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36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kanton Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_73/2008 vom 1. Oktober 2008 | |
Regeste |
Art. 2, 11-17 OHG, Art. 12 OHV, Art. 98 und 125 StGB; Entschädigung und Genugtuung nach OHG, Geltungsbereich des OHG bei Straftaten mit grossem zeitlichem Abstand zwischen Tathandlung und Erfolgseintritt (Asbestopfer). | |
Sachverhalt | |
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Mit Verfügung vom 2. August 2006 trat die Opferhilfestelle auf das Gesuch um Genugtuung und Entschädigung nicht ein, da die mutmassliche Straftat vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312.5) am 1. Januar 1993 begangen worden sei.
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Gegen die Verfügung der Opferhilfestelle gelangte Y. an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit dem Antrag, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Opferhilfestelle sei zu verpflichten, auf das Gesuch einzutreten. Y. starb am 6. Juli 2007. Das Sozialversicherungsgericht wies seine Beschwerde mit Urteil vom 7. Januar 2008 ab.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 13. Februar 2008 beantragt X., die Witwe und eingesetzte Alleinerbin von Y., das Urteil vom 7. Januar 2008 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass das Opferhilfegesetz anwendbar sei. ![]() | 4 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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5.1 Das geltende Opferhilferecht des Bundes enthält keine Definition des Begriffs der Begehung der Straftat. Auch das revidierte Opferhilfegesetz vom 23. März 2007, das auf den 1. Januar 2009 in Kraft tritt (AS 2008 S. 1607 ff.), bringt diesbezüglich keine Klärung. Das Bundesgericht hatte bisher noch nie zu beurteilen, in welchem Zeitpunkt eine Straftat "begangen" wurde, wenn das tatbestandsmässige Verhalten vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes erfolgte und der strafrechtlich relevante Erfolg nach dessen Inkrafttreten eintrat. Im Fall der AIDS-Erkrankung eines Vergewaltigungsopfers fielen die Tathandlung und der Erfolgseintritt in einen Zeitraum nach dem 1. Januar 1993 (BGE 126 II 348). Mit Urteil 1A.139/1997 vom 10. November ![]() | 7 |
5.2 Die Verordnung ist wie ein Gesetz in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zu Grunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode auszulegen. Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht allerdings nicht nach den subjektiven Wertvorstellungen der Richter aufgegeben ist, sondern nach den Vorgaben des Gesetzgebers. Die Auslegung des Gesetzes ist zwar nicht entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des rechtsstaatlichen Normverständnisses nicht aus sich selbst begründen lässt, sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist, die es mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungselemente zu ermitteln gilt. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut allein die Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis mit Blick auf die ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben (BGE 133 III 175 E. 3.3.1 S. 178; BGE 133 V 314 E. 4.1 S. 316; BGE 129 II 114 E. 3.1 S. 118; BGE 128 I 34 E. 3b S. 40 f., siehe auch BGE 134 V 202 E. 3.2 S. 205 mit Hinweisen).
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Nach dem Übergang des Strafanspruchs auf den Staat hat sich dieser vorwiegend mit den Tätern auseinandergesetzt und dabei für diese umfangreiche Mittel unter anderem für das Strafverfahren, den Strafvollzug und die Resozialisierung von Straftätern aufgewendet (Täteroptik des Strafrechts). Das Opferhilferecht wurde demgegenüber nach international verbreiteter Erkenntnis, dass die Opferinteressen im Strafrecht nur mangelhaft beachtet wurden, auf die Milderung der Folgen einer Straftat für das unfreiwillig davon betroffene Opfer ausgerichtet. Das Opferhilferecht strebt mit seinem opferbezogenen Ansatz einen Ausgleich des täterbezogenen staatlichen Engagements zu Gunsten der Opfer an. Opfer von Straftaten und deren nahe Angehörige erleiden vielfach über den unmittelbaren Schaden hinausgehende, erhebliche und unter Umständen langwierige Beeinträchtigungen, die durch die Strafverfolgung mitunter eher noch verschlimmert als gelindert werden. Die Stellung des Opfers wurde daher innerhalb und ausserhalb des Strafverfahrens gestärkt. Seine Probleme, Bedürfnisse und Interessen nach einer Straftat sollten mehr beachtet werden. Diesen Anliegen dient das Opferhilfegesetz mit den drei Hauptpfeilern der Beratung, des Ausbaus der verfahrensrechtlichen Stellung des Opfers sowie der Entschädigung und Genugtuung durch den Staat (Botschaft des Bundesrats zum OHG vom 25. April 1990, in: BBl 1990 II 964 ff.; EVA WEISHAUPT, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des OHG, Diss. Zürich 1998, S. 3 ff.; PETER GOMM/DOMINIK ZEHNTNER, a.a.O., N. 5 ff. der Einleitung).
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5.4 Der historische Wille des Gesetzgebers zur Opferhilfe bei Erfolgsdelikten, bei denen tatbestandsmässiges Verhalten und Erfolgseintritt zeitlich weit auseinanderliegen, lässt sich weder den ![]() | 11 |
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Anders als im Strafrecht ergibt sich aus dem Regelungszweck und der gesetzlichen Umschreibung des Geltungsbereichs des OHG somit ein opferbezogener Ansatz (BGE 126 II 348 E. 5d S. 355; BGE 125 II 265 E. 2a/aa S. 268; DOMINIK ZEHNTNER, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 2005, N. 2 zu Art. 2 OHG). Das Vorliegen der objektiven und der subjektiven Tatbestandsmerkmale eines Delikts ist Anknüpfungspunkt für die Gewährung der Opferhilfe. Die Straftat stellt somit opferhilferechtlich den anspruchbegründenden Sachverhalt dar (FRANZISKA WINDLIN, Grundfragen staatlicher Opferentschädigung, ![]() | 13 |
5.6 Der beschriebene opferbezogene Ansatz lässt erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der von den Vorinstanzen vertretenen Argumentation zum zeitlichen Geltungsbereich des OHG aufkommen. Zwar handelt es sich beim gesetzlich nicht geregelten zeitlichen Geltungsbereich des OHG nicht um die gleiche Problemstellung wie bei der Frage der Rechtzeitigkeit eines Gesuchs um Entschädigung oder Genugtuung. Indessen wird das Opferhilferecht insgesamt von einer opferbezogenen Betrachtungsweise beherrscht, weshalb auch der zeitliche Geltungsbereich aus der Opferperspektive zu beurteilen ist. In der Literatur wird dargelegt, ein Delikt, dessen Begehung aus strafrechtlicher Sicht vor dem Inkrafttreten des Gesetzes liege, dessen schwerwiegende Folgen jedoch wegen einer langen Inkubationszeit erst danach aufträten, könne aus opferhilferechtlicher Sicht in der Weise beurteilt werden, dass von einer eigentlichen Tatbegehung erst im Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit gesprochen werden könne (z.B. Auftreten von Krebs nach einer Asbestexposition). Art. 12 Abs. 3 ![]() | 14 |
5.7 Die erörterten Gesichtpunkte der Auslegung sind anhand des vorliegenden Sachverhalts zu würdigen (E. 5.2 hiervor). Ausgangspunkt für die opferhilferechtliche Beurteilung der Sache ist eine behauptete fahrlässige Verletzung des Ehemanns der Beschwerdeführerin. Während das angeblich als fahrlässige Körperverletzung (Art. 125 StGB) einzustufende Verhalten in der Verletzung von Sorgfaltspflichten durch den früheren Arbeitgeber des Verstorbenen in den Jahren 1963-1967 bestehen soll, wurde die vom Verstorbenen und der Beschwerdeführerin aus der Sorgfaltswidrigkeit abgeleitete Erkrankung erst im Januar 2006 festgestellt. Der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung im Sinne von Art. 125 StGB setzt voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht verursacht hat (BGE 134 IV 193 E. 7 S. 203 f. mit Hinweisen; s. auch BGE 127 IV 34 E. 2a S. 38; BGE 126 IV 13 E. 7a/bb S. 16 f.). Eine Straftat im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 2 Abs. 1 OHG (E. 5.5 hiervor) konnte somit erst mit dem Eintritt des strafrechtlich relevanten Erfolgs vorliegen, da erst in diesem Zeitpunkt der objektive Tatbestand erfüllt war. Das angeblich sorgfaltswidrige Verhalten kann grundsätzlich eine tatbestandsmässige Begehung oder Unterlassung im Hinblick auf eine fahrlässige Körperverletzung darstellen (vgl. nicht publ. E. 2 und E. 5 hiervor). Aus der im Opferhilferecht massgebenden Opferperspektive kann hingegen bei Beendigung des sorgfaltswidrigen Verhaltens noch nicht von der Begehung einer Straftat im Sinne des OHG gesprochen werden, solange noch kein tatbestandsmässiger Erfolg vorliegt. Fahrlässigkeit allein ohne Erfolgseintritt stellt im Hinblick auf Art. 125 StGB keine Straftat dar, da es an der Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale mangelt. Gestützt auf Art. 125 StGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 OHG können somit gar keine Ansprüche auf Opferhilfe entstehen, solange der strafrechtlich relevante Erfolg des fahrlässigen Verhaltens nicht eingetreten ist. Die Auslegung von Art. 12 Abs. 3 OHV führt somit vor dem Hintergrund des geschilderten Sachverhalts und unter Beachtung der Zielsetzungen des Opferhilfegesetzes zum Ergebnis, dass zur "Begehung einer Straftat" im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV nicht bloss das fahrlässige Verhalten als Ursache des Erfolgseintritts gehört. Vielmehr muss darüber ![]() | 15 |
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Die strafrechtlichen Verjährungsregeln sind massgeblich unter täterbezogenen Gesichtspunkten zu würdigen (vgl. BGE 134 IV 297 E. 4.3.4). Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass das staatliche Strafbedürfnis unter Berücksichtigung praktisch aller Strafzwecke in der Regel umso mehr zurückgeht, je länger das Täterverhalten zurückliegt. Sie können dazu führen, dass die Verfolgung von Fahrlässigkeitsdelikten oder von Delikten, deren Strafbarkeit vom Eintritt einer objektiven Strafbarkeitsbedingung abhängt, verjähren kann, bevor sie hätte beginnen können (vgl. GÜNTHER STRATENWERTH/WOLFGANG WOHLERS, Handkommentar zum StGB, Bern 2007, N. 1 zu Art. 98 StGB und N. 1 der Vorbemerkungen zu Art. 97 ff. StGB; BGE 134 IV 297).
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Mit dem OHG sollte hingegen den durch eine Straftat unmittelbar in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität beeinträchtigten Personen die gesetzlich vorgesehene Hilfe gewährleistet werden. Zur Erreichung dieses Ziels wird im Opferhilferecht in verschiedener Hinsicht von strafrechtlichen Grundsätzen abgewichen. So wird die Opferhilfe insbesondere unabhängig davon gewährt, ob die Täterschaft ermittelt worden ist und ob sie sich schuldhaft verhalten hat (Art. 2 Abs. 1 OHG). Gleichermassen kann es für die opferhilferechtliche Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung nicht darauf ankommen, ob der Strafanspruch des Staates verjährt ist. Das Opfer kann von einem strafrechtlich verjährten Delikt bei späterem Erfolgseintritt in derselben Weise betroffen sein, wie wenn im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG keine Täterschaft oder kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann. Es erscheint daher ![]() | 18 |
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5.10 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei fahrlässigen Erfolgsdelikten mit grossem zeitlichem Abstand der mutmasslichen Tathandlung zum Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs unter "Begehung einer Straftat" im Sinne von Art. 12 Abs. 3 OHV die Verwirklichung der subjektiven und der objektiven ![]() | 20 |
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