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2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A., B., C. und D. gegen Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Glarus (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_135/2013 vom 16. Dezember 2013 | |
Regeste |
Art. 2 Abs. 1 aOHG, Art. 117 StGB; Opferhilfe, fahrlässige Tötung. | |
Sachverhalt | |
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Im November 2004 wurde bei ihm ein bösartiges Mesotheliom (Brustfellkrebs) festgestellt.
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Am 26. September 2006 ersuchte er das Kantonale Sozialamt Glarus um Schadenersatz- und Genugtuungsleistungen nach dem Opferhilfegesetz. Zur Begründung machte er geltend, das Mesotheliom sei auf die Asbestexposition bei der Eternit AG zurückzuführen.
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Er verstarb am 23. Februar 2007. Darauf traten seine Ehefrau A. sowie seine Kinder B., C. und D. in das Opferhilfeverfahren ein.
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Am 18. Mai 2010 wies das Departement für Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Glarus (im Folgenden: Departement) das Opferhilfegesuch ab.
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Die von A., B., C. und D. dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus am 19. Dezember 2012 ab. Es befand, der Tod sei weder vorhersehbar noch vermeidbar gewesen, weshalb sich niemand der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht habe. Fehle es an einer Straftat, gelte das ebenso für die Opferstellung, weshalb keine Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung nach dem Opferhilfegesetz bestünden.
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B. A., B., C. und D. führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und das Departement zu verpflichten, ihnen im Einzelnen bezifferte Beträge zu zahlen. (...)
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Nach Art. 2 aOHG erhält Hilfe nach diesem Gesetz jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat (Abs. 1). Namentlich der Ehegatte und die Kinder des Opfers werden diesem gleichgestellt unter anderem bei der Geltendmachung von Entschädigung und Genugtuung (Art. 11-17), soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen (Abs. 2 lit. c).
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Gemäss Art. 117 StGB ist strafbar, wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht.
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Fahrlässig begeht ein Verbrechen oder ein Vergehen, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3 StGB, weitgehend entsprechend aArt. 18 Abs. 3 StGB).
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Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung setzt somit voraus, dass der Täter den Erfolg durch Verletzung einer Sorgfaltspflicht ![]() | 16 |
Grundvoraussetzung für das Bestehen einer Sorgfaltspflichtverletzung und mithin für die Fahrlässigkeitshaftung bildet die Vorhersehbarkeit des Erfolgs. Die zum Erfolg führenden Geschehensabläufe müssen für den konkreten Täter mindestens in seinen wesentlichen Zügen voraussehbar sein. Zunächst ist daher zu fragen, ob der Täter eine Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte voraussehen beziehungsweise erkennen können und müssen. Für die Beantwortung dieser Frage gilt der Massstab der Adäquanz. Danach muss das Verhalten geeignet sein, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen.
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Damit der Eintritt des Erfolgs auf das pflichtwidrige Verhalten des Täters zurückzuführen ist, genügt seine Voraussehbarkeit nicht. Weitere Voraussetzung ist, dass der Erfolg auch vermeidbar war. Dabei wird ein hypothetischer Kausalverlauf untersucht und geprüft, ob der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Für die Zurechnung des Erfolgs genügt, wenn das Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolgs bildete.
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Ob eine Handlung im Sinne der Adäquanztheorie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen oder zu begünstigen, muss ex ante, d.h. vom Zeitpunkt des Handelns aus, entschieden werden; denn die nachträgliche (bessere) Kenntnis der Zusammenhänge kann nicht darüber entscheiden, ob eine Handlung im Zeitpunkt ihrer Vornahme erlaubt oder verboten ![]() | 19 |
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Wie die Beschwerdeführer zutreffend vorbringen, ist entscheidend, ob die Verantwortlichen der Eternit AG zur Zeit, als X. dort beschäftigt war, ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben.
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Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war bekannt, dass mit dem Einatmen von Asbest ein gesundheitliches Risiko verbunden ist. Dessen volle Tragweite erfasste man jedoch erst im Laufe der Zeit. Zunächst ging es nur um die Asbestose, eine Form der Staublunge, die in schweren Fällen zum Tod führen kann. In den 1950er Jahren wiesen Studien auf eine erhöhte Gefahr von Krebserkrankungen bei Asbestarbeitern hin. Ende der 1950er Jahre kam der Verdacht auf, dass zwischen Asbest und dem bösartigen Mesotheliom ein Zusammenhang besteht. Erstmals bestätigte 1960 ein Forscherteam in Südafrika den Zusammenhang zwischen Brustfellkrebs und Asbesteinwirkung. 1965 legte Dr. Selikoff in New York das Ergebnis seiner jahrelangen Forschung vor. Danach besteht zwischen ![]() | 24 |
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Zunächst stellt sich - wie die Beschwerdeführer zutreffend vorbringen - die Frage, ob die Verantwortlichen der Eternit AG ihre Sorgfaltspflicht nicht bereits dadurch verletzt haben, dass sie den damals ![]() | 27 |
Erwägung 3.10 | |
3.10.1 Gemäss Art. 6 des Bundesgesetzes vom 13. März 1964 über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel in der in den Jahren 1972 und 1973 geltenden Fassung (Arbeitsgesetz, aArG; AS 1966 57 ff.) ist der Arbeitgeber verpflichtet, zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer sowie zum Schutz der Umgebung des Betriebs vor schädlichen und lästigen Einwirkungen alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebs angemessen sind (Abs. 1). Der Arbeitgeber hat insbesondere die betrieblichen Einrichtungen und den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass Unfälle, Krankheiten und Überbeanspruchungen der Arbeitnehmer nach Möglichkeit vermieden werden (Abs. 2).
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Das Arbeitsgesetz enthält sodann Bestimmungen zum Sonderschutz Jugendlicher. Diese gehen über die allgemeinen Normen des Arbeitsschutzes hinaus und tragen der besonderen Schutzbedürftigkeit der Jugendlichen Rechnung (Botschaft vom 30. September 1960 zum Entwurf eines Arbeitsgesetzes, BBl 1960 II 985 Ziff. IX.1).
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Gemäss Art. 29 aArG gelten als Jugendliche Arbeitnehmer bis zum vollendeten 19. Altersjahr (Abs. 1). Der Arbeitgeber hat auf die Gesundheit der Jugendlichen gebührend Rücksicht zu nehmen und für die Wahrung der Sittlichkeit zu sorgen. Er hat namentlich darauf zu achten, dass die Jugendlichen nicht überanstrengt werden und vor schlechten Einflüssen im Betrieb bewahrt bleiben (Abs. 2). Die Verwendung Jugendlicher für bestimmte Arbeiten kann zum Schutz von Leben und Gesundheit oder zur Wahrung der Sittlichkeit durch Verordnung untersagt oder von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht werden (Abs. 3).
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Nach Art. 30 aArG dürfen Jugendliche vor dem vollendeten 15. Altersjahr nicht beschäftigt werden. Vorbehalten bleibt namentlich Absatz 2 (Abs. 1). Durch Verordnung wird bestimmt, für welche Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmern sowie unter welchen Voraussetzungen Jugendliche im Alter von mehr als 13 Jahren zu Botengängen und leichten Arbeiten herangezogen werden dürfen (Abs. 2).
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Art. 54 der Verordnung I umschreibt die für alle Jugendlichen verbotenen Arbeiten. Danach dürfen Jugendliche insbesondere nicht zu Arbeiten herangezogen werden, bei denen eine erhebliche Erkrankungsgefahr besteht (lit. b).
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Gemäss Art. 59 Abs. 1 der Verordnung I dürfen, sofern Gesundheit und Schulleistung nicht beeinträchtigt werden und die Sittlichkeit gewahrt wird, schulpflichtige Jugendliche nach dem vollendeten 13. Altersjahr zu Botengängen ausserhalb des Betriebs, zu Handreichungen beim Sport sowie zu den leichten Arbeiten in Betrieben des Detailhandels und in Forstbetrieben herangezogen werden.
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Gemäss Art. 60 Abs. 1 der Verordnung I dürfen, sofern Gesundheit und Schulleistung nicht beeinträchtigt werden und die Sittlichkeit gewahrt wird, schulpflichtige Jugendliche nach dem vollendeten 14. Altersjahr während längstens der Hälfte von wenigstens drei Wochen dauernden Schulferien mit leichten Arbeiten beschäftigt werden.
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3.11 Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz arbeitete X. in den Frühlings- und Herbstferien der Jahre 1972 und 1973 bei der Eternit AG. In den Frühlingsferien 1972 war er ca. 13 ¾ Jahre alt. Ob er damals einzig zu Botengängen ausserhalb des Betriebs und nach Vollendung des 14. Altersjahrs lediglich zu leichten Arbeiten herangezogen wurde und seine Beschäftigung nach Art. 59 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 1 der Verordnung I überhaupt zulässig war, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls durfte er gemäss Art. 29 Abs. 2 und 3 aArG in Verbindung mit Art. 54 lit. b der Verordnung I nicht zu Arbeiten herangezogen werden, bei denen eine erhebliche Krankheitsgefahr besteht. Eine solche Gefahr war - wie die Verantwortlichen der Eternit AG wissen mussten - bei Arbeiten, bei denen sich Asbeststaub entwickelte, aber gegeben. Die Verantwortlichen hätten X. demnach keine Arbeiten verrichten lassen dürfen, bei denen er Asbeststaub ausgesetzt war. Indem sie das trotzdem getan haben, haben sie ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Das Risiko, das sie eingegangen sind, war im Lichte von Art. 29 Abs. 2 und 3 aArG in Verbindung mit Art. 54 lit. b der Verordnung I verboten. Sie haben somit die Grenze des erlaubten Risikos überschritten. ![]() | 36 |
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X. ist danach Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 aOHG. Die Ausrichtung von Entschädigung und Genugtuung gemäss Art. 11 ff. aOHG kommt damit in Betracht. Die Beschwerde ist, soweit darauf eingetreten werden kann, gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
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Da die kantonalen Instanzen die Opferstellung verneint haben, haben sie nicht geprüft, wieweit die geltend gemachten Entschädigungs- und Genugtuungsbegehren im Einzelnen berechtigt sind. Insbesondere haben sie offengelassen, wieweit allenfalls gute wirtschaftliche Verhältnisse der Beschwerdeführer einer Entschädigung entgegenstehen (Art. 12 Abs. 1 aOHG i.V.m. Art. 2 ff. der Verordnung vom 18. November 1992 über die Hilfe an Opfer von Straftaten [AS 1992 2479]). Die Sache wird in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG an das Departement zurückgewiesen, damit es darüber entscheide.
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