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17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bundesamt für Migration (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_555/2011 vom 18. Juni 2012 | |
Regeste |
Art. 8 Abs. 3 BV, Art. 58a BüG; Verwirklichung der Geschlechtergleichheit bei der Anwendung einer Übergangsbestimmung zur erleichterten Einbürgerung. |
Prozessuale Behandlung eines verspätet nachgereichten Rechtsgutachtens (E. 2). |
Seit Einführung der Geschlechtergleichheit im Jahre 1981 bzw. deren daran anschliessenden Umsetzung im Bürgerrechtsgesetz wird das Bürgerrecht von beiden Geschlechtern gleichermassen weitergegeben. Auch bei der Anwendung der Übergangsregelung, die den früheren Verlust des Bürgerrechts auf Seiten der Frauen kompensiert, ist die Gleichbehandlung der Geschlechter zu verwirklichen. Dem 1982 geborenen Urenkel einer Schweizerin, die 1920 wegen Heirat das Schweizer Bürgerrecht verloren und dieses gleich wie in der Folge ihre Tochter und deren Sohn (Grossmutter und Vater des Gesuchstellers) Jahre später nach jeweils entsprechenden Gesetzesanpassungen wieder angenommen hatte, steht daher die erleichterte Einbürgerung offen (E. 3 und 4). | |
Sachverhalt | |
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A.a X. wurde am 7. Februar 1982 in Finnland geboren. Er besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit seines Vaters und die finnische seiner Mutter. Vorwiegend lebte er in Finnland, in jüngerer Zeit teilweise auch in Deutschland.
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A.b X.s Urgrossmutter war Schweizer Bürgerin. Sie verlor diese Staatsangehörigkeit nach damaligem Recht durch ihre Heirat mit einem deutschen Staatsangehörigen im Jahre 1920. Am 13. April 1954 erhielt sie das Schweizer Bürgerrecht in einem Verfahren der damals so genannten Wiederannahme (heute: Wiedereinbürgerung). Ihre Tochter, X.s Grossmutter, wurde am 9. November 2005 im Alter von 83 Jahren gestützt auf die Übergangsbestimmung von Art. 58a des Bundesgesetzes vom 29. September 1952 über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG; SR 141.0) in der Schweiz erleichtert eingebürgert. Der Vater von X. wurde am 29. Dezember 2006 ebenfalls in Anwendung von Art. 58a BüG (nunmehr in einer neuen Fassung der Bestimmung) erleichtert eingebürgert. Mit Entscheid vom 9. März 2007 bezog das Bundesamt für Migration den im Jahre 1988 geborenen, im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung noch unmündigen Bruder von X. in die Einbürgerung des Vaters ein.
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B.a Am 4. Juni 2007 ersuchte X. das Bundesamt für Migration ebenfalls um erleichterte Einbürgerung nach Art. 58a BüG. Nachdem das Bundesamt das Gesuch zunächst als gegenstandslos abgeschrieben hatte, wies es dieses schliesslich mit Verfügung vom 20. November 2008 ab. (...)
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B.b Mit Urteil vom 4. November 2011 wies das Bundesverwaltungsgericht eine dagegen gerichtete Beschwerde von X. ab. (...)
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 12. Dezember 2011 an das Bundesgericht beantragt X., das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufzuheben und sein Gesuch um erleichterte Einbürgerung gutzuheissen. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, Art. 58a BüG sei so auszulegen, dass sämtliche geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Einbürgerung von Nachkommen beseitigt würden. In der Beschwerdeschrift wird die Nachreichung eines Rechtsgutachtens angekündigt.
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D. Das Bundesamt für Migration schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesverwaltungsgericht hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
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E. Mit Eingabe vom 18. Januar 2012 reichte X. das angekündigte Rechtsgutachten nach.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zurück an das Bundesamt für Migration zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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2.4 Bei Rechtsgutachten zum anwendbaren schweizerischen Recht trifft ein solcher Zusammenhang nicht zu. Beim schweizerischen Recht gilt der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen nach Art. 106 Abs. 1 BGG uneingeschränkt. Dem Rechtsgutachten ![]() | 16 |
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Erwägung 3 | |
3.1 Nach Art. 57 BüG richten sich Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts unter Vorbehalt besonderer Übergangsbestimmungen nach dem Recht, das bei Eintritt des massgeblichen Sachverhalts in Kraft steht (HARTMANN/MERZ, § 12 Einbürgerung: Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts, in: Ausländerrecht, Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], 2. Aufl. 2009, Rz. 12.67). Zu solchen Sonderbestimmungen zählt Art. 58a Abs. 1 BüG, wonach das ausländische Kind, das vor dem 1. Juli 1985 geboren wurde und dessen Mutter vor oder bei der Geburt des Kindes das Schweizer Bürgerrecht besass, ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung stellen kann, wenn es mit der Schweiz eng verbunden ist. Gemäss Abs. 3 derselben ![]() | 18 |
3.2 Das Bundesverwaltungsgericht zeichnet im angefochtenen Entscheid die Geschichte des Gesetzes und der Einbürgerungen der Familienangehörigen des Beschwerdeführers ausführlich nach. Massgeblich ist dabei, dass die Urgrossmutter des Beschwerdeführers, die ihr Schweizer Bürgerrecht durch Heirat eines Ausländers im Jahre 1920 verloren hatte (dazu ROLAND SCHÄRER, Das Bürgerrecht der mit einem Ausländer verheirateten Schweizerin und ihrer Kinder [Übersicht über die Rechtsentwicklung; nachfolgend: 1986], ZZW 54/1986 S. 34 f.), erst mit Inkrafttreten des Bürgerrechtsgesetzes vom 29. September 1952 (AS 1952 1087) am 1. Januar 1953 die Möglichkeit zur Wiedereinbürgerung (durch so genannte Wiederaufnahme in das Schweizer Bürgerrecht; vgl. SCHÄRER, 1986, a.a.O., S. 36) erhielt. Am 13. April 1954 wurde sie denn auch eingebürgert. Der Grossmutter des Beschwerdeführers stand damals hingegen die Einbürgerung nicht offen. In der Volksabstimmung vom 14. Juni 1981 wurde die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Mann und Frau angenommen (Art. 4 Abs. 2 aBV; AS 1981 1243). Gestützt darauf regelte der Gesetzgeber mit der am 1. Juli 1985 in Kraft getretenen Änderung des Bürgerrechtsgesetzes vom 14. Dezember 1984 (AS 1985 420; BBl 1984 II 211) das Bürgerrecht der Kinder eines schweizerischen Elternteils mit dem Ziel der Gleichbehandlung der Geschlechter ein erstes Mal neu und führte eine entsprechende Übergangsordnung ein. Die Regelung wurde in der Folge mehrmals revidiert. Für die Grossmutter des Beschwerdeführers entstand die Möglichkeit zur Einbürgerung erst mit den Gesetzesrevisionen vom 23. März 1990 (AS 1991 1034; BBl 1987 III 293), als Art. 58a BüG erlassen wurde, bzw. vom 20. Juni 1997 (in Kraft seit dem 1. Dezember 1997; AS 1997 2370; BBl 1993 III 1388 und 1995 II 493; vgl. zu dieser Fassung der Bestimmung MINH SON NGUYEN, Droit public des étrangers, 2003, S. 735 f.). Das erklärt, weshalb sich die Grossmutter erst relativ spät zur Einbürgerung in der Schweiz entschloss, die am 9. November 2005 erfolgte. Am 1. Januar 2006 trat eine weitere Gesetzesnovelle vom 3. Oktober 2003 in Kraft (AS 2005 5233; BBl 2002 1911), welche die heute noch gültige Fassung von Art. 58a BüG einführte. Kurz darauf, nämlich am 29. Dezember 2006, wurde auch der Vater des Beschwerdeführers eingebürgert. Nach Auffassung des Bundesamtes geschah dies gestützt auf eine entsprechende Praxis der Bundesbehörden zum insofern angeblich nicht eindeutigen Gesetzestext. Gemäss ![]() | 19 |
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3.4 Nach der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts im angefochtenen Entscheid stützte sich die Einbürgerung der Grossmutter des Beschwerdeführers auf Art. 58a Abs. 1 BüG. Der Vater habe gemäss dem damaligen Gesetzestext eigentlich gar nicht erleichtert eingebürgert werden können, die Schweizer Staatsangehörigkeit aber im Sinne einer Lückenfüllung gemäss der damaligen Praxis erhalten. Es komme nicht darauf an, ob eine Generation übersprungen worden sei. Art. 58a Abs. 3 BüG besage lediglich, dass die betroffenen Nachkommen (eigene Kinder des ausländischen Kindes gemäss Abs. 1 der Bestimmung) einen selbständigen Anspruch auf erleichterte Einbürgerung hätten, und zwar unabhängig davon, ob der Elternteil vorher selbst aufgrund von Art. 58a Abs. 1 BüG eingebürgert worden sei. Unter Auslegung von Art. 58a BüG kommt das Gericht zum Schluss, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf diese Bestimmung berufen. Der Wortlaut spreche nur von der Mutter und nicht vom Vater und erfasse nur eigene Kinder, schliesse mithin weitere Generationen aus. Der Gesetzgeber habe zwar Mann und Frau im Bürgerrecht gleich behandeln wollen, aber nicht beabsichtigt, dass es im Sinne eines Automatismus für die Erlangung des Schweizer Bürgerrechts für alle weiteren Generationen keine Rolle mehr spielen solle, ob der betreffende Schweizer Vorfahre ein Mann oder eine Frau gewesen sei. Eine Gesetzeslücke liege nicht vor. Das ![]() | 21 |
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Erwägung 4 | |
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4.2 Gemäss dem Wortlaut von Art. 58a Abs. 1 BüG steht dem ausländischen Kind, das vor dem 1. Juli 1985 geboren wurde und dessen Mutter vor oder bei der Geburt des Kindes das Schweizer ![]() | 24 |
4.3 Auf diese Umstände bei der Entstehung der Norm zielt das historische Auslegungselement. Die Idee des Gesetzgebers war es, die diskriminierende Wirkung zu beseitigen, die sich unter dem vorbestandenen Recht ergeben hatte. Diese bestand darin, dass früher Kinder aus der Ehe eines Ausländers mit einer Schweizerin im Unterschied zur umgekehrten Ausgangslage das Schweizer Bürgerrecht nicht automatisch mit der Geburt erwarben. Die bundesrätliche Botschaft hielt dazu fest, dass es "in der Regel für den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts keine Rolle spielen soll, ob der Vater oder die Mutter das Schweizer Bürgerrecht besitzt, wenn die Eltern miteinander verheiratet sind. Beide Eltern können es in gleicher Weise ihren Kindern vermitteln" (BBl 1984 II 219). Bis und mit dem Erlass der heutigen Fassung von Art. 58a BüG scheint der Gesetzgeber, abgesehen von den in Abs. 3 der Bestimmung geregelten Grosskindern, an die weiteren Generationen nicht gedacht zu haben. Jedenfalls werden sie in den Materialien genauso wenig wie im Gesetzestext ausdrücklich erwähnt. Daraus lässt sich entgegen den Vorinstanzen nicht zwingend schliessen, von einer weiteren Wirkung über die ersten zwei Generationen hinaus sei explizit abgesehen worden. Die Vorinstanzen vermögen denn auch ihre entsprechenden Standpunkte mit ![]() | 25 |
4.4 Was den Gesetzeszweck betrifft, so ist die heutige Ordnung des Bürgerrechtsgesetzes unter anderem gekennzeichnet vom Prinzip der Gleichstellung von Mann und Frau (RHINOW/SCHEFER, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 300). Dieses inzwischen in Art. 8 Abs. 3 BV als weitgehende Spezialbestimmung zu Art. 8 Abs. 2 BV geregelte Grundrecht (vgl. RHINOW/SCHEFER, a.a.O., Rz. 1933; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 63 zu Art. 8 BV) wurde mit der Volksabstimmung vom 14. Juni 1981 in die damals gültige Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (AS I 1) eingeführt (Art. 4 Abs. 2 aBV; AS 1981 1243). Die Revisionen des Bürgerrechtsgesetzes vom 14. Dezember 1984 und vom 23. März 1990 waren die direkte Folge dieser Verfassungsrevision und bezweckten deren Umsetzung im ![]() | 26 |
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4.7 Zu prüfen bleibt, wieweit die Gleichstellung der Geschlechter zurückreichen soll. Denkbar wäre eine unbegrenzte Wirkung, wofür spricht, dass mit der Verfassungsrevision von 1981 die Gleichstellung der Geschlechter definitiv beseitigt werden sollte, womit es sich nicht rechtfertigt, alte Unterschiede mit rechtlichen Auswirkungen über 1981 hinaus bestehen zu lassen. Fraglich wäre bei dieser Lösung, ob die Folgen überschaubar bleiben würden und es sich tatsächlich lediglich um Einzelfälle handeln würde, wie der Beschwerdeführer behauptet, oder ob nicht unzählige neue Fallkonstellationen möglich wären, was im vorliegenden Verfahren von keiner Seite abgeklärt wurde. Mit Blick auf eine überschaubare und der Verfassungsentwicklung auch in zeitlicher Hinsicht angepasste Rechtslage könnte es sich allenfalls auch rechtfertigen, für die Wirkung einer ![]() | 29 |
4.8 Nach der Gesetzesbestimmung setzt die erleichterte Einbürgerung des Beschwerdeführers eine enge Verbundenheit mit der Schweiz voraus. Obwohl das Vorliegen dieser Voraussetzung wahrscheinlich erscheint, so wurde sie von den Vorinstanzen bisher nicht geprüft, was aufgrund von deren Rechtsauffassungen auch nicht erforderlich war. Der Sachverhalt ist insoweit unvollständig. Die Angelegenheit ist daher an die erste Instanz zurückzuweisen zu ergänzenden Abklärungen und neuem Entscheid gestützt auf die entsprechenden Feststellungen.
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