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11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Februar 1999 i.S. S. gegen Polizei- und Militärdirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG und Art. 11 Abs. 3 ANAG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 3 ANAV; Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB sowie Art. 55 StGB; Art. 3 EMRK; fremdenpolizeiliche Ausweisung eines Ausländers, der strafrechtlich unbedingt des Landes verwiesen worden ist. |
Voraussetzungen der Zulässigkeit der Ausweisung, insbesondere deren Verhältnismässigkeit, nach schweizerischem Recht sowie unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 3 EMRK abgeleiteten Rückschiebungsverbots (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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Am 23. Dezember 1993 verurteilte das Obergericht des Kantons Luzern S. wegen vorsätzlicher Tötung, mehrfachen vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung, alles begangen in Notwehrhilfeexzess, sowie wegen Raufhandels, mehrfacher Sachbeschädigung und mehrfachen verbotenen Waffentragens zu elf Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweisung. S. erhob dagegen beim Bundesgericht je eine eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde, welche beide erfolglos blieben.
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Am 5. August 1997 entschied das Justizdepartement des Kantons Luzern, S. bedingt aus dem Strafvollzug zu entlassen mit einer Probezeit von vier Jahren. Hingegen verweigerte das Justizdepartement den probeweisen Aufschub der Landesverweisung. Mit Urteil vom 26. November 1997 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern eine gegen die Verweigerung des Aufschubs der Landesverweisung gerichtete Beschwerde ab. Dagegen erhob S. Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht, welches diese am 21. Januar 1998 abwies.
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Am 12. Dezember 1997 wurde S. bedingt aus dem Strafvollzug entlassen. Am 26. Januar 1998 kündete die Fremdenpolizei des Kantons Bern S. an, sie beabsichtige, ihn aus der Schweiz auszuweisen. Mit Verfügung vom 23. Februar 1998 traf sie den entsprechenden Entscheid und wies S. aus der Schweiz aus. Am 11. Juni ![]() | 4 |
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 12. November 1998 an das Bundesgericht beantragt S., der Entscheid des bernischen Verwaltungsgerichts vom 9. Oktober 1998 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass er nicht aus der Schweiz «wegzuweisen» (richtig: auszuweisen) sei.
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Die Polizei- und Militärdirektion und das Verwaltungsgericht des Kantons Bern sowie das Bundesamt für Ausländerfragen (für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement) schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die Frage, ob die Ausweisung im Sinne der Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 ANAV «angemessen», d.h. verhältnismässig sei, ist eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde frei überprüft werden kann (Art. 104 lit. a OG). Dem Bundesgericht ist es jedoch verwehrt, sein eigenes Ermessen - im Sinne einer Überprüfung der Zweckmässigkeit (Opportunität; vgl. BGE 116 Ib 353 E. 2b) der Ausweisung - an die Stelle desjenigen der zuständigen kantonalen Behörde zu setzen (BGE 122 II 433 E. 2a S. 435; BGE 114 Ib 1 E. 1b).
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b) Verübt ein Ausländer ein Verbrechen oder Vergehen, hat bereits der Strafrichter die Möglichkeit, die strafrechtliche Landesverweisung ![]() | 10 |
Im vorliegenden Fall haben die zuständigen Straf- und Strafvollzugsbehörden des Kantons Luzern die Landesverweisung ausgesprochen bzw. bei der bedingten Entlassung aus der Freiheitsstrafe den Aufschub des Vollzugs der Landesverweisung verweigert. Vollzogen wurde die Landesverweisung bis heute indes nicht. Der Beschwerdeführer hat die Niederlassungsbewilligung im Kanton ![]() | 11 |
c) Die Vorinstanz leitet aus BGE 124 II 289 E. 3a 292 ab, dass die Fremdenpolizeibehörden wegen der Bindung an die unbedingte Landesverweisung in einem allfälligen Entscheid über die Ausweisung des gleichen Ausländers nicht mehr frei seien; der Beurteilungsspielraum beschränke sich diesfalls auf diejenigen Fragen, die auch Gegenstand eines Verfahrens über die Vollstreckung der Landesverweisung bilden könnten; im verwaltungsgerichtlichen Verfahren seien somit lediglich noch die Zulässigkeit der Vollstreckung, namentlich unter dem Gesichtspunkt des Rückschiebungsverbots gemäss Art. 3 EMRK, und die Modalitäten derselben zu überprüfen. Nicht mehr durchzuführen sei hingegen die Interessenabwägung nach Art. 11 ANAG.
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Mit dieser Begründung verkennt die Vorinstanz die Tragweite von BGE 124 II 289. Wie dargelegt, hat das Bundesgericht damit lediglich entschieden, dass bei unbedingter Landesverweisung kein Raum für die Erteilung einer Anwesenheitsbewilligung verbleibt. Die Ausweisung bleibt daneben aber zulässig und kann je nach Einzelfall auch sinnvoll sein. Für ihre Anordnung müssen freilich sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen (nach Art. 10 und 11 ANAG) erfüllt sein und unabhängig von der Landesverweisung geprüft werden. Dies gilt umso mehr, als die Voraussetzungen für die beiden Entfernungsmassnahmen gerade nicht deckungsgleich sind. Namentlich beruhen sie auf unterschiedlichen Interessenlagen. Die strafrechtliche Landesverweisung ist vorab auf die Person des betreffenden ![]() | 13 |
ausgerichtet: So ist für den Entscheid über den bedingten Vollzug der strafrechtlichen Landesverweisung die Prognose über ein künftiges Wohlverhalten des Ausländers in der Schweiz entscheidend (vgl. Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB sowie BGE 123 IV 107 E. 4a S. 111 f., mit Hinweisen). Für denjenigen über den probeweisen Aufschub nach Art. 55 Abs. 2 StGB ist einzig auf die Resozialisierungschancen abzustellen, wobei regelmässig die Aussichten auf Wiedereingliederung in der Schweiz denjenigen im Heimatland gegenüberzustellen sind (vgl. BGE 122 IV 56 E. 3a S. 59 f., mit Hinweisen). Demgegenüber steht für den Entscheid über die fremdenpolizeiliche Ausweisung das allgemeinere Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Vordergrund. Der konkreten Prognose über das Wohlverhalten sowie dem Resozialisierungsgedanken des Strafrechts ist zwar im Rahmen der umfassenden fremdenpolizeilichen Interessenabwägung ebenfalls Rechnung zu tragen, die beiden Umstände geben aber nicht den Ausschlag (vgl. BGE 122 II 433 E. 2b und c S. 435 ff. sowie die dort zitierte weitere Rechtsprechung und Literatur; BGE BGE 114 Ib 1 E. 3a; vgl. auch BGE 120 Ib 129 E. 5b S. 132).
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d) Demnach hat die Vorinstanz ihren Beurteilungsspielraum zu Unrecht eingeschränkt und fälschlicherweise keine Interessenabwägung vorgenommen, womit sie an sich Bundesrecht verletzt und den Sachverhalt unvollständig festgestellt hat. Dennoch rechtfertigt es sich im vorliegenden Fall nicht, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die unteren kantonalen Behörden haben sowohl die notwendigen tatsächlichen Erhebungen als auch die in Art. 11 ANAG vorgesehene Interessenabwägung vorgenommen (vgl. insb. den Beschwerdeentscheid der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern vom 11. Juni 1998). Die tatsächliche Ausgangslage ist damit erstellt und grundsätzlich auch nicht strittig. Einzelne Gesichtspunkte, die in der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind, hat die Vorinstanz in anderem Zusammenhang gewürdigt. Im Übrigen kann das Bundesgericht einen unvollständigen Sachverhalt auch dann von Amtes wegen ergänzen, wenn wie im vorliegenden Fall eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden hat (vgl. Art. 105 Abs. 1 und 2 OG). Der Beschwerdeführer macht sodann auch gar nicht geltend, die Vorinstanz habe keine Interessenabwägung vorgenommen, sondern wendet sich einzig gegen die Beurteilung der Vollziehbarkeit der Entfernungsmassnahme (sei es als Landesverweisung, sei es als Ausweisung), insbesondere unter dem Gesichtspunkt des ![]() | 15 |
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Der Beschwerdeführer lebt seit geraumer Zeit, nämlich seit rund 25 Jahren, in der Schweiz. Seine Ehefrau und zwei seiner Kinder halten sich ebenfalls hier auf, allerdings in einem anderen Kanton, in welchem der Beschwerdeführer keine Anwesenheitsberechtigung erhält (vgl. Art. 14 Abs. 3 ANAV sowie BGE 124 II 289). Der Beschwerdeführer ist aber in seiner Heimat aufgewachsen und hat seine Beziehungen dorthin nie gänzlich abgebrochen. Nahe Verwandte, unter anderem sieben weitere Kinder, leben dort. Sodann haben die Straf- und Strafvollzugsbehörden festgestellt, die Resozialisierungschancen seien im Heimatland nicht kleiner als in der Schweiz (so insb. das Urteil des Kassationshofes des Bundesgerichts vom 21. Januar 1998). Bei dieser Sachlage überwiegt das sicherheitspolizeiliche Interesse an der Entfernung und Fernhaltung des Beschwerdeführers sein privates Interesse, in der Schweiz bleiben zu können. Die angeordnete Ausweisung verstösst somit nicht gegen eidgenössisches Gesetzesrecht.
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b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die Gefährdung bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat wegen der ihm dort drohenden Blutrache unterschätzt. Ausserdem sei es widersprüchlich, beim Entscheid über die Landesverweisung das Schwergewicht darauf zu setzen, er könne in den Kosovo zurück, ihm bei ![]() | 18 |
Es mag zutreffen, dass eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Bundesrepublik Jugoslawien mit einer gewissen Gefährdung wegen der ihn eventuell erwartenden Blutrache der Familie des von ihm Getöteten verbunden ist. Die Gefährdung mag bei einer Rückkehr in den Kosovo allenfalls am grössten sein. Dem Beschwerdeführer steht es jedoch in der Tat frei, sich irgendwo in der Bundesrepublik Jugoslawien niederzulassen. Ginge es im vorliegenden Verfahren lediglich um den Vollzug der Landesverweisung, so stünde dieses Argument möglicherweise in einem gewissen Widerspruch zur Anordnung der Landesverweisung, bei der im Zusammenhang mit der Beurteilung der Resozialisierungschancen die Verhältnisse in der Schweiz mit denjenigen im Kosovo verglichen wurden. Dass der angefochtene Entscheid insofern widersprüchlich erscheint, hängt aber mit der Beschränkung des Beurteilungsspielraums zusammen, der sich die Vorinstanz fälschlicherweise unterzogen hat. Da bei der fremdenpolizeilichen Ausweisung die Wiedereingliederung nur einen von vielen Gesichtspunkten bildet und eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen ist, lässt sich dem Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang ohne weiteres entgegenhalten, er könne als Serbe auch anderswo in der Bundesrepublik Jugoslawien leben. Nicht nur, aber auch in diesem Sinne gilt bei der fremdenpolizeilichen Ausweisung eben ein strengerer Massstab als bei der strafrechtlichen Landesverweisung (vgl. BGE 120 Ib 129 E. 5b S. 132; BGE 114 Ib 1 E. 3a). Es ist demnach nicht ersichtlich, dass die behauptete Gefahr der Blutrache in der Schweiz wesentlich kleiner wäre. Einer - gegebenenfalls illegalen - Einreise in die Schweiz zum Zweck der Rache stehen keine unüberwindbaren Hindernisse entgegen; sodann droht hier - offenbar im Gegensatz zur Bundesrepublik Jugoslawien - nicht die Todesstrafe für Blutrache (vgl. dazu das bereits genannte Urteil des Kassationshofes). Die Ausweisung des Beschwerdeführers verstösst somit nicht gegen Art. 3 EMRK.
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