BGE 124 II 97 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Januar 1998 i.S. Bundesamt für Strassen gegen R. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 16 Abs. 2 SVG; Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit innerorts, mittelschwerer Fall. | |
Sachverhalt | |
1 | |
Die Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern hiess am 25. Juni 1997 einen Rekurs der Betroffenen gut, hob die Entzugsverfügung auf und verwarnte R.
| 2 |
3 | |
Die Rekurskommission und die Beschwerdegegnerin beantragen Abweisung der Beschwerde.
| 4 |
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern vom 25. Juni 1997 aufgehoben.
| 5 |
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
6 | |
2. a) Die Vorinstanz nimmt im vorliegenden Fall bei einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 21 km/h einen leichten Fall im Sinne von Artikel 16 Abs. 2 SVG an. Denn gemäss jüngster bundesgerichtlicher Rechtsprechung sei der Führerausweis ungeachtet der konkreten Umstände zu entziehen, wenn die innerorts geltende Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h überschritten worden sei. Betrage die Geschwindigkeitsüberschreitung weniger als 20 km/h, sei eine Verwarnung auszusprechen, wenn nicht erschwerende Umstände eine schärfere Massnahme rechtfertigten. Bewege sich die Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts indessen im Bereich zwischen 20 km/h und 25 km/h, seien die konkreten Umstände zu prüfen. Bei einem leichten Fall könne auch hier noch eine Verwarnung ausgesprochen werden. Ein leichter Fall liege dann vor, wenn der Grad der Gefährdung, wie sie unter den gegebenen Umständen objektiv voraussehbar gewesen sei, und das Verschulden leicht seien und das bisherige Verhalten keine strengere Massnahme erfordere. Ein mittelschwerer Fall liege dann vor, wenn erschwerende Umstände wie reger Verkehr herrschten oder Fussgänger sich in der Nähe des Ortes der Widerhandlung befunden hätten, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei. Es könne nicht angehen, dass gegen jenen Verkehrsteilnehmer, der unter erschwerenden Umständen eine Geschwindigkeitsüberschreitung begehe, dieselbe Administrativmassnahme verfügt würde, wie gegen jenen, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit ohne erschwerende Umstände überschreite.
| 7 |
b) Das beschwerdeführende Amt wendet sich gegen die Annahme der Vorinstanz, dass bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts im Bereich zwischen 20 km/h und 25 km/h aufgrund der konkreten Umstände auch ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG in Betracht komme.
| 8 |
Nach der Rechtsprechung sei ungeachtet der konkreten Umstände objektiv eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG beziehungsweise eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG zu bejahen, wenn die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um 35 km/h, auf einer nicht richtungsgetrennten Autostrasse um 30 km/h und innerorts um 25 km/h überschritten worden sei (BGE 123 II 37, 106 E. 2). Diese Rechtsprechung schliesse nicht aus, dass eine grobe Verkehrsregelverletzung auch bei einer tieferen Geschwindigkeitsüberschreitung, ja sogar da, wo sich der Lenker im Rahmen der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit halte, vorliegen könne (BGE 123 II 37 E. e und f). In solchen Fällen seien aber jeweils die konkreten Umstände zu prüfen.
| 9 |
In bezug auf den mittelschweren Fall, der auch bei günstigen Verkehrsverhältnissen und gutem automobilistischem Leumund einen Führerausweisentzug zur Folge habe, habe das Bundesgericht bis jetzt erst im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberschreitungen auf der Autobahn Gelegenheit gehabt, sich zu äussern. Danach sei bei Geschwindigkeitsüberschreitungen im Bereich von 31-34 km/h ohne Prüfung der konkreten Umstände ein mittelschwerer Fall zu bejahen und der Führerausweis gemäss Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG zu entziehen. Beim mittelschweren Fall innerorts liege die Grenze für den schweren Fall ungeachtet der konkreten Umstände bei einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h bei 25 km/h. Folgerichtig müsse diese für den mittelschweren Fall tiefer liegen (BGE 123 II 106 E. 2c S. 113).
| 10 |
Wer innerorts die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 21 km/h oder mehr überschreite, tue das in der Regel mindestens grobfahrlässig, da eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um 40% objektiv gesehen nicht unbemerkt bleiben könne. Eine Ausnahme komme lediglich da in Betracht, wo der Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint habe, er befinde sich nicht oder nicht mehr im Innerortsbereich. Wie das Bundesgericht in BGE 123 II 37 (mit Hinweis auf BGE 121 II 127 E. 4) dargelegt habe, stelle eine übersetzte Geschwindigkeit gerade innerorts eine erhebliche Gefahr dar. Die Zahl der vom Lenker zu verarbeitenden Reize sei innerorts grösser als ausserorts und auf der Autobahn, was eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordere. Zudem gebe es innerorts viele schwache Verkehrsteilnehmer (Fussgänger, Velofahrer), die - vor allem Kinder und ältere Menschen - einem besonderen Risiko ausgesetzt seien. Darüber hinaus bestehe eine erhöhte Gefahr von Seitenkollisionen. Die anderen Verkehrsteilnehmer dürften sich, auch soweit sie wartepflichtig seien, auf den Vertrauensgrundsatz berufen (BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). Sie müssten sich nicht darauf einstellen, dass ein Fahrzeug innerorts mit einer derart übersetzten Geschwindigkeit herannahe (BGE 118 IV 277, wonach auf Hauptstrassen ausserorts, wo die allgemeine Höchstgeschwindigkeit nach Art. 4a Abs. 1 der Verordnung über die Strassenverkehrsregeln (VRV; SR 741.11) 80 km/h beträgt, generell mit Geschwindigkeiten von über 90 km/h nicht gerechnet werden müsse). Welch schwerwiegende Folgen Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts haben können, wo Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen häufig seien, zeigten physikalische Berechnungen: Fahre ein Auto mit einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h statt mit einer solchen von 50 km/h, habe es dort, wo es bei einer Vollbremsung mit 50 km/h stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 28,2 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h noch eine solche von 40,5 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 70 km/h noch eine solche von 59 km/h. Derartige Aufprallgeschwindigkeiten könnten bei Fussgängern zu schwersten und tödlichen Verletzungen führen. Ab einer Kollisionsgeschwindigkeit von 20 km/h seien Becken- und Beinbrüche, ab einer solchen von 45 km/h tödliche Verletzungen sehr wahrscheinlich. Aus diesen Gründen wiege eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h weder verschuldens- noch gefährdungsmässig leicht.
| 11 |
In konsequenter Weiterentwicklung der Rechtsprechung sei deshalb bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts im Bereich von 21 km/h bis 24 km/h ohne Prüfung der konkreten Umstände jedenfalls objektiv immer zumindest ein mittelschwerer Fall anzunehmen, der selbst bei einem ungetrübten automobilistischen Leumund einen Ausweisentzug gemäss Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG zur Folge habe. Von einem Führerausweisentzug könne höchstens dann abgesehen werden, wenn besondere Umstände vorlägen, wie zum Beispiel in BGE 118 Ib 229.
| 12 |
c) Diese Darstellung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wie auch die daraus gezogene Konsequenz hinsichtlich der Annahme eines mindestens mittelschweren Falles bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts um 21 km/h bis 24 km/h sind zutreffend. Diese Weiterentwicklung der Rechtsprechung befreit die Entzugsbehörde jedoch nicht von der Pflicht, die Umstände des Einzelfalles genauer zu prüfen. Denn sie hat in allen Fällen des erwähnten Geschwindigkeitsbereichs auch das Ausmass der Gefährdung und des Verschuldens abzuklären und zu gewichten, damit sie entscheiden kann, ob allenfalls ein schwerer Fall (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG) vorliegt und welche Entzugsdauer bei einem mittelschweren beziehungsweise schweren Fall angemessen ist. Eine rein schematische Beurteilung dieser Fragen lediglich aufgrund der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung würde ein pflichtwidriges Nichtausüben des rechtserheblichen Ermessens und damit eine Verletzung von Bundesrecht darstellen. Umgekehrt kommt ein leichter Fall in Betracht, wenn der Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint hat, er befinde sich noch nicht oder nicht mehr im Innerortsbereich; unter Umständen entfällt sogar jeder Schuldvorwurf (vgl. MARTIN SCHUBARTH, in René Schaffhauser [Hrsg.], Aspekte der Überforderung im Strassenverkehr - Forderungen an die Praxis, St. Gallen 1997, S. 117; BGE 123 II 37 E. 1f).
| 13 |
Nach Auffassung der Vorinstanz geht es nicht an, dass gegen jenen Verkehrsteilnehmer, der unter erschwerenden Umständen eine Geschwindigkeitsüberschreitung begeht, dieselbe Administrativmassnahme verfügt werde, wie gegen jenen, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit ohne erschwerende Umstände überschreitet; dies widerspräche dem Grundsatz der Rechtsgleichheit. Sollte die Vorinstanz mit dieser Argumentation zum Ausdruck bringen, dass sie bei Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts um 21 km/h bis 24 km/h und günstigen Verhältnissen regelmässig eine Verwarnung und bei erschwerenden Umständen einen fakultativen einmonatigen Entzug anordnet, würde diese Ansicht der bundesgerichtlichen Praxis widersprechen. Wie oben dargelegt, stellt eine Geschwindigkeitsüberschreitung im fraglichen Ausmass in der Regel eine erhöhte Gefährdung mit entsprechendem Verschulden dar, weshalb auch bei günstigen Verhältnissen nur in Ausnahmefällen (BGE 123 II 37 E. 1f; BGE 120 Ib 504; 118 Ib 229) von einem Führerausweisentzug abgesehen werden kann. Treten jedoch erschwerende Umstände hinzu, ist die Minimalentzugsdauer von einem Monat angemessen zu erhöhen und bei einem schweren Fall und Vorliegen der übrigen Voraussetzungen die Rückfallsregelung anzuwenden. Bei einer solchen Rechtsanwendung kann von einer Verletzung des Gleichheitsgebots keine Rede sein.
| 14 |
Nach dem Gesagten stellt die Überschreitung der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 21 km/h durch die Beschwerdegegnerin, und zwar unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten, einen mittelschweren Fall dar, der grundsätzlich einen Führerausweis nach sich zieht.
| 15 |
d) Die Beschwerdegegnerin macht geltend, sie habe sich in der fraglichen kalten Februar-Nacht nicht auf einer Vergnügungsfahrt befunden, sondern auf dem Heimweg von einer - für sie emotional stark belastenden - Sterbebegleitung für einen todkranken Freund (AIDS im Endstadium). Diesem habe sie in der qualvollen Endphase seines Lebens auf der Palliativ-Station des Salem-Spitals Bern allabendlich, meist bis in die Nacht hinein, einfühlsame Sterbebegleitung geleistet. Zwei Wochen nach dem fraglichen Vorfall sei der junge Freund der Familie gestorben. Diese subjektive Seite, die das Tatverschulden konkret vermindere, sei von den kantonalen Instanzen noch gar nicht geprüft und berücksichtigt worden. Allenfalls sei deshalb die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem verfüge sie über einen ungetrübten automobilistischen Leumund und indem sie die Busse durch gemeinnützige Arbeit in einem Alters- und Pflegeheim abgegolten habe, habe sie ihre Einsicht unter Beweis gestellt, weshalb die verfügte Verwarnung zur Erreichung des Warn- und Besserungs-Zwecks offensichtlich genüge. Im übrigen sei sie seit einigen Jahren in ihrer Freizeit karitativ tätig. Die Anordnung eines Führerausweisentzugs würde den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzen.
| 16 |
Die Sterbebegleitung der Beschwerdegegnerin und ihr karitatives Engagement lassen ihren allgemeinen Leumund in einem positiven Licht erscheinen. Doch ist nicht ersichtlich, inwiefern die Rückfahrt von einer Sterbebegleitung das Tatverschulden vermindern sollte.
| 17 |
Zum einen hatte sie den todkranken Freund am fraglichen Abend nicht zum ersten Mal betreut, weshalb die Beschwerdegegnerin im Zeitpunkt der Fahrt nicht unter Schockwirkung stand, und zum andern wäre gerade angesichts der emotional starken Belastung eine besonders vorsichtige Fahrweise angezeigt gewesen. Da die Beschwerdegegnerin durch einen Führerausweisentzug nicht besonders hart betroffen ist und unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nur in Ausnahmefällen eine mildere Massnahme verhängt werden soll (BGE 120 Ib 504; 118 Ib 229), rechtfertigt es sich trotz der Einsicht der Beschwerdegegnerin sowie ihres ausgezeichneten allgemeinen und ungetrübten automobilistischen Leumunds nicht, auf einen Führerausweisentzug zu verzichten. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Weil das beschwerdeführende Amt einen einmonatigen Führerausweisentzug beantragt und das Bundesgericht über diesen Antrag nicht hinausgehen darf, entscheidet das Bundesgericht selbst in der Sache (Art. 114 Abs. 1 und 2 OG).
| 18 |
19 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |