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17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement gegen X. und Kanton Zürich sowie Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
1A.203/2004 vom 16. März 2005 | |
Regeste |
Art. 124 BV, Art. 12 ff. OHG, Art. 2 ff. OHV, Art. 3a ff. ELG; Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz, Anrechnung von Drittleistungen, Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Opfers, Schadenszins. |
Bei einem minderjährigen Opfer, das bei der Mutter lebt, sind für die Frage, wieweit es Anspruch auf eine opferhilferechtliche Entschädigung hat, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Mutter mit zu berücksichtigen (E. 3). |
Die opferhilferechtliche Entschädigung deckt auch den Schadenszins (E. 4). | |
Sachverhalt | |
1 | |
Am 8. Januar 1999 ersuchte X. die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, um Entschädigung und Genugtuung.
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Mit Verfügung vom 14. Juni 2001 hiess die Kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Genugtuung im Umfang von Fr. 30'000.- gut. Das Gesuch um Entschädigung wies sie ab.
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Gegen die Abweisung des Gesuchs um Entschädigung reichte X. Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ein. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 30. Januar 2002 ab.
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Die von X. dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde hiess das Bundesgericht am 7. Oktober 2002 teilweise gut. Es hob das Urteil des Sozialversicherungsgerichts auf und wies die Sache zum neuen Entscheid an dieses zurück (BGE 129 II 49).
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Mit Urteil vom 6. Juli 2004 verpflichtete das Sozialversicherungsgericht den Kanton Zürich, X. eine Entschädigung von Fr. 19'440.- zuzüglich 5 % Zins sei dem 22. Januar 1997 zu bezahlen.
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Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Sozialversicherungsgerichtes vom 6. Juli 2004 aufzuheben und die Sache zum neuen Entscheid an dieses zurückzuweisen.
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Erwägung 2 | |
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Der Beschwerdeführer rügt, das angefochtene Urteil verletze in diesem letzten Punkt Bundesrecht. Die Vorinstanz hätte bei der Bemessung des Schadens die Halbwaisenrente anrechnen müssen. Eine Entschädigung werde nur Opfern ausgerichtet, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreite (Art. 12 Abs. 1 OHG). Übersteige das Einkommen den massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach dem ELG, werde nur eine reduzierte Leistung erbracht (Art. 13 Abs. 1 OHG). Um zu prüfen, ob diese Voraussetzungen gegeben seien, würden die anrechenbaren Einnahmen nach dem ELG berechnet. Dazu gehörten auch Leistungen einschliesslich Renten, die das Opfer aufgrund der Straftat und ihrer Folgen vom Täter oder anderen Leistungserbringern, z.B. einer Sozialversicherung, erhalte (Art. 3c Abs. 1 lit. d ELG). Stehe fest, dass die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 1 OHG ![]() | 9 |
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Nach Art. 13 Abs. 1 OHG richtet sich die Entschädigung nach dem Schaden und den Einnahmen des Opfers. Liegen die Einnahmen unter dem massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach ELG, so erhält das Opfer vollen Schadenersatz; übersteigen die Einnahmen diesen Betrag, so wird die Entschädigung herabgesetzt.
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Gemäss Art. 2 OHV werden die anrechenbaren Einnahmen (Art. 12 Abs. 1 OHG) nach Artikel 3c ELG, nach den dazugehörigen Verordnungsbestimmungen des Bundes sowie nach den diesbezüglichen Sonderbestimmungen der Kantone berechnet.
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Nach Art. 3 OHV deckt die Entschädigung den ganzen Schaden, wenn die anrechenbaren Einnahmen des Opfers nicht höher als der massgebende Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG (ELG-Wert) sind (Abs. 1). Übersteigen die anrechenbaren Einnahmen des Opfers das Vierfache des ELG-Werts (OHG-Höchstbetrag), so wird keine Entschädigung ausgerichtet (Abs. 2). Liegen die anrechenbaren Einnahmen des Opfers zwischen dem ELG-Wert und dem OHG-Höchstbetrag, so wird die Entschädigung nach der in Art. 3 Abs. 3 OHV enthaltenen Formel berechnet.
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Gemäss Art. 4 Abs. 1 OHV beträgt die Entschädigung höchstens 100'000 Franken.
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Gemäss Art. 14 Abs. 1 OHG werden Leistungen, die das Opfer als Schadenersatz erhalten hat, von der Entschädigung abgezogen. Ausgenommen sind Leistungen (insbesondere Renten und Kapitalabfindungen), die bereits bei der Berechnung der anrechenbaren Einnahmen berücksichtigt worden sind (Art. 12 Abs. 1). Nach Art. 14 Abs. 2 OHG gehen die Ansprüche, die dem Opfer aufgrund der Straftat zustehen, im Umfang der Entschädigung an den Kanton über, wenn die Behörde eine Entschädigung zugesprochen hat. Diese Ansprüche haben Vorrang vor den verbleibenden Ansprüchen des Opfers und den Rückgriffsansprüchen Dritter.
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Da die Vorinstanz die Halbwaisenrente bei der Berechnung der Einnahmen berücksichtigt hat, war die Rente gemäss Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG nicht von der Entschädigung abzuziehen. Der angefochtene Entscheid stützt sich insoweit auf den Wortlaut des Gesetzes. Der Beschwerdeführer verlangt die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 OHG entgegen dem Wortlaut.
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2.3 Nach der Rechtsprechung darf die Auslegung vom klaren Wortlaut eines Rechtssatzes nur dann abweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche triftigen Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben. Entscheidend ist danach nicht der vordergründig klare Wortlaut einer Norm, sondern der wahre Rechtssinn, welcher durch die anerkannten Regeln der Auslegung zu ermitteln ist. Auch Bundesgesetze sind einer Auslegung wider den Wortlaut zugänglich. Art. 191 BV setzt dem nur insoweit Schranken, als er verbietet, vom klaren Wortlaut und vom Sinn und Zweck einer Vorschrift abzugehen, um diese in den Rahmen der Verfassung zu stellen. Der Wortlaut allein aber stellt kein Hindernis dar, selbst wenn er klar ist. Bestehen triftige Gründe dafür, dass er den wahren Rechtssinn einer Vorschrift - die ratio legis - nicht wiedergibt, ist es nach dem Gesagten zulässig, von ihm abzuweichen und die Vorschrift entsprechend zu deuten, insbesondere dann, wenn der ![]() | 18 |
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Die Expertenkommission führt in ihrem Erläuternden Bericht vom 25. Juni 2002 zum Vorentwurf eines neuen Opferhilfegesetzes aus, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG sei gestrichen worden. Er beruhe auf einem gesetzgeberischen Versehen. In Lehre und Praxis sei anerkannt, dass zur richtigen Berechnung der Entschädigung Drittleistungen sowohl bei der Ermittlung der Einnahmen nach dem ELG als auch bei der Ermittlung des Nettoschadens zu berücksichtigen seien. Im ersten Fall gehe es um die Frage, ob das Opfer infolge der Straftat in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sei und daher der staatlichen Hilfe bedürfe; im zweiten darum, wie gross der ungedeckte Schaden sei (S. 36).
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Die Kantonale Opferhilfestelle bemerkt in der Vernehmlassung ebenso, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG stelle ein gesetzgeberisches Versehen dar. Dieses solle mit der Revision des Opferhilfegesetzes korrigiert werden.
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Eine Entschädigung soll also nur erhalten, wer sie aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage braucht. Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 OHG ![]() | 23 |
Die Berechnung der Einnahmen des Beschwerdegegners nach Art. 3c ELG hat ergeben, dass diese - auch in Berücksichtigung der Halbwaisenrente nach Absatz 1 lit. d - den ELG-Wert nicht erreichen. Geht man davon aus, hat der Beschwerdegegner Anspruch auf volle staatliche Entschädigung. Eine andere Frage ist es, wie hoch sein Schaden ist. Insoweit ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner aufgrund entgangener Alimentenbevorschussungen einen Schaden von Fr. 19'440.- erlitten hat. Dabei handelt es sich jedoch um den Bruttoschaden. Der Beschwerdegegner erhält wegen des Todes des Vaters eine Halbwaisenrente. Würde diese vom Bruttoschaden nicht abgezogen, würde der Beschwerdegegner überentschädigt und aufgrund des Todes des Vaters finanziell besser gestellt, indem zur Alimentenbevorschussung die Halbwaisenrente hinzukäme.
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Im vorinstanzlichen Entscheid bleibt die Sozialversicherung als Schadensausgleichssystem unberücksichtigt. Dies widerspricht dem Subsidiaritätsprinzip, wonach die Opferhilfe an letzter Stelle stehen soll.
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Wie sich aus den Materialien ergibt, wollte man mit Art. 14 Abs. 1 Satz 2 OHG verhindern, dass derselbe Faktor zweimal hintereinander berechnet wird (Schlussbericht der Studienkommission zur ![]() | 26 |
Wie die Expertenkommission im Erläuternden Bericht vom 25. Juni 2002 (S. 36) und WEISHAUPT (a.a.O., S. 331) zutreffend ausführen, ist die Drittleistung deshalb zweimal zu berücksichtigen, weil zwei unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen sind. Zum einen geht es um die Ermittlung des Schadens, der dem Opfer nach Abzug von Drittleistungen noch verbleibt (Nettoschaden) und den es ohne staatliche Leistung selber tragen müsste; zum andern darum, ob und wieweit das Opfer aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse staatlicher Hilfeleistung bedarf.
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Würde Art. 14 Abs. 1 OHG wörtlich ausgelegt, entstünde auch ein Widerspruch zu Art. 14 Abs. 2 OHG. Die Drittleistung würde in einem Fall wie hier nicht vom Bruttoschaden abgezogen. Würde dagegen zuerst die staatliche Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz geleistet, subrogierte der Staat in die Ansprüche des Opfers mit der Folge, dass die nachträgliche Drittleistung dem Opfer entzogen würde. Es ergäbe sich also eine unterschiedliche Situation, je nachdem, ob die Drittleistung vor der Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz erbracht wird oder nachher. Eine derartige Ungleichbehandlung rechtfertigt sich nicht.
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Dass Sozialversicherungsleistungen, die bei der Berechnung der Einnahmen nach dem ELG zu berücksichtigen sind, vom Bruttoschaden abzuziehen sind, ergibt sich im Übrigen bereits aus BGE 128 II 49, wo das Bundesgericht das Vorgehen bei der Festsetzung der staatlichen Entschädigung bei Erwerbsausfall dargelegt hat (E. 3 S. 52 f.).
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Erwägung 3 | |
3.1 Die Vorinstanz hat bei den anrechenbaren Einnahmen nach dem ELG einzig jene des Beschwerdegegners berücksichtigt. Der ![]() | 31 |
Der Beschwerdeführer bringt sodann vor, die Vorinstanz habe es zum Nachteil des Beschwerdegegners unterlassen, den von ihr zutreffend erwähnten Freibetrag von Fr. 15'000.- vom Vermögen gemäss Art. 3c Abs. 1 lit. c ELG tatsächlich in Abzug zu bringen. Zudem sei sie beim Lebensbedarf von einem falschen Betrag ausgegangen (Fr. 8'545.- statt Fr. 9'060.-).
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3.2 Wie dargelegt, soll nach Art. 124 BV Opferhilfe nur erhalten, wer das aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage braucht. Das Opferhilfegesetz und die dazugehörige Verordnung verweisen zur Konkretisierung dieses Grundgedankens auf die anrechenbaren Einnahmen nach Art. 3c ELG und den massgebenden Höchstbetrag für den allgemeinen Lebensbedarf nach Art. 3b Abs. 1 lit. a ELG. Damit wird der Kreis jener Personen festgelegt, die aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse Anspruch auf staatliche Opferhilfeleistung haben sollen. Zwar verweisen weder das ![]() | 33 |
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Erwägung 4 | |
4.1 Die Vorinstanz hat den Kanton Zürich verpflichtet, den Betrag von Fr. 19'440.- seit dem 22. Januar 1997 mit 5 % zu verzinsen. Der Beschwerdeführer rügt, das angefochtene Urteil verletze auch insoweit Bundesrecht. Die Vorinstanz nenne keine Gründe für die angebliche Verzinsungspflicht. Dafür fehle es an der gesetzlichen Grundlage. Der Schadenszins (Art. 41 Abs. 1 OR) finde bei unerlaubter Handlung Anwendung und bezwecke, den Geschädigten so zu stellen, wie wenn er bereits im Zeitpunkt des Schadenseintritts befriedigt worden wäre. Der Staat schulde in ![]() | 36 |
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Nach der Rechtsprechung ist der Begriff des Schadens im Opferhilferecht der gleiche wie im Haftpflichtrecht (BGE 131 II 121 E. 2.1; BGE 129 II 49 E. 4.3.2; Urteil 1A.252/2000 vom 8. Dezember 2000, publ. in: ZBl 102/2001 S. 486 ff., E. 2a und e). Das Opfer kann im Rahmen von Art. 11 ff. OHG Forderungen für die verschiedenen Schadensposten geltend machen, die nach Art. 41 OR in Betracht kämen (BGE 131 II 121 E. 2.4.4). Zum Schaden gemäss Art. 41 OR gehört der Zins vom Zeitpunkt an, in dem das schädigende Ereignis sich finanziell ausgewirkt hat. Der Schadenszins bezweckt, den Anspruchsberechtigten so zu stellen, wie wenn er für seine Forderung am Tag des Schadenseintritts befriedigt worden wäre (BGE 131 III 12 E. 9.1; BGE 130 III 591 E. 4 S. 599, mit Hinweisen). Nach Art. 73 Abs. 1 OR gilt der Zinsfuss von 5 % (HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, S. 40 N. 170a; KARL OFTINGER/EMIL W. STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 1995, S. 257 N. 25).
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Gehört der Schadenszins zum Schaden, hat das Opfer Anspruch auf die Vergütung dieses Zinses im Rahmen der opferhilferechtlichen Entschädigung. Andernfalls erhielte es entgegen Art. 13 Abs. 1 OHG keinen vollen Schadenersatz. Diese Bestimmung gewährt der Behörde keinen Ermessensspielraum. Die in Art. 13 Abs. 1 Satz 2 OHG vorgesehene Herabsetzung der Entschädigung ![]() | 39 |
Lehnte man die Vergütung des Schadenszinses ab, würde im Übrigen das Opfer, das - wie hier - länger auf die Entschädigung warten muss, schlechter gestellt gegenüber jenem, das diese rasch erhält. Eine derartige Ungleichbehandlung rechtfertigt sich nicht. Der Zeitablauf soll nicht zulasten des Opfers gehen.
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Die Vorinstanz hat mit der Anordnung der Verzinsung danach kein Bundesrecht verletzt. Die Beschwerde ist in diesem Punkt unbegründet.
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Ob eine opferhilferechtliche Genugtuung in gleicher Weise zu verzinsen wäre, kann hier offen bleiben.
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Erwägung 5 | |
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