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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
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57. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. November 1999 i.S. S. gegen Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 16 Abs. 2 SVG, Art. 31 Abs. 2 VZV; Bestimmung des leichten Falles bei Führerausweisentzug/Verwarnung. |
Wenn den Fahrzeuglenker lediglich ein leichtes Verschulden trifft, und er einen langjährigen ungetrübten Fahrerleumund besitzt, ist selbst bei einer grossen Verkehrsgefährdung (fahrlässige Tötung) die Anordnung bloss einer Verwarnung nicht ausgeschlossen (E. 2c). | |
Sachverhalt | |
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S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei eine Verwarnung auszusprechen. Die Rekurskommission stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Demgegenüber beantragt das Bundesamt für Strassen in seiner Vernehmlassung sinngemäss, die Beschwerde sei gutzuheissen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut
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aus folgenden Erwägungen: | |
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Bei der Beurteilung, ob allenfalls ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG (SR 741.01) vorliege, führt sie aus, die Behörde habe dabei in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung und die Schwere des Verschuldens, daneben aber auch den automobilistischen Leumund zu würdigen (Art. 31 Abs. 2 der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]; BGE 121 II 127 E. 3c). Sei der Fall weder unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens noch unter jenem der Gefährdung als leicht zu beurteilen, könne von einem Entzug selbst dann nicht abgesehen werden, wenn der Fahrzeugführer über einen ungetrübten automobilistischen Leumund verfüge (BGE 105 Ib 260 oben).
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Dem Beschwerdeführer werde vorgeworfen, einer Fussgängerin auf dem Fussgängerstreifen den Vortritt nicht gewährt zu haben. Er sei kurz vor Mittag mit seinem Lastwagen in Steffisburg durch die Oberdorfstrasse mit einer Geschwindigkeit zwischen 30 und 40 km/h ![]() | 6 |
Zweifellos seien in casu ungünstige Umstände zusammengekommen. So befinde sich der Fussgängerstreifen ca. fünf bis zehn Meter zu weit vorne noch im Radius der Einbiegestrecke. Zudem sei die Sicht durch die am Rand stehenden Büsche für den heranfahrenden Beschwerdeführer ungünstig gewesen. Dieser sei indessen ortskundig; er habe gewusst, dass das Einbiegemanöver nach rechts in die Zulgstrasse besondere Gefahren mit sich bringe. Er habe auch Schulkinder gesehen, die unterwegs gewesen seien. Diesen Gegebenheiten habe der Beschwerdeführer zwar Rechnung getragen, indem er langsamer gefahren sei und die Geschwindigkeit beim Abbiegemanöver nochmals reduziert habe. Gleichwohl könne ihm der Vorwurf nicht erspart bleiben, die gegebenen Umstände nicht genügend berücksichtigt zu haben. So hätte er gerade wegen der Schulkinder damit rechnen müssen, dass eines dieser Kinder - wie dies häufig der Fall sei - sich nicht vorschriftsgemäss verhalte, und er hätte entsprechend vorsichtig fahren müssen. Auch seien die Örtlichkeiten nicht so gewesen, dass ein Kind völlig unerwartet und plötzlich die Strasse hätte überqueren können, so dass der Beschwerdeführer objektiv gar keine Möglichkeit gehabt hätte, richtig zu reagieren. Die Sichtbehinderung durch die Büsche vermöchten ihn ebenfalls nicht zu entlasten. Zwar habe zweifellos eine Behinderung der Sicht bestanden, indessen sei das Buschwerk relativ niedrig gewesen. Ausserdem werde aus Fotos in den Akten deutlich, dass die Sicht für den Lastwagenchauffeur mit zunehmendem Abbiegen stetig besser geworden sei. Es sei zwar nicht zu leugnen, dass der Fussgängerstreifen an einem kritischen Ort angelegt gewesen sei. Indessen entlaste auch dies den Beschwerdeführer nicht derart, dass von einem fehlenden Verschulden ausgegangen werden könne. Jeder Fahrzeugführer kenne verkehrstechnisch nicht optimal ![]() | 7 |
Schliesslich mache der Beschwerdeführer geltend, das Kind habe sich vermutlich im toten Winkel befunden. Dieses Phänomen kenne indessen jeder langjährige Fahrzeugführer und erst recht ein Berufs- chauffeur. Hierzu sei festzuhalten, dass bei einem dynamischen Prozess wie einem Rechtsabbiegemanöver sich auch der tote Winkel stetig ändere. Im vorliegenden Fall habe aus einer gewissen Distanz noch eine relativ gute Gesamtübersicht bestanden. Diese sei indessen immer schlechter geworden, je mehr sich das Fahrzeug dem Hindernis genähert habe. Dies hänge auch mit der Konstruktion der Lastwagenkabine zusammen. Der Fahrer sitze hoch in der Kabine und könne nicht nach vorne unten blicken. Zudem entstehe rechts auch ein toter Winkel durch die A-Stange und den Spiegel. Indessen könne der Chauffeur diese Sichtbehinderung insofern minimieren, als er sich etwas zur Seite bewege oder sogar etwas aufzusitzen versuche. Die Sichtbehinderung vorne könne dadurch etwas korrigiert werden, indem er sich nach vorne beuge. Der Beschwerdeführer könne sich demnach auch nicht mit dem Einwand des toten Winkels entlasten. Ihm sei zwar zuzubilligen, dass es leichter sei, im Nachhinein Fehler festzustellen, als sie von vornherein zu vermeiden. Dennoch sei der Unfall kein objektiv unabwendbares Ereignis gewesen. Gesamthaft gesehen wiege das Verschulden des Beschwerdeführers unter den gegebenen Umständen sicher nicht schwer. Es sei aber andererseits auch nicht mehr so leicht, dass eine Verwarnung zu rechtfertigen wäre. Mitentscheidend bei der Beurteilung des Verschuldens seien die Ortskenntnisse des Beschwerdeführers und die Tatsache, dass er mit allenfalls unberechenbarem Verhalten von Kindern hätte rechnen müssen. Dem hätte er noch vermehrt Rechnung tragen müssen. Angesichts des Unfallhergangs könne auch die Gefährdung nicht mehr als leicht qualifiziert werden. Trotz des ungetrübten automobilistischen Leumunds des Beschwerdeführers sei deshalb leider ein Entzug des Führerausweises nicht zu umgehen; indessen rechtfertige es sich angesichts der Umstände, nur die gesetzliche Mindestentzugsdauer von einem Monat zu verfügen.
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2. Nach Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führerausweis entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führerausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG). Bei der ![]() | 10 |
a) Die wiederholt bestätigte Rechtsprechung, wonach bei der Beurteilung des leichten Falles unter anderem auch die Schwere der Verkehrsgefährdung zu berücksichtigen sei (BGE 124 II 475 E. 2a, 259 E. 2b/aa, 97 E. 1; BGE 123 II 106 E. 2; BGE 121 II 127 E. 2b; BGE 118 Ib 229 E. 3; BGE 115 Ib 163 E. 2b), wurde in BGE 105 Ib 255 begründet, lediglich unter Hinweis auf Art. 31 Abs. 2 VZV und BGE 104 Ib 100 E. 2c.
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Art. 31 VZV lautet:
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1 Der Lernfahr- oder Führerausweis kann entzogen werden, wenn der Führer
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Verkehrsregeln schuldhaft verletzt und dadurch entweder den Verkehr
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gefährdet oder andere belästigt hat.
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2 Die Verwarnung ist anstelle des fakultativen Ausweisentzuges möglich.
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Nur eine Verwarnung kann verfügt werden, wenn die Voraussetzungen für den
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fakultativen Entzug nach Abs. 1 erfüllt sind, der Fall aber unter
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Berücksichtigung des Verschuldens und des Leumundes als Motorfahrzeugführer
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als leicht erscheint.
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Diese Bestimmung erwähnt lediglich das Verschulden und den automobilistischen Leumund als wesentliche Elemente zur Beurteilung des leichten Falles und enthält somit keine Anhaltspunkte, wonach die Schwere der Gefährdung als selbständiges Beurteilungsmerkmal herangezogen werden sollte.
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In BGE 104 Ib 100 wird zum leichten Fall im Sinne des zweiten Satzes von Art. 16 Abs. 2 SVG ausgeführt, das Gesetz sage nicht, nach welchen Gesichtspunkten diese Frage zu beurteilen sei. Ohne Zweifel seien die objektiven Tatumstände und das Verschulden des Fehlbaren in Betracht zu ziehen. Fraglich könne nur sein, ob auch sein Vorleben als Motorfahrzeugführer zu berücksichtigen sei, was in der Folge ausschliesslich behandelt und bejaht wird (E. 2 c/d).
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Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass lediglich gestützt auf die Formulierung, es seien die objektiven Tatumstände in Betracht zu ziehen, das Element der Schwere der Verkehrsgefährdung Eingang in die Rechtsprechung gefunden hat. Ob dies zu Recht geschehen ist, ist im Folgenden zu prüfen.
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Zum gleichen Ergebnis führt der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der bei fakultativen Warnmassnahmen besonders zu beachten ist. Dabei steht nicht im Vordergrund, welche Gefährdung ein Fahrzeuglenker verursacht hat, sondern vielmehr, ob sich die Anordnung einer Massnahme mit dem Ziel der Ermahnung und Besserung des Lenkers (Art. 30 Abs. 2 VZV) überhaupt rechtfertigen lässt und ob die Massnahme - ohne den Betroffenen übermässig zu belasten - geeignet ist, im Einzelfall das Ziel zu erreichen (BGE 118 Ib 229 E. 3; PERRIN, Délivrance et retrait de permis de conduire, Fribourg 1982, S. 77; SCHAFFHAUSER, a.a.O., S. 202 N. 2314).
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c) Der Strafrichter führte das ordentliche Strafverfahren mit Hauptverhandlung und Einvernahme des Angeschuldigten sowie mehrerer Zeugen durch und verurteilte den Beschwerdeführer zu einer Busse von Fr. 1'000.--, bedingt löschbar nach Ablauf einer Probezeit von einem Jahr. Dies zeigt, dass er das Verschulden des Beschwerdeführers als leicht bewertete; denn bei fahrlässiger Tötung ist die Strafdrohung Gefängnis bis zu drei Jahren, Haft (Art. 39 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) oder Busse, und in der Praxis wird ![]() | 26 |
Nachdem die Entzugsbehörde und die Vorinstanz keine besonderen Untersuchungshandlungen durchführten, sondern im Gegenteil das Urteil des Strafrichters abwarteten, um auf dieser Grundlage zu entscheiden, waren sie sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht an das Strafurteil gebunden (BGE 119 Ib 158 E. 3c/bb). Folglich hätte die Vorinstanz von einem leichten Verschulden des Beschwerdeführers ausgehen müssen. Mit der Annahme, das Verschulden wiege sicher nicht schwer, doch sei es "auch nicht mehr so leicht, dass eine Verwarnung zu rechtfertigen wäre", hat die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten, weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben ist; ebenso wenig hätte sie die nicht mehr leichte Gefährdung als wesentliches Element in die Beurteilung mit einbeziehen dürfen.
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Angesichts des leichten Verschuldens des Beschwerdeführers und seines langjährigen tadellosen Fahrerleumunds bedarf er keines Führerausweisentzugs als Massnahme zur Ermahnung und Besserung. Da er selbst eine Verwarnung beantragt und das Bundesgericht weder zu seinen Gunsten noch zu seinen Ungunsten über sein Begehren hinausgehen darf (Art. 114 Abs. 1 und 2 OG), hat es mit der Anordnung einer Verwarnung sein Bewenden.
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