![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Einwohnergemeinde Engelberg gegen Häcki-Barmettler und Mitb. sowie Verwaltungsgerichtspräsident des Kantons Obwalden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
1A.221/2005 vom 7. Februar 2006 | |
Regeste |
Art. 5 Abs. 2, Art. 33 und 34 RPG; Entschädigung für materielle Enteignung und Heimschlag, bundesrechtliche Anforderungen an das kantonale Verfahren. |
Rechtsmittelordnung im Kanton Obwalden (E. 3.1). Bundesrechtliche Anforderungen an das kantonale Verfahren (E. 3.2 und 3.3). Das nach dem kantonalen Recht zur Verfügung stehende Klageverfahren zur Geltendmachung der Entschädigung genügt den Anforderungen gemäss Art. 33 Abs. 2 RPG nicht (E. 3.4). Folgen für das kantonale Verfahren allgemein (E. 3.5) und für die vorliegende Angelegenheit (E. 3.6). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B. Mit Klage bei der kantonalen Schätzungskommission in Enteignungssachen vom 18. April 1997 machte Marie Barmettler das Heimschlagsrecht gegenüber der Einwohnergemeinde Engelberg geltend und verlangte überdies eine Entschädigung wegen materieller Enteignung. Die Schätzungskommission wies die Klage bezüglich der Entschädigung wegen materieller Enteignung mit Entscheid vom 12. April 2000 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Festsetzung der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen im Jahre 1987 stelle eine Nichteinzonung dar, und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Entschädigung im Falle der Nichteinzonung seien nicht erfüllt. Auch sei der Grundeigentümerin kein Sonderopfer im Sinne der Rechtsprechung zur materiellen Enteignung auferlegt worden. Das Gesuch um Heimschlag hiess die Schätzungskommission in ihrem Entscheid vom 12. April 2000 gut und setzte die Heimschlagentschädigung zu Lasten der Einwohnergemeinde Engelberg anstelle der verlangten rund Fr. 2,4 Mio. auf Fr. 966'231.60 fest. Das Heimschlagsrecht ergebe sich aus Art. 21 des Baureglements der Einwohnergemeinde Engelberg (BR, in der Fassung vom 22. Februar 1994), welcher den Grundeigentümer berechtige, sein in der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen gelegenes Grundstück innert zehn Jahren seit deren Erlass der Gemeinde heimzuschlagen, auch wenn keine materielle Enteignung vorliege.
| 2 |
3 | |
Mit Schreiben vom 30. Mai 2000 teilte der Verwaltungsgerichtspräsident Marie Barmettler mit, ihr komme im Gerichtsverfahren wegen materieller Enteignung die Klägerrolle zu. Zur Einreichung der Klage setzte er eine Frist von 30 Tagen. In der Folge ersuchte Marie Barmettler regelmässig um Fristerstreckung, welche der Verwaltungsgerichtspräsident jeweils gewährte.
| 4 |
C. Am 25. September 2004 veräusserte Marie Barmettler die Parzelle Nr. 1866 an ihre sieben Töchter, welche das Grundstück als Erbvorbezug zu Gesamteigentum erwarben.
| 5 |
D. Am 20. April 2005 beantragte die Einwohnergemeinde Engelberg beim Verwaltungsgericht, den Klägerinnen sei eine letztmalige Frist anzusetzen zur Einreichung der Klageschrift mit Androhung von Säumnisfolgen. Weitere Fristerstreckungen seien nicht zu gewähren. Die Töchter von Marie Barmettler beantragten die Abweisung der Begehren der Gemeinde und ersuchten um eine weitere Fristerstreckung. Mit Entscheid vom 29. Juli 2005 wies der Verwaltungsgerichtspräsident das Gesuch der Gemeinde um Ansetzung einer Verwirkungsfrist zur Klageanhebung ab und trat auf das Fristerstreckungsgesuch der Gesuchsgegnerinnen nicht ein.
| 6 |
E. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 23. August 2005 beantragt die Einwohnergemeinde Engelberg, der Entscheid des Verwaltungsgerichtspräsidenten vom 29. Juli 2005 sei aufzuheben und dieser sei anzuweisen, den Beschwerdegegnerinnen eine Frist zur Klageerhebung mit Verwirkungsfolgen im Säumnisfall anzusetzen. Eventuell seien weitere Massnahmen zur Prozessbeschleunigung anzuordnen. Die Beschwerdeführerin macht Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung geltend, welche Art. 5 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 BV verletze.
| 7 |
Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut.
| 8 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
1.1 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen sollen (Art. 5 VwVG i.V.m. Art. 97 OG), sofern diese von einer in Art. 98 OG genannten Vorinstanz erlassen worden ![]() | 9 |
10 | |
11 | |
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt: Beim Zonenplan der Einwohnergemeinde Engelberg handelt es sich um einen Nutzungsplan, der für die betroffenen Grundeigentümer zu Eigentumsbeschränkungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 und 34 Abs. 1 RPG führt. In Art. 26 Abs. 2 des Baugesetzes des Kantons Obwalden vom 12. Juni 1994 (BauG) wird zudem ausdrücklich das Recht des Eigentümers anerkannt, gegen volle Entschädigung die Übernahme des Bodens durch das Gemeinwesen zu verlangen, wenn die auf einem Grundstück lastende Zone für öffentliche ![]() | 12 |
Dem vorliegenden Verfahren liegt somit in dreifacher Hinsicht eine Streitigkeit zu Grunde, die eine Entschädigung für eine Eigentumsbeschränkung aufgrund einer Nutzungsplanung im Sinne des RPG betrifft. Zunächst kann die Festsetzung der Zone für öffentliche Bauten und Anlagen eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 RPG bewirkt haben (vgl. Art. 26 Abs. 1 BauG). Zudem kann als Folge der Eigentumsbeschränkung ein Heimschlag nach Art. 26 Abs. 2 BauG in Frage kommen, und schliesslich steht - selbst wenn keine materielle Enteignung vorliegt - das Heimschlagsrecht nach Art. 21 BR zur Diskussion. Die Problematik der Heimschlagsentschädigung nach Art. 21 BR steht in der vorliegenden Angelegenheit in einem derart engen Sachzusammenhang mit Art. 5 Abs. 2 RPG, dass auch sie im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu behandeln ist (vgl. BGE 114 Ib 174 E. 1 S. 175 und 3b S. 177 f.).
| 13 |
14 | |
15 | |
![]() | |
2.1 Nach Art. 104 lit. a OG kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens gerügt werden. Soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist, kann die Beschwerdeführerin auch geltend machen, der angefochtene Entscheid verletze Bundesverfassungsrecht, weil dieses zum Bundesrecht im Sinne von Art. 104 lit. a OG gehört (BGE 126 II 300 E. 1b; BGE 121 II 39 E. 2d/bb S. 47, BGE 121 II 72 E. 1b, je mit Hinweisen). Ist in einer Streitsache sowohl materielles kantonales als auch eidgenössisches Verwaltungsrecht anwendbar, so kann auch geltend gemacht werden, die Anwendung des kantonalen Rechts stelle zugleich eine Bundesrechtsverletzung dar, insbesondere eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Kommt dem kantonalen Recht gegenüber dem Bundesrecht selbständige Bedeutung zu, so prüft das Bundesgericht dessen Auslegung und Anwendung auf Willkür hin, soweit nicht spezielle Normen des eidgenössischen oder kantonalen Verfassungsrechts in Frage stehen (BGE 125 II 1 E. 2a S. 5; BGE 121 II 235 E. 1 S. 238; BGE 118 Ib 326 E. 1b S. 329 f., je mit weiteren Hinweisen).
| 16 |
17 | |
Erwägung 3 | |
18 | |
3.1.1 Gemäss Art. 13 Abs. 2 des kantonalen Gesetzes über die Zwangsenteignung vom 9. April 1877 (EntG/OW; GDB 760.1) urteilt die Schätzungskommission über die Frage der Entschädigung und alle mit derselben in Verbindung stehenden, zur Erörterung gelangenden Nebenfragen und teilt ihren Entscheid den Parteien beförderlichst mit. Wird von einer Partei nicht innert 14 Tagen nach ![]() | 19 |
20 | |
Die Durchführung des Verfahrens vor der Schätzungskommission gilt sowohl bei der formellen als auch bei der materiellen Enteignung als Prozessvoraussetzung für das nachfolgende Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht (NICCOLÒ RASELLI, a.a.O., S. 150). Die Nichtannahme des Entscheids der Schätzungskommission wird als Rechtsmittel sui generis bezeichnet, welches wie ein ordentliches Rechtsmittel die Rechtskraft hemme, jedoch keinen Devolutiveffekt entfalte. Die Sache werde durch die Nichtannahme allein nicht zur Entscheidung vor eine höhere Instanz befördert. Das Schätzungsverfahren erscheine somit nicht als eigentliches erstinstanzliches Verfahren, sondern als ein dem ordentlichen Verfahren vorgelagertes, besonderes Verfahren, das - ähnlich dem Vermittlungsversuch im Zivilprozess - Voraussetzung für das ordentliche Verfahren vor dem Verwaltungsgericht sei. Bei Nichtannahme des Schätzungsentscheids werde der Weg frei zur gerichtlichen Beurteilung der Sache. Gegenstand des anschliessenden gerichtlichen Verfahrens sei nicht der Entscheid der Schätzungskommission, sondern die Klage. Das Gesetz enthalte keine Bestimmung darüber, ob dies innert einer bestimmten Frist zu geschehen habe. In der Praxis teile deshalb der Präsident der Schätzungskommission die Nichtannahme dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts mit. Dieser setze derjenigen Partei, welcher die Klägerrolle zufalle, eine Frist zur Erhebung der ![]() | 21 |
Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, das sich nach den Regeln des Zivilprozesses richte und von der Dispositionsmaxime beherrscht sei, werde der nicht angenommene Entscheid der Schätzungskommission als neutrales, amtliches Gutachten betrachtet. In Fällen materieller Enteignung habe in der Regel der Enteignete als Kläger aufzutreten (NICCOLÒ RASELLI, a.a.O., S. 151 ff.).
| 22 |
23 | |
3.2 Das Verfahren für die Beurteilung von Entschädigungen als Folge von Eigentumsbeschränkungen wird weitgehend im kantonalen Recht geregelt (Art. 36 RPG). Dieses muss jedoch den bundesrechtlichen Mindestanforderungen an das kantonale ![]() | 24 |
Aus den Materialien zum RPG ergibt sich, dass Art. 33 Abs. 2 RPG nicht zwingend eine "Beschwerde" zur Gewährung des Rechtsschutzes verlangt. Hingegen muss das kantonale Rechtsmittel im Ergebnis den bundesrechtlichen Standard erfüllen (EJPD/BRP, a.a.O., N. 13 zu Art. 33 RPG).
| 25 |
3.3 Bei den im vorliegenden Fall umstrittenen Entschädigungsfragen handelt es sich um eine Entschädigung für eine nutzungsplanerische Massnahme im Sinne des RPG. Dies gilt auch für den Fall, dass lediglich eine Entschädigung für den Heimschlag nach Art. 21 BR in Frage kommen sollte. Die Tatsache, dass der Heimschlag auch für nicht enteignungsgleich wirkende Eingriffe zur Verfügung steht, bedeutet allein noch nicht, dass dieser ein selbständiges Institut des kantonalen Rechts ist und nie Folge einer Planungsmassnahme im Sinne des RPG sein kann (BGE 114 Ib 174 E. 3a S. 177; Urteil des Bundesgerichts 1P.119/1991 vom 1. Februar 2000, publ. in: ZBl 101/2000 S. 635, E. 2b; PETER HÄNNI, Planungs-, Bau- und besonderes Umweltschutzrecht, 4. Aufl., Bern 2002, S. 624). Ungeachtet der Frage, ob sich die Entschädigungspflicht schliesslich ![]() | 26 |
27 | |
28 | |
3.4.2 Weder die negative Feststellungsklage noch die von der Beschwerdeführerin verlangte Verwirkungsfrist zur Klageeinreichung sind geeignet, einen den Anforderungen von Art. 33 Abs. 2 RPG genügenden Rechtsschutz zu gewährleisten. Gegenstand des an die Nichtannahme-Erklärung anschliessenden gerichtlichen Verfahrens ist nach dem kantonalen Recht nicht der Entscheid der Schätzungskommission, sondern die Klage an das Verwaltungsgericht (s. vorne E. 3.1.2). Da Art. 33 Abs. 2 RPG nach seinem klaren Wortlaut jedoch ![]() | 29 |
3.5 Für die Beurteilung eines Rechtsmittels gegen den Entscheid der Schätzungskommission im Sinne von Art. 33 Abs. 2 RPG kommt nach der kantonalen Zuständigkeitsordnung lediglich das Verwaltungsgericht in Frage (Art. 10 und 62 ff. des kantonalen Gesetzes vom 22. September 1996 über die Gerichtsorganisation [GOG]). Dieses muss eine gegen den Entscheid der Schätzungskommission eingereichte Nichtannahme-Erklärung gestützt auf die bundesrechtliche Garantie gemäss Art. 33 Abs. 2 RPG als ordentliches Rechtsmittel entgegennehmen und nach den üblichen für die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltenden Grundsätzen behandeln (vgl. Art. 8 ff. der kantonalen Verordnung vom 9. März 1973 über das Verwaltungsgerichtsverfahren [VGV/OW]). Auf ![]() | 30 |
31 | |
4. Zusammenfassend ergibt sich, dass das Klageverfahren, wie es im Kanton Obwalden für Fälle wie den vorliegenden vorgesehen ist, den bundesrechtlichen Rechtsschutzanforderungen gemäss Art. 33 Abs. 2 RPG nicht genügt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gemeinde Engelberg ist deshalb im Sinne der Erwägungen gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Der Verwaltungsgerichtspräsident hat den privaten Beschwerdegegnerinnen eine angemessene Frist zur Begründung ihrer Nichtannahme-Erklärung, welche als kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu behandeln ist, anzusetzen. (...)
| 32 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |