![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
40. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7. Juni 2000 in Sachen X. gegen Reformierte Kirchgemeinde Bubikon, Gemeinderat Bubikon sowie Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste |
Art. 7, 11, 13 und 15 USG; Geläut von Kirchenglocken. |
Grundsätze für die Beurteilung von Glockengeläut, das nicht von einem der Anhänge der LSV erfasst wird (E. 2c und 2d). |
Lärmschutzrechtliche Beurteilung des Frühgeläuts der reformierten Kirche Bubikon (E. 3-5). Den lokalen Behörden steht bei Ereignissen, die Ausdruck einer alten Tradition sind, ein Beurteilungsspielraum zu (E. 3c, 5b). Beizug der kommunalen Polizeiverordnung bei der Handhabung des Beurteilungsspielraums (E. 4 und 5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Gegen diesen Entscheid führte X. erfolglos Rekurs bei der Baurekurskommission III und Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich.
| 2 |
Gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 29. Januar 1999 hat X. beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Die Beschwerdeführerin beantragt, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei anzuordnen, dass das Frühgeläut der reformierten Kirche Bubikon ausnahmslos nicht vor 07.00 Uhr ertönen dürfe.
| 3 |
Aus den Erwägungen: | |
4 | |
b) Das Glockenspiel der reformierten Kirche Bubikon ist eine mit einer Baute dauerhaft verbundene ortsfeste Einrichtung und damit eine Anlage im Sinne von Art. 7 Abs. 7 des Bundesgesetzes vom 7. Oktober 1983 über den Umweltschutz (USG; SR 814.01) und Art. 2 Abs. 1 der Lärmschutz-Verordnung vom 15. Dezember 1986 (LSV; SR 814.41). Da die Kirche samt ihrem Läutwerk bereits vor dem Inkrafttreten des Umweltschutzgesetzes am 1. Januar 1985 bestanden hat und keine Erweiterung der Anlage beabsichtigt ist, untersteht sie nicht den Vorschriften für Neuanlagen (Art. 25 USG, Art. 7 LSV). Indessen ist die Sanierung der ortsfesten Anlage anzuordnen, ![]() | 5 |
c) Die Lärmimmissionen ortsfester Anlagen sind grundsätzlich anhand der vom Bundesrat festgelegten Belastungsgrenzwerte (Anhänge 3-8 LSV) zu beurteilen (Art. 40 Abs. 1 LSV). Für die Lärmbelastung durch Glockenspiele hat der Bundesrat keine Grenzwerte festgelegt. Fehlen solche Werte, so müssen die Lärmimmissionen im Einzelfall nach den Kriterien der Art. 15, 19 und 23 USG bewertet werden (Art. 40 Abs. 3 LSV; BGE 126 II 300 E. 4c/aa S. 307; BGE 123 II 74 E. 4a und b S. 82 f.; BGE 118 Ib 590 E. 3b S. 596). Im Rahmen dieser Einzelfallbeurteilung sind der Charakter des Lärms, Zeitpunkt und Häufigkeit seines Auftretens sowie die Lärmempfindlichkeit bzw. Lärmvorbelastung zu berücksichtigen (BGE 123 II 74 E. 5a S. 86, 325 E. 4d/bb S. 335; BGE 118 Ib 590 E. 4a S. 598). Dabei ist nicht auf das subjektive Lärmempfinden einzelner Personen abzustellen, ![]() | 6 |
d) Die Lärmschutzvorschriften des Umweltschutzgesetzes sind in erster Linie zugeschnitten auf Geräusche, die als unerwünschte Nebenwirkungen einer bestimmten Tätigkeit auftreten. Diese können grundsätzlich mit geeigneten Massnahmen an der Quelle reduziert werden, ohne dass dadurch die entsprechenden Tätigkeiten als solche in Frage gestellt werden. Daneben gibt es jedoch auch Geräusche, welche den eigentlichen Zweck einer bestimmten Aktivität ausmachen. Dazu gehören beispielsweise das Läuten von Kirchen- oder Kuhglocken, das Musizieren sowie das Halten von Reden mit Lautverstärkern an Anlässen in der Öffentlichkeit. Solche Lärmemissionen können nicht völlig vermieden und in der Regel auch nicht in der Lautstärke wesentlich reduziert werden, ohne dass zugleich der Zweck der sie verursachenden Tätigkeit vereitelt würde. Derartige Lärmemissionen als unnötig und unzulässig zu qualifizieren, würde implizieren, die betreffende Tätigkeit generell als unnötig zu betrachten. Die Rechtsprechung hat im Allgemeinen solche Emissionen zwar aufgrund des Umweltschutzgesetzes beurteilt, aber zugleich unter Berücksichtigung des Interesses an der Lärm verursachenden Tätigkeit diese nicht völlig verboten, sondern bloss einschränkenden Massnahmen unterworfen (Urteil des Bundesgerichts vom 18. März 1998 in Pra 87/1998 Nr. 170 S. 904 und in URP 1998 S. 529 betr. Schussanlage zur Abwehr von Vögeln in Rebbergen; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts vom 2. August 1995 i.S. R., RDAT 1996 I 62183, betr. Freiluftmusikveranstaltungen; aus der kantonalen Praxis: URP 1996 S. 668 [Verwaltungsgericht Zürich] betr. Kirchenglocken; RDAF 1995 S. 75 [Verwaltungsgericht Waadt] betr. Freiluftkonzerte). Da eine Reduktion der Schallintensität meist den mit der betreffenden Tätigkeit verfolgten Zweck vereiteln würde, bestehen die emissionsbeschränkenden Massnahmen in der Regel nicht in einer Reduktion des Schallpegels, sondern in einer Einschränkung der Betriebszeiten (BGE 119 Ib 463 E. 4-6; BGE 118 Ib 234 E. 2b S. 239 f.; SCHRADE/LORETAN, Kommentar USG, N. 29 zu Art. 12). Dabei ist eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem Ruhebedürfnis der Bevölkerung und dem Interesse an der lärmverursachenden Tätigkeit. Zu beachten sind insbesondere ![]() | 7 |
8 | |
b) Diese tatsächlichen Feststellungen der Baurekurskommission und des BUWAL werden von keiner Seite bestritten. Der beantragte Augenschein erübrigt sich deshalb. Die Beschwerdeführerin verlangt auch nicht, dass das Glockengeläut etwa durch Schallschutzmassnahmen in der Glockenstube eingedämmt werde. Eine solche Massnahme müsste denn auch wohl bedacht werden, da das Erzielen einer breiten Aussenwirkung gerade der Zweck des kirchlichen Läutens und nicht (unerwünschtes) Nebenprodukt irgendeiner Tätigkeit ist: Kirchengeläut soll möglichst vielen Menschen feierlich den neuen Tag ankündigen und sie zur Besinnung mahnen oder auch je nach Tageszeit zum Gebet, zum Gottesdienst oder zu einer kirchlichen Feier rufen (zum kirchlichen und weltlichen Glockenbrauchtum vgl. HARTWIG NIEMANN, Das Liturgische Läuten, Seine Geschichte und die Rechtsgrundlagen, in: Glocken in Geschichte und Gegenwart, Band 2, Karlsruhe 1998, S. 26). Diesem Zweck würden Schallschutzmassnahmen zuwiderlaufen (vgl. dazu immerhin einen Entscheid des Verwaltungsgerichts Aargau, ZBl ![]() | 9 |
c) Glockengeläut wird - jedenfalls tags und ab einer gewissen Distanz zu den Glocken - von den meisten Menschen nicht als störend empfunden. Es kann - wie die Musik - nicht mit Verkehrs- oder Industrielärm gleichgesetzt werden. Kirchenglocken haben für viele Leute einen Wohlklang, und ihr regelmässiges Ertönen - auch frühmorgens - entspricht weit verbreiteter alter Tradition. Kirchengeläut hat sich weit über den Kreis der Gläubigen hinaus im Bewusstsein der Menschen eingeprägt, vermag auch religiös gleichgültige Leute zu bewegen und gehört für weite Teile der Bevölkerung zum festen Tagesablauf.
| 10 |
Das Gefühl der Störung hängt ähnlich wie bei Musik stark davon ab, zu welcher Tages- oder Nachtzeit die Glocken ertönen und wie nahe bei der Lärmquelle sich die Betroffenen befinden. Mehrheitsmeinungen in einer Gemeinde können nicht ohne weiteres als Massstab für die Befindlichkeit der "Bevölkerung" im Sinne von Art. 15 USG dienen, da in der Regel nicht eine Mehrheit nahe bei der Lärmquelle wohnt. "Bevölkerung" ist vielmehr im Sinn einer objektiven, durchschnittlichen Lärmempfindlichkeit zu verstehen. Da aber auch auf Personengruppen mit erhöhter Lärmempfindlichkeit (Kranke, Betagte usw.) Rücksicht zu nehmen ist (Art. 13 Abs. 2 USG), muss tendenziell von einer eher über dem Durchschnitt liegenden Lärmempfindlichkeit ausgegangen werden (CHRISTOPH ZÄCH, Kommentar USG, Art. 15 N. 15). Indessen ist auch die Ortsüblichkeit (Vorbelastung des Gebiets, Zonenlage, Tradition) in die Beurteilung miteinzubeziehen (Urteile des Bundesgerichts vom 1. Dezember 1994 i.S. T., E. 3c, in URP 1995 S. 31 ff., und vom 13. Juni 1997 i.S. X., E. 2b/bb, in Pra 86/1997 Nr. 138 S. 743). Diesbezüglich ist zu beachten, dass sich die Wohnung der Beschwerdeführerin in der Kernzone befindet, die der Lärmempfindlichkeitsstufe ![]() | 11 |
Das Frühgeläut entspricht zudem einer örtlichen Tradition. Einer Aufstellung im Anhang zum Beschluss des Gemeinderates vom 18. Februar 1998 ist zu entnehmen, dass im Bezirk Hinwil bzw. in angrenzenden Gemeinden sieben Gemeinden ein Frühgeläut um 05.00 Uhr, drei Gemeinden um 06.00 Uhr und eine Gemeinde um 07.00 Uhr kennen. In Dürnten wurde das Frühgeläut mit Rücksicht auf ausländische Hotelgäste abgeschafft.
| 12 |
13 | |
Nach Art. 19 PolV gilt von 22.00 Uhr bis 06.00 Uhr Nachtruhe, während welcher "jeder störende Lärm verboten" ist. An öffentlichen Ruhetagen sowie von 06.00 bis 07.00, von 12.00 bis 13.00 und von 20.00 bis 22.00 Uhr ist "die Vermeidung von Lärm besonders zu beachten". Lärmige Haus- und Gartenarbeiten (Klopfen von Teppichen, Arbeiten mit motorbetriebenen Geräten usw.) dürfen werktags ab 07.00 Uhr ausgeführt werden (Art. 21 Abs. 1 PolV). Lärmige Arbeiten in Industrie, Gewerbe und andern Unternehmen sind von 19.00 bis 07.00 Uhr sowie von 12.00 bis 13.00 Uhr untersagt (Art. 22 Abs. 2 PolV). Für die Landwirtschaft gelten nach Art. 28 Abs. 2 PolV grundsätzlich die Ruhezeiten gemäss Art. 19 PolV. Das Verwaltungsgericht hält es für vertretbar, dass der Gemeinderat auf Art. 19 PolV abstellt und das Morgengeläut nicht gleich behandelt wie Arbeiten in Haus, Garten, Gewerbe und Industrie (Art. 21 und 22 PolV). Das in der Polizeiverordnung festgelegte Ende der Nachtruhe könne als Ausdruck des "ortsüblichen Mittelmasses" angesehen werden, bei dem auch auf Personengruppen mit erhöhter Empfindlichkeit im Sinne von Art. 13 Abs. 2 USG Rücksicht genommen werde.
| 14 |
b) Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, eine Notwendigkeit, das Frühgeläut vor 07.00 Uhr ertönen zu lassen, bestehe nicht. Seit es in jedem Haushalt Wecker gebe, habe das Frühgeläut seine Weckfunktion verloren. Ein grosser Teil der Bevölkerung stehe morgens nicht (mehr) vor 07.00 Uhr auf. Diese Leute würden durch das ![]() | 15 |
5. a) Es ist der Beschwerdeführerin darin beizupflichten, dass die kommunale Polizeiverordnung die Nachtruhezeit nicht anders definieren kann, als die Lärmschutz-Verordnung es tut. Letztere enthält indessen für Glockengeläut keine Vorschrift. Auch ist es keineswegs zwingend, auf die Regeln für Industrie- und Gewerbelärm (Nachtruhe von 19.00 bis 07.00 Uhr) abzustellen. Industrie- ![]() | 16 |
b) Schliesslich ist zu beachten, dass das Frühgeläut der reformierten Kirche Bubikon Tradition hat. Wie eine Eingabe von 300 Personen an den Gemeinderat zeigt, dürfte dieses einem gewissen öffentlichen Interesse entsprechen, selbst wenn nicht alle Einwohner und Einwohnerinnen der Gemeinde diese Einschätzung teilen mögen. Der Gemeinderat spricht in Ziff. 5 seiner Verfügung vom 1. Oktober 1997 von Brauchtum, das Teil des Zusammengehörigkeitsempfindens dieser ländlichen Gemeinde schlechthin sei. Eine solche Tradition rechtfertigt es, Einschränkungen nur mit Zurückhaltung anzuordnen. Obschon die Polizeiverordnung nur vom Gemeinderat und nicht vom Stimmvolk beschlossen worden ist, ist sie doch Ausdruck der in der Gemeinde vorherrschenden Meinung, dass es genügt, eine allgemeine Nachtruhe nur bis um 06.00 Uhr morgens vorzuschreiben (Art. 19 Abs. 1 PolV). Wohl ist an öffentlichen Ruhetagen und von 06.00 bis 07.00 Uhr der Vermeidung von Lärm besondere Beachtung zu schenken (Art. 19 Abs. 2 PolV). Wenn aber die örtlichen Behörden und mit ihnen die kantonalen Rechtsmittelinstanzen davon ausgehen, dass in der Gemeinde Bubikon ein Frühgeläut der reformierten Kirche um 06.00 Uhr (noch) allgemein akzeptiert werde und dass an der Aufrechterhaltung dieser Tradition ein öffentliches Interesse bestehe, so hat das Bundesgericht keinen Anlass, von dieser Beurteilung durch die mit den örtlichen Verhältnissen besser vertrauten Behörden abzuweichen ![]() | 17 |
c) Es ist nicht unverhältnismässig, wenn die Vorinstanzen dem Interesse an der Beibehaltung der erwähnten Tradition grösseres Gewicht beimessen als dem Ruhebedürfnis der Beschwerdeführerin. Auch verletzt es die Rechtsgleichheit nicht, wenn die Gemeinden in Bereichen, wo das Bundesumweltrecht Spielraum lässt, die Ruhezeiten verschieden regeln und wenn die kantonalen Rechtsmittelinstanzen im Zusammenhang mit der Beurteilung von Frühgeläut diesen unterschiedlichen kommunalen Regelungen Rechnung tragen (vgl. BGE 125 I 173 E. 6d S. 179; s. auch BGE 126 II 300 E. 4d/ee S. 311).
| 18 |
19 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |