BGE 140 II 428 | |||
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38. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B., Gemeinderat Dagmersellen sowie Bau-, Umwelt- und Wirtschaftsdepartement des Kantons Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_565/2013 vom 12. Juni 2014 | |
Regeste |
Ausnahmebewilligung für die Erstellung einer zonenkonformen, aber nicht standortgebundenen Baute im Gewässerraum (Art. 36a GSchG; Art. 41a und 41c GSchV). |
Begriff des dicht überbauten Gebiets i.S. von Art. 41a Abs. 4, Art. 41b Abs. 3 und Art. 41c Abs. 1 Satz 2 GSchV: Materialien, Literatur, Merkblatt (E. 3). |
Der Planungs- bzw. Betrachtungsperimeter muss genügend gross sein und vor allem das Land entlang der Gewässer umfassen. Dieses muss bereits dicht (d.h. mehr als weitgehend) überbaut sein und es muss ein raumplanerisches Interesse an der verdichteten Überbauung des Gewässerraums bestehen (E. 7). |
Vorliegend handelt es sich um ein peripher gelegenes Gebiet; das Ufer ist nur auf einer Länge von rund 100 m überbaut. Dies genügt nicht, um es als "dicht überbaut" zu qualifizieren, auch nicht unter Berücksichtigung der bestehenden Verbauung des Gewässers und der beschränkten Aufwertungsmöglichkeiten (E. 8). | |
Sachverhalt | |
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Am 24. April 2012 reichte er ein Baugesuch ein, um die bestehenden Gebäude abzubrechen und an ihrer Stelle sowie auf Grundstück Nr. e zwei Mehrfamilienhäuser (Haus A und Haus B) und eine Autoeinstellhalle zu errichten. Gegen das Bauvorhaben erhob die A. AG Einsprache.
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Am 16. August 2012 bewilligte der Gemeinderat Dagmersellen das Bauvorhaben unter Bedingungen und Auflagen und wies die Einsprache der A. AG ab. Gleichzeitig wurde den Parteien die Verfügung der kantonalen Dienststelle Raumentwicklung, Wirtschaftsförderung und Geoinformation (RAWI) vom 3. September 2012 eröffnet, in der unter anderem gewässerschutz- und wasserbaurechtliche Ausnahmebewilligungen in Bezug auf die Wigger erteilt wurden.
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Dagegen hat die A. AG am 3. Juni 2013 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht erhoben.
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Am 12. Juni 2014 wurde die Sache in öffentlicher Sitzung beraten. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist das Baugesuch ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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Zu den natürlichen Funktionen der Gewässer gehören insbesondere der Transport von Wasser und Geschiebe, die Sicherstellung der Entwässerung, die Selbstreinigung des Wassers und die Erneuerung desGrundwassers, die Ausbildung einer naturnahen Strukturvielfalt in den aquatischen, amphibischen und terrestrischen Lebensräumen, die Entwicklung standorttypischer Lebensgemeinschaften, die dynamische Entwicklung des Gewässers und die Vernetzung der Lebensräume. Der Gewässerraum ist ein wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen und dient zugleich der Vernetzung von Lebensräumen. Er ist ein wichtiges Element der Kulturlandschaft und Erholungsraum für die Bevölkerung (Erläuternder Bericht des BAFU vom 20. April 2011, Parlamentarische Initiative Schutz und Nutzung der Gewässer - Änderung der Gewässerschutz-, Wasserbau-, Energie- und Fischereiverordnung [im Folgenden: Erläuternder Bericht],S. 10 f.; HANS STUTZ, Raumbedarf der Gewässer - die bundesrechtlichen Vorgaben für das Planungs- und Baurecht, PBG aktuell 4/2011 S. 6 [imFolgenden: Raumbedarf]; derselbe, Uferstreifen und Gewässerraum - Umsetzung durch die Kantone, URP 2012 S. 97 f. [im Folgenden: Uferstreifen]).
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Ausgangspunkt ist dabei die natürliche Breite des Fliessgewässers (Erläuternder Bericht, S. 11). Art. 41a Abs.1 und 2 GSchV bezeichnen die minimale Breite des Gewässerraums, die nicht unterschritten werden darf. Die Breite wird von den Kantonen erhöht, wenn dies erforderlich ist, beispielsweise zur Gewährleistung des Hochwasserschutzes, des Raumbedarfs für eine Revitalisierung oder überwiegender Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes (Abs. 3). In dicht überbauten Gebieten kann die Breite des Gewässerraums den baulichen Gegebenheiten angepasst werden, soweit der Schutz vor Hochwasser gewährleistet ist (Abs. 4).
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Bis zur definitiven Festlegung der Gewässerräume sind die Nutzungseinschränkungen gemäss Art. 41c Abs. 1 und 2 GSchV auf einem Streifen beidseitig des Gewässers zu beachten, dessen Breite von derjenigen der bestehenden Gerinnesohle abhängig ist (Ziff. 2 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der GSchV vom 4. Mai 2011 [im Folgenden: ÜbBest. GSchV]; vgl. Erläuternder Bericht, S. 30). Damit soll sichergestellt werden, dass nach dem Inkrafttreten der Verordnung keine unerwünschten neuen Anlagen errichtet werden (Erläuternder Bericht, S. 4 oben).
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Im Gewässerraum dürften grundsätzlich nur standortgebundene, im öffentlichen Interesse liegende Anlagen neu erstellt werden; zur Füllung von Baulücken seien jedoch in dicht überbauten Gebieten Ausnahmen von diesem Grundsatz möglich (Erläuternder Bericht, S. 4 oben). Dies solle eine Siedlungsentwicklung nach innen und eine aus Sicht der Raumplanung erwünschte städtebauliche Verdichtung ermöglichen (Erläuternder Bericht, S. 15 oben).
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Es stellt klar, dass Ausnahmen von den Gewässerraumbestimmungen nicht generell in den Bauzonen, sondern nur in dicht überbauten Gebieten ermöglicht werden sollen. Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung sei es, Siedlungsgebiet zu verdichten und Baulücken zu nutzen, sofern das Interesse an der Nutzung überwiege. Es solle dort eine Ausnahme von den Mindestbreiten ermöglicht werden, wo der Gewässerraum die natürlichen Funktionen auch auf lange Sicht nicht erfüllen könne. Dabei liege der Fokus auf dem Land entlang dem Gewässer und nicht (wie beim raumplanerischen Begriff des weitgehend überbauten Gebiets) auf dem Siedlungsgebiet als Ganzem (Merkblatt, S. 3/4, Abschnitt B).
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Das Merkblatt enthält eine Kriterienliste zur Bestimmung des dicht überbauten Gebiets, betont aber, dass den Kantonen ein Spielraum zustehe. Es seien Aspekte der Gewässer- und der Siedlungsentwicklung heranzuziehen und sowohl übergeordnete Konzepte als auch die konkrete Situation vor Ort zu berücksichtigen. Die Kriterien seien nicht abschliessend und müssten fallweise gewichtet werden (Merkblatt, S. 4, Abschnitt C).
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Für dicht überbautes Gebiet spreche der Umstand, dass es sich um eine Zentrums- oder Kernzone oder einen Entwicklungsschwerpunkt handle; dagegen spreche das Vorhandensein bedeutender Grünräume oder von Gewässerabschnitten mit ökologischer oder landschaftlicher Bedeutung (im Ist-Zustand oder nach getroffenen Aufwertungsmassnahmen). Zu berücksichtigen seien weiter die Bebaubarkeit und die Parzellenfläche, die bauliche Nutzung in der Umgebung und die Nähe zu öffentlichen Anlagen an Gewässern. Im Einzelfall könnten Gewässerzustand und -grösse eine Rolle spielen (Merkblatt, S. 4/5, Kriterienliste). (...)
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Der Begriff "dicht überbautes Gebiet" wird nicht nur in Art. 41c Abs. 1 GSchV verwendet, sondern auch in Art. 41a Abs. 4 und Art. 41b Abs. 3 GSchV, im Zusammenhang mit der planerischen Festlegung des Gewässerraums: In dicht überbauten Gebieten darf der Gewässerraum den baulichen Gegebenheiten angepasst werden, unter Unterschreitung des minimalen Raumbedarfs des Gewässers gemäss Art. 41a Abs. 2 bzw. Art 41b Abs. 1 GSchV.
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Eine sachgerechte Planung setzt einen genügend gross gewählten Perimeter voraus (HANS STUTZ, Anmerkung zum Urteil des Verwaltungsgerichts Aargau vom 27. September 2012, URP 2013 S. 163). Planungsperimeter ist - zumindest in kleineren Gemeinden - in der Regel das Gemeindegebiet (vgl. §§ 2 Abs. 2 und 11a Abs. 1 der Luzerner Gewässerschutzverordnung vom 23. September 1997 [KGSchV; SRL 703], wonach der Kanton die erforderliche Breite des Gewässerraums ermittelt, dessen verbindliche Festlegung aber durch die Gemeinden im Verfahren der Nutzungsplanung erfolgt). Dabei liegt der Fokus auf dem Land entlang der Gewässer und nicht auf dem Siedlungs- oder Baugebiet als Ganzem (so zutreffend Merkblatt, S. 4).
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Wie die Beispiele im Erläuternden Bericht zeigen, wollte der Verordnungsgeber eine Anpassung des Gewässerraums bzw. Ausnahmebewilligungen vor allem in dicht überbauten städtischen Quartieren und Dorfzentren zulassen, die (wie Basel und Zürich) von Flüssen durchquert werden. In solchen Gebieten sollen die raumplanerisch erwünschte städtebauliche Verdichtung und die Siedlungsentwicklung nach innen ermöglicht und Baulücken geschlossen werden können. Dagegen besteht in peripheren Gebieten, die an ein Fliessgewässer angrenzen, regelmässig kein überwiegendes Interesse an einer verdichteten Überbauung des Gewässerraums. Hier muss daher der minimale Raumbedarf des Gewässers gemäss Art. 41a Abs. 2 und Art. 41b Abs. 1 GSchV respektiert und von nicht standortgebundenen Anlagen freigehalten werden.
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Der Verordnungsgeber hat mit dem Begriff "dicht überbaut" zum Ausdruck gebracht, dass eine "weitgehende" Überbauung (wie in Art. 36 Abs. 3 RPG [SR 700]) nicht genügt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 36a GSchG als indirekter Gegenentwurf zur Volksinitiative "Lebendiges Gewässer" konzipiert wurde (vgl. oben E. 2.1). Der Rückzug der Initiative erfolgte nach Annahme des Gesetzes, aber vor Erlass der dazugehörigen Ausführungsbestimmungen. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des "dicht überbauten Gebiets", der Ausnahmen vom Grundsatz des Schutzes und der extensiven Nutzung des Gewässerraums gemäss Art. 36a GSchG erlaubt, restriktiv auszulegen.
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8. Die Gemeinde Dagmersellen zählt rund 5'000 Einwohner. Das Hauptsiedlungsgebiet befindet sich östlich der Bahnlinie. Die Wigger fliesst westlich der Bahnlinie und wird durch einen Grüngürtel vom Gemeindezentrum getrennt. Er wird im streitigen Bereich durchbrochen, durch das kleine Wohngebiet Sagenstrasse/Birkenweg (W2) und die daran angrenzenden überbauten Parzellen der Wohn- und Gewerbezone. Das östliche Ufer der Wigger ist lediglich auf einer Länge von rund hundert Metern, auf vier Parzellen, überbaut (darunter die Bauparzellen d und c und die Parzelle f der Beschwerdeführerin). Mit Blick auf das gesamte Gemeindegebiet handelt es sich um ein peripher gelegenes Gebiet, das nicht als "dicht überbaut" bezeichnet werden kann.
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8.2 Die Parzellen des Beschwerdegegners (...), die gemeinsam überbaut werden sollen, ergeben zusammen eine relativ grosse Fläche. Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sie auch unter Respektierung des Gewässerraums baulich sinnvoll genutzt werden können. Jedenfalls geniessen die bestehenden Bauten, auch soweit sie in den Gewässerraum hineinragen, Bestandesschutz (Art. 41c Abs. 2 GSchV). Die noch nicht überbaute Parzelle Nr. e liegt ausserhalb des übergangsrechtlichen Gewässerraums; dieser steht daher der Schliessung dieser Baulücke nicht entgegen. Insofern bedeutet die Verweigerung der Ausnahmebewilligung keine unzumutbare Einschränkung der Eigentumsfreiheit.
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