. BGE 114 Ib 74 E. 1; BGE 110 II 44 E. 4 S. 46 ff.; BGE 105 II 273 E. 3a S. 277; WALTHER J. HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Auflage, Basel und Frankfurt am Main, 1990, Rz. 312, S. 171; HANS PETER WALTER, Parteiautonome Prozesserledigung und Willensmängel, in: Mitteilungen aus dem Institut für zivilgerichtliches Verfahren in Zürich, Heft Nr. 22/1997, S. 7 ff.). Einem gerichtlichen Vergleich sind jedoch nur Ansprüche zugänglich, über welche die Parteien frei verfügen können (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., lit. 2c zu Art. 207, S. 443; MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 1979, Ziff. 5, S. 395). Das Gericht hat vom Vergleichsabschluss grundsätzlich nur Kenntnis zu nehmen und die Prozesserledigung festzustellen, nicht aber die Angemessenheit des Vereinbarten zu überprüfen (vgl. BGE 99 II 359 E. 3c mit Hinweisen). Bloss dort, wo das Vereinbarte offensichtlich nicht vor dem Recht standhält (wie etwa bei Übervorteilung einer Partei), hat das Gericht die Erledigungserklärung zu versagen, was die Parteien zwingt, den Prozess über den Streitgegenstand fortzuführen oder sich anders zu vergleichen (MAX KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 1984, S. 150). Hingegen hat der Richter zumindest zu prüfen, ob der Vergleich klar und vollständig ist. Ist der Vergleich mangelhaft, so ist es Pflicht des Gerichts, auf seine Verbesserung hinzuwirken (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., lit. 2d zu Art. 207 S. 444; MAX GULDENER, a.a.O., S. 396 Ziff. 7).
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d) Es stellt sich die Frage, welche Wirkungen der zwischen dem Opfer und dem Täter abgeschlossene gerichtliche Vergleich über die zivilrechtliche Genugtuung auf den dem Opfer allenfalls nach Art. 12 Abs. 2 OHG zustehenden Genugtuungsanspruch hat.
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aa) Im Zusammenhang mit dem administrativen Führerausweisentzug hat das Bundesgericht festgehalten, grundsätzlich seien Führerausweisentzug und Strafe voneinander unabhängig; Administrativbehörden und Strafrichter seien dementsprechend aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips gegenseitig nicht an ihre Erkenntnisse gebunden (BGE 109 Ib 203). Die dadurch entstehende Gefahr sich widersprechender Entscheide verletze aber wesentliche Interessen der Rechtseinheit und Rechtssicherheit. Die Administrativbehörde solle deshalb nicht ohne Not von den tatsächlichen Feststellungen der Strafbehörde abweichen, insbesondere, wenn aufgrund eingehender Sachverhaltsabklärungen und Beweisabnahmen ein Strafverfahren sachnäher sei (BGE 115 Ib 163 E. 2a S. 164 mit Hinweisen; RENÉ A. RHINOW, BEAT KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel und Frankfurt a.M., 1990, Nr. 49, S. 158). Anderseits darf die Administrativbehörde namentlich dann von den tatsächlichen Feststellungen des Strafrichters abweichen, wenn sie aufgrund eigener Beweiserhebungen Tatsachen feststellt, die dem Strafrichter unbekannt waren oder die er nicht beachtet hat, ferner wenn neue Tatsachen vorliegen, deren Würdigung ![]() | 12 |
bb) Diese Rechtsprechung in bezug auf das Verhältnis der Administrativ- zu den Strafbehörden kann auf Sachverhalte, wie hier einer vorliegt, sinngemäss angewendet werden. Dabei sind insbesondere die folgenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der von den Opferhilfeinstanzen einerseits und den Straf- oder Zivilgerichten anderseits zu fällenden Entscheide zu berücksichtigen.
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Bei den im Strafverfahren aufgrund einer Adhäsionsklage oder in einem Zivilprozess beurteilten Ansprüchen handelt es sich um Forderungen unter Privaten und nicht um Ansprüche gegenüber dem Staat, wie dies nach dem Opferhilfegesetz der Fall ist. Nicht identisch sind zudem im Verhältnis OR zu OHG der Rechtsgrund bzw. die rechtliche Natur der in Frage stehenden Leistungen. Dies kann zu Unterschieden in den Entschädigungssystemen führen (BGE 121 II 369 E. 3c/aa S. 373). Wie jedoch das Bundesgericht (in BGE 123 II 210 E. 3b/aa S. 215) festgestellt hat, stimmen in der Frage, ob ein (wesentliches) Mitverschulden des Opfers den gänzlichen Ausschluss einer Genugtuung nach OHG rechtfertigen könne, das OHG und die zivilrechtlichen Grundsätze gemäss Art. 47 und 44 OR weitgehend überein. Zudem betrachtete es das Bundesgericht als sinnvoll, wenn sich die Bemessung der Genugtuung nach dem Opferhilfegesetz nicht zu weit von den zivilrechtlichen Grundsätzen entfernt. Ansonsten könnte sich etwa ein Opfer, das bereits ein rechtskräftiges Urteil auf Genugtuung gegen den Täter erwirkt habe und nun ein Gesuch um Opferhilfe mangels Zahlungskraft des Täters einreiche, nicht auf dieses Urteil stützen; statt dessen müsste erneut eine Genugtuungssumme festgesetzt werden - diesmal nach den speziellen Kriterien des Opferhilfegesetzes (BGE 123 II 210 E. 3b/dd S. 216). Es kommt hinzu, dass der Entschädigungs- oder Genugtuungsanspruch nach OHG im Verhältnis zu jenem nach OR in dem ![]() | 14 |
cc) Läge somit im hier zu entscheidenen Fall ein Urteil einer Strafbehörde über die Zivilansprüche gemäss Art. 47 OR vor, in welchem dem Opfer nach umfassenden Sachverhaltsfeststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Erwägungen eine Genugtuung in bestimmter Höhe zugesprochen worden wäre, dann dürften die OHG-Behörden nur unter den oben (E. 3d/aa und bb) geschilderten Voraussetzungen vom Strafurteil abweichen. Hier liegt jedoch kein solches Urteil vor: Die Parteien haben einen Vergleich abgeschlossen, der vom Gericht zwar genehmigt worden ist, zu dem es jedoch inhaltlich nicht Stellung genommen hat. Aus den Erwägungen des Urteils des Geschwornengerichts ist nicht ersichtlich, dass das Gericht aufgrund seiner eigenen rechtlichen Würdigung und aufgrund eigener umfassender Sachverhaltsabklärungen diese Genugtuung vorgeschlagen hat. Insbesondere hat sich das Geschwornengericht weder mit den Voraussetzungen des Genugtuungsanspruchs noch mit der Festsetzung der Höhe einer Genugtuung bzw. mit allfälligen Herabsetzungsgründen auseinandergesetzt. Es rechtfertigt sich somit nicht, diesen gerichtlichen Vergleich - wie ein Urteil - als für die OHG-Behörden (einschliesslich des Verwaltungsgerichts) verbindlich anzusehen. Die OHG-Behörden sind befugt, aufgrund der vom Geschwornengericht getätigten Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigungen ihre eigenen rechtlichen Erwägungen zur Frage der Genugtuung anzustellen.
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Aus diesen Gründen war das Verwaltungsgericht nicht an die im gerichtlichen Vergleich enthaltene Genugtuung gebunden.
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5. a) Das Verwaltungsgericht führte aus, es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer durch die Verletzung in seinen persönlichen Verhältnissen schwer betroffen worden sei. Er habe das schädigende Ereignis nicht selber zu verantworten. Der Täter habe ihn durch einen Schuss in den Bauch verletzt. Den Beschwerdeführer ![]() | 18 |
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c) Aus den Akten - insbesondere dem Urteil des Geschwornengerichts - ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer keine strafrechtlich relevante Handlung vorgeworfen wurde. Der Täter wurde hingegen wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteilt. Wie bereits das Verwaltungsgericht festgehalten hat, ist das provokative Verhalten des Beschwerdeführers vorliegend nicht dermassen gravierend, dass die Straftaten des Täters als zwingend bzw. als ohne weiteres voraussehbar qualifiziert werden müssten. Von einer den Kausalzusammenhang der Ereignisse unterbrechenden Handlung durch den Beschwerdeführer kann somit nicht die Rede sein. Da der Beschwerdeführer auch nicht in seine Verletzung eingewilligt hat, sind die beiden möglichen Voraussetzungen für den Ausschluss einer Genugtuung vorliegend nicht erfüllt. Wie oben dargestellt, darf eine an ![]() | 20 |
Durch die gänzliche Verweigerung einer Genugtuung hat das Verwaltungsgericht dem Selbstverschulden des Beschwerdeführers zuviel Gewicht beigemessen und Art. 12 Abs. 2 OHG verletzt.
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d) Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Da sich noch keine kantonale Verwaltungs- oder Verwaltungsjustizbehörde mit der Höhe einer Genugtuung auseinandergesetzt hat, ist die Sache zur Festsetzung einer solchen an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG).
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