BGE 129 II 11 | |||
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2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Ausländerfragen gegen X. und Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
2A.315/2002 vom 11. Oktober 2002 | |
Regeste |
Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG; Familiennachzug im Falle von Teilfamilien; Voraussetzungen, unter denen ein Anspruch des überlebenden Elternteils auf nachträglichen Nachzug seines minderjährigen Kindes besteht. |
Wer als verwitweter bzw. wiederverheirateter Elternteil sein Kind jahrelang im Heimatland in der Obhut der Grosseltern oder anderer naher Verwandter lässt, hat - gleich wie ein getrennter oder geschiedener Elternteil - nur dann Anspruch auf nachträglichen Familiennachzug, wenn stichhaltige Gründe eine Änderung der Betreuungsverhältnisse gebieten, wobei wegen der zu erwartenden Integrationsschwierigkeiten an die Stichhaltigkeit dieser Gründe umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je älter das Kind ist (E. 3). | |
Sachverhalt | |
1 | |
X. ging in der Schweiz zwei Mal eine Ehe mit Schweizer Bürgerinnen ein (am 2. Oktober 1987 mit D., Scheidung am 23. September 1991, bzw. am 8. November 1991 mit E., Scheidung am 19. Oktober 1999), was ihm ein Aufenthaltsrecht verschaffte und am 10. Dezember 1996 im Kanton Basel-Land zur Erteilung der Niederlassungsbewilligung führte.
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In der Zwischenzeit (1988) war C., die Mutter seiner ausserehelichen Kinder A. und B., in der Türkei gestorben. Die beiden Kinder verblieben nun in der Obhut ihrer Grosseltern. 1992 verstarb auch die Tochter A.
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X. stellte erstmals am 14. April 1998 ein Familiennachzugsgesuch für seinen damals bereits 16-jährigen Sohn B., welches am 12. September 1998 vom Kanton Basel-Stadt (rechtskräftig) abgelehnt wurde. Ein zweites solches Gesuch stellte X. nach seiner Übersiedlung in den Kanton Aargau am 2. Februar 1999 (damals wohnte B. noch bei seinen Grosseltern). Mit Verfügung vom 23. Dezember 1999 lehnte die Fremdenpolizei das Gesuch ab. Eine hiergegen gerichtete Einsprache wies die Fremdenpolizei am 31. Januar 2000 ebenfalls ab.
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Am 22. Februar 2000 erhob X. gegen den Einsprache-Entscheid der Fremdenpolizei Beschwerde beim Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau.
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Im Laufe der Beschwerdeinstruktion heiratete X. seine Landsfrau F. (geb. 1967). Für sie und ihre drei Kinder G. (geb. 1983), H. (geb. 1992) und I. (geb. 1997) stellte er am 28. März 2000 ein Einreisegesuch, welches von der Fremdenpolizei sistiert wurde.
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Während des laufenden Beschwerdeverfahrens war der Sohn B. gemäss den Angaben seines Vaters zu der Ehefrau gezogen, weil die Grosseltern mittlerweile zu betagt seien.
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Mit Urteil vom 26. April 2002 hiess das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau die Beschwerde von X. gut und bewilligte den Nachzug des Sohnes B. Es hob den Einspracheentscheid der Fremdenpolizei vom 31. Januar 2000 auf und wies diese an, den Aufenthalt von B. zu regeln.
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Das Bundesamt für Ausländerfragen führt mit Eingabe vom 20. Juni 2002 Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht mit den Anträgen, das Urteil des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 26. April 2002 aufzuheben und die Verfügung der Fremdenpolizei vom 31. Januar 2000 zu bestätigen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Das Beschwerderecht der Bundesbehörden soll den richtigen und rechtsgleichen Vollzug des Bundesverwaltungsrechts sicherstellen. Dabei muss grundsätzlich kein spezifisches öffentliches Interesse an der Anfechtung der Verfügung nachgewiesen werden (BGE 113 Ib 219 E. 1b S. 221; BGE 127 II 32 E. 1b S. 35, je mit Hinweisen). Erforderlich ist nur, dass es der beschwerdeführenden Verwaltungseinheit nicht um die Behandlung abstrakter Fragen des objektiven Rechts, sondern um konkrete Rechtsfragen eines tatsächlich bestehenden Einzelfalles geht (vgl. BGE 125 II 633 E. 1a und b S. 635). Dies trifft vorliegend zu. Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Ausländerfragen ist daher einzutreten.
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(...)
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2. Ein allfälliger Anspruch auf Familiennachzug des Sohnes B. kann sich vorliegend einzig aus Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG (SR 142.20) ergeben. Danach haben ledige Kinder von Ausländern, die in der Schweiz niedergelassen sind, Anspruch auf Einbezug in die Niederlassungsbewilligung ihrer Eltern, wenn sie mit diesen zusammen wohnen und noch nicht 18 Jahre alt sind. Der Sohn B. war im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung noch nicht 18 Jahre alt. Der streitige Rechtsanspruch kann daher - weil es für die Altersfrage beim Familiennachzug gemäss Art. 17 Abs. 2 ANAG nach der Rechtsprechung auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung ankommt (BGE 120 Ib 257 E. 1f S. 262 mit Hinweis) - heute noch geltend gemacht werden, wie dies die Vorinstanz richtig festgestellt hat. Auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK, der den Schutz des Familienlebens garantiert (vgl. dazu ausführlich BGE 127 II 60 E. 1d/aa S. 64 f. mit Hinweisen), kann sich der Beschwerdegegner für den inzwischen volljährig gewordenen Sohn (geb. 1982) dagegen nicht berufen, da hiefür auf den heutigen Zeitpunkt abzustellen ist (BGE 120 Ib 257 E. 1f S. 262). Dass ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis vorliege, welches dem Sohn nach Erreichen der Volljährigkeit allenfalls einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK verschaffen könnte, wurde und wird nicht behauptet.
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Zu prüfen ist somit, ob das kantonale Rekursgericht durch die Anerkennung des Anspruches auf Familiennachzug gestützt auf Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG Bundesrecht falsch angewendet hat.
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Erwägung 3 | |
Erwägung 3.1 | |
3.1.1 Zweck des so genannten Familiennachzugs ist es, das Leben in der Familiengemeinschaft zu ermöglichen. Der Gesetzeswortlaut (Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG, vgl. E. 2) verdeutlicht, dass die rechtliche Absicherung des Zusammenlebens der Gesamtfamilie angestrebt wird: Verlangt ist ausdrücklich, dass die Kinder mit ihren Eltern (Plural) zusammenwohnen werden. Auch die innere Systematik von Art. 17 Abs. 2 ANAG geht vom Zusammenleben mit Mutter und Vater aus. Die Nachzugsregelung ist mithin auf Familien zugeschnitten, in denen die (leiblichen) Eltern einen gemeinsamen ehelichen Haushalt führen (BGE 126 II 329 E. 2a S. 330 mit Hinweisen).
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3.1.2 Hinsichtlich der Anerkennung eines Anspruches auf nachträglichen Familiennachzug im Lichte von Art. 17 ANAG unterscheidet die bundesgerichtliche Rechtsprechung daher zwischen zusammenlebenden Eltern und getrennt lebenden Eltern (BGE 126 II 329 ff.). Nach der Rechtsprechung ist der nachträgliche Familiennachzug durch Eltern, die sich beide in der Schweiz niedergelassen haben und einen gemeinsamen ehelichen Haushalt führen, möglich, ohne dass besondere stichhaltige Gründe die beabsichtigte Änderung des Betreuungsverhältnisses rechtfertigen müssen. Innerhalb der allgemeinen Schranken von Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG ist somit der Nachzug von gemeinsamen Kindern grundsätzlich jederzeit zulässig; vorbehalten bleibt einzig das Rechtsmissbrauchsverbot (BGE 126 II 329 E. 3b S. 332). Hingegen ist die Praxis auf Grund der unterschiedlichen familiären Situation wesentlich restriktiver, wenn der nachträgliche Familiennachzug von Kindern getrennter bzw. geschiedener Eltern in Frage steht.
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3.1.3 Sind die Eltern voneinander getrennt oder geschieden und hält sich der eine Elternteil in der Schweiz, der andere aber im Ausland auf, kann es nicht um eine Zusammenführung der Gesamtfamilie gehen. In solchen Fällen entspricht es dem Gesetzeszweck nicht, einen bedingungslosen Anspruch auf Nachzug der Kinder anzunehmen (BGE 125 II 585 E. 2a S. 586). Der nachträgliche Nachzug eines Kindes setzt diesfalls voraus, dass eine vorrangige Bindung des Kindes zum in der Schweiz lebenden Elternteil nachgewiesen ist und besonders stichhaltige familiäre Gründe, zum Beispiel eine Änderung der Betreuungsmöglichkeiten, dieses Vorgehen rechtfertigen (BGE 126 II 329 E. 2a und 3b S. 330/332). Die Verweigerung einer Bewilligung lässt sich jedenfalls dann nicht beanstanden, wenn die Familientrennung von den Betroffenen ursprünglich selbst freiwillig herbeigeführt worden ist, für die Änderung der bisherigen Verhältnisse keine überwiegenden familiären Interessen bestehen bzw. sich ein Wechsel nicht als zwingend erweist und die Fortführung und Pflege der bisherigen familiären Beziehungen nicht behördlich verhindert wird (BGE 124 II 361 E. 3a S. 366/367 mit Hinweisen).
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3.4 Wer, wie der Beschwerdegegner, als verwitweter bzw. wiederverheirateter Elternteil sein Kind jahrelang im Heimatland in der Obhut der Grosseltern oder anderer naher Verwandter lässt, hat nach dem Gesagten - gleich wie ein getrennter oder geschiedener Elternteil (vgl. E. 3.1.3 und 3.1.4) - nur dann einen Anspruch auf nachträglichen Familiennachzug, wenn stichhaltige Gründe eine Änderung der Betreuungsverhältnisse gebieten, wobei wegen der zu erwartenden Integrationsschwierigkeiten an die Stichhaltigkeit dieser Gründe umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je älter das Kind ist (vgl. E. 3.3.2). In diesem Zusammenhang ist zwar zu berücksichtigen, dass altersbedingte Hemmnisse für den Verbleib des Kindes bei den Grosseltern in manchen Fällen tatsächlich bestehen mögen. Es handelt sich dabei aber um Schwierigkeiten, die der emigrierte Elternteil, der sein Kind - trotz der voraussehbaren zeitlichen Schranken einer solchen Lösung - der Obhut der Grosseltern überlässt, letztlich von Anfang an in Kauf genommen hat. Wer - wie der Beschwerdegegner - in ein anderes Land übersiedelt, hat grundsätzlich die sich daraus für die Pflege familiärer Beziehungen ergebenden Konsequenzen zu tragen (Urteil 2A.187/2002 vom 6. August 2002, E. 2.3).
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Stichhaltige Gründe, die eine Änderung der Betreuungsverhältnisse im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung notwendig gemacht hätten, werden im angefochtenen Entscheid, der zu Unrecht die für den Familiennachzug bei gemeinsam lebenden Eltern geltenden Grundsätze als anwendbar erachtet hat und damit von falschen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist, nicht dargetan. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass eine weitere altersgerechte Betreuung des Sohnes, der im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung bereits 16 Jahre alt war und damit (schon damals) nicht mehr ständig einer persönlichen, insbesondere physischen Betreuung bedurfte, durch die Grosseltern nicht mehr möglich gewesen wäre. Ebenso wenig lässt sich aus dem Umstand, dass der Sohn inzwischen - nach Erreichung der Volljährigkeit - zu der jetzigen neuen Ehefrau des Beschwerdegegners gezogen ist, die damalige Notwendigkeit einer Änderung der Betreuungsverhältnisse ableiten.
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