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16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Amt für Migration und Personenstand des Kantons Bern und Kantonales Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_447/2019 vom 31. März 2020 | |
Regeste |
Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtline); Art. 81 Abs. 2 AIG (Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 2018 [Verfahrensregelungen und Informationssysteme], in Kraft seit 1. Juni 2019). Haftbedingungen für ausländerrechtlich festgehaltene Personen. |
Der nicht anders zu bewältigende Grund für die Unterbringung in einer separaten Abteilung eines normalen Gefängnisses und nicht in einer speziellen Einrichtung (Ausschaffungsgefängnis) ist in der Haftverfügung eingehend zu begründen (E. 8). |
Das Bundesgericht bejaht im konkreten Fall das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Festhaltung des Betroffenen in einer abgetrennten Abteilung des Regionalgefängnisses Bern (E. 7). | |
Sachverhalt | |
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B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess am 12. Juli 2019 die von X. gegen den Entscheid des kantonalen Zwangsmassnahmengerichts eingereichte Beschwerde teilweise gut. Es stellte fest, dass der Vollzug der Ausschaffungshaft vom 21. bis zum 27. Juni 2019 im Regionalgefängnis Bern unrechtmässig erfolgt war, da er in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen in Untersuchungshaft bzw. im Strafvollzug in einer gemeinsamen Zelle untergebracht worden war. Anders verhalte es sich für die Haft vom 17. bis zum 20. Juni 2019: In dieser Zeit sei X. im Trakt für Administrativhaft des Regionalgefängnisses Bern gesondert von Personen in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug festgehalten worden; es entspreche dem Willen des Gesetzgebers den Kantonen zu ermöglichen, den Vollzug der Ausschaffungshaft ausnahmsweise in separat geführten Abteilungen von Strafvollzugseinrichtungen vollziehen zu können. (...)
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C. X. beantragt vor Bundesgericht, "in Ergänzung von Ziff. 1 des Dispositivs des angefochtenen Urteils [...] festzustellen, dass der Vollzug [seiner] Ausschaffungshaft [...] im Regionalgefängnis Bern vom 18. Juni bis zum 27. Juni 2019 und nicht nur vom 21. Juni 2019 bis zum 27. Juni 2019 rechtswidrig" gewesen sei. Die Auslegung des Verwaltungsgerichts sei mit dem übergeordneten, von der Schweiz übernommenen Schengen-Besitzstand unvereinbar. Der Administrativtrakt des Regionalgefängnisses Bern sei keine spezielle Hafteinrichtung, die ausschliesslich dem Vollzug der Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft diene.
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(...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Art. 81 Abs. 2 AIG (bis zum 1. Januar 2019: AuG; SR 142.20) sah ursprünglich vor, dass die ausländerrechtlich begründete Administrativhaft "in geeigneten Räumlichkeiten" zu vollziehen war (Fassung ![]() ![]() | 7 |
2.2 Dabei habe aber - so das Bundesgericht weiter - der Anspruch der ausländerrechtlich festgehaltenen Person auf soziale Kontakte gewahrt zu bleiben: Es müssten nicht nur hinreichende Besuche durch auswärtige Personen erlaubt sein, sondern auch soziale Kontakte mit anderen ausländerrechtlich festgehaltenen Personen ermöglicht werden, was die regelmässige - aber nicht unbedingt dauernde - Benützung eines Gemeinschaftsraums oder gemeinschaftliche Aktivitäten (Sport im Gefängnishof, weitere Tätigkeiten in anderen Räumen usw.) über den obligatorischen einstündigen Spaziergang hinaus erforderlich mache (BGE 122 II 299 E. 5a S. 308). Aufgrund des Haftzwecks gelte bei der Administrativhaft ein freieres Haftregime als bei anderen Häftlingskategorien. Die entsprechenden Rechte dürften jeweils nur soweit beschränkt werden, als sich dies zur Gewährleistung des Haftzwecks und zur Aufrechterhaltung des ordnungsgemässen Anstaltsbetriebs als nötig erweise (BGE 122 II 299 E. 3b; Urteil 2A.545/2001 vom 4. Januar 2002 E. 3 [Regionalgefängnis Bern]). Die Trenung der Administrativhäftlinge von anderen Gefangenen solle auch ![]() ![]() | 8 |
2.3 Je länger die Festhaltung dauert, desto weniger einschneidend dürfen nach der Praxis die Freiheitsbeschränkungen für administrativ festgehaltene Drittstaatsangehörige sein: Bei einer lediglich kurzen Festhaltung - etwa zur Vorführung für die Haftprüfungsverhandlung - könnten zeitlich so kurz wie möglich weitergehendere Restriktionen hingenommen werden als bei einer absehbar länger dauernden administrativen Festhaltung (BGE 122 II 299 E. 3b S. 303; Urteile 2C_169/2008 vom 18. März 2008 E. 4.5 [Flughafengefängnis Zürich] und 2C_661/2007 vom 17. Dezember 2007 E. 2.2.1 in fine [Regionalgefängnis Bern]; vgl. zu den Haftbedingungen: ANDREAS ZÜND, in: Migrationsrecht, Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], 5. Aufl. 2019, N. 3 zu Art. 81 AIG; CARONI/SCHEIBER/PREISIG/ZOETEWEIJ, Migrationsrecht, 4. Aufl. 2018, S. 292 ff.; BAHAR IREM CATAK KANBER, Die ausländerrechtliche Administrativhaft, 2017, S. 253 ff.; CHATTON/MERZ, IN: Code annoté de droit des migrations, Bd. II: Loi sur les étrangers, Nguyen/Amarelle [Hrsg.], 2017, N. 14 ff. zu Art. 81 AuG; MARTIN BUSINGER, Ausländerrechtliche Haft, Die Haft nach Art. 75 ff. AuG, 2015, S. 300 ff.; TARKAN GÖKSU, IN: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Caroni/Gächter/Thurnherr [Hrsg.], 2010, N. 10 ff. zu Art. 81 AuG; THOMAS HUGI YAR, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Aufl. 2009, N. 10.129 ff.).
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Erwägung 3 | |
3.1 Die Schweiz ist 2018 bezüglich ihrer Haftpraxis und den Haftbedingungen durch die EU evaluiert worden: Im Rahmen der Empfehlungen vom 14. Mai 2019 zur Beseitigung der 2018 bei der Evaluierung der Anwendung des Schengen-Besitzstands im Bereich der Rückkehr/Rückführung festgestellten Mängel legte der Rat der Europäischen Union der Schweiz insbesondere nahe, ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Inhaftierung von illegal anwesenden Drittstaatsausländern zu ändern sowie "unverzüglich Massnahmen" zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Abschiebehaft - wie in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 vorgeschrieben - grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgt und die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten nur im Ausnahmefall zur Anwendung kommt (vgl. den Durchführungsbeschluss des Rates vom 14. Mai ![]() ![]() | 10 |
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2 Die Haft ist in Haftanstalten zu vollziehen, die ausschliesslich dem Vollzug der Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft dienen. Soweit dies aus Kapazitätsgründen nicht möglich ist, sind die inhaftierten Ausländerinnen und Ausländer gesondert von Personen in Untersuchungshaft oder im Strafvollzug unterzubringen.
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Art. 81 Abs. 2 AIG wurde in den parlamentarischen Beratungen umformuliert und lautet heute wie folgt (Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 2018 [Verfahrensregelungen und Informationssysteme], in Kraft seit 1. Juni 2019 [AS 2019 1413 ff., 1417; BBl 2018 1685 ff., 1738]):
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2 Die Haft ist in Hafteinrichtungen zu vollziehen, die dem Vollzug der Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft dienen. Ist dies insbesondere aus Kapazitätsgründen in Ausnahmefällen nicht möglich, so ![]() ![]() | 14 |
Erwägung 3.3 | |
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Erwägung 4 | |
4.1 Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d.h. nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als ![]() ![]() | 17 |
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4.2.3 Das Bundesgericht beachtet die Rechtsprechung des EuGH auslegungsweise, zumal die Rechtsübernahme im Rahmen des Schengenabkommens "dynamisch" erfolgt. Es tut dies im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung durch die verschiedenen Mitgliedsstaaten, zur Durchsetzung des Grundsatzes der Parallelität der Rechtsordnungen in den schengenrelevanten Bereichen sowie zur Erfüllung der völkerrechtlich übernommenen Verpflichtungen der Schweiz (vgl. Art. 2 Abs. 3 SAA und Art. 31 Abs. 1 des Wiener Abkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge [SR 0.111]). Die nationale Umsetzungsgesetzgebung in Art. 81 Abs. 2 AIG erfolgte, um die Festhaltebedingungen an die schengenrechtlichen Vorgaben anzupassen ![]() ![]() | 21 |
Erwägung 4.3 | |
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5.1 Im Urteil Bero/Bouzalmate vom 17. Juli 2014 (C-473/13 und C-514/13) hielt er fest, dass Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der ![]() ![]() | 25 |
Erwägung 5.2 | |
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5.3 Die Nutzung spezieller Einrichtungen ist die Regel. Die Ausnahmebestimmung, wonach eine Unterbringung - bei Trennung der festgehaltenen Drittstaatsangehörigen von den anderen Insassen - auch ![]() ![]() | 29 |
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Erwägung 6 | |
6.1 Der Bundesrat wies in seiner Botschaft zur Neuformulierung von Art. 81 Abs. 2 AIG darauf hin, dass die Rückführungsrichtlinie sowie die einschlägige Rechtsprechung des EuGH eine spezifische Haftinfrastruktur für die Ausschaffungshaft voraussetzten; bezweckt sei eine "echte" Trennung zwischen Personen in Administrativhaft ![]() ![]() | 31 |
Erwägung 6.2 | |
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6.2.2 Ausgangspunkt der Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung, wie sie inzwischen in Kraft steht. Dabei ist es erforderlich und möglich, den geltenden Art. 81 Abs. 2 AIG europa- und richtlinienkonform auszulegen (vgl. vorstehende E. 4.2): Die Zulässigkeit einer separaten Festhaltung in einem besonderen Trakt eines Regionalgefängnisses kann nur im Bereich weniger Stunden oder Tage liegen; im Übrigen hat die Festhaltung in speziell hierfür konzipierten Einrichtungen zu erfolgen, deren Haftbedingungen und baulichen Elemente generell unterstreichen, dass die Festhaltung administrativer Natur ist und in keinem Zusammenhang mit einem Strafvollzug oder einer Untersuchungshaft steht. Es wird damit betont, dass es sich um eine eng auszulegende Ausnahmeregel vom Grundsatz der getrennten Unterbringung in speziellen, hierfür konzipierten und für freiere Festhaltungsbedingungen geeigneteren Gebäuden handelt, die auch äusserlich erkennen lassen, dass es sich um ![]() ![]() | 33 |
Erwägung 7 | |
7.1 Im konkreten Fall wurde der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 81 Abs. 2 Satz 2 AIG bzw. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie festgehalten; der eigenständige Trakt im Regionalgefängnis Bern kann nicht als spezielle Anstalt im Sinn von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie gelten (vgl. die einschlägige Kritik der Haftbedingungen für Auszuschaffende im Regionalgefängnis Bern, in: NATIONALE KOMMISSION ZUR VERHÜTUNG VON FOLTER NKVF, Bericht an den Regierungsrat des Kantons Bern betreffend den Nachfolgebesuch der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter im Regionalgefängnis Bern vom 29. Januar und 28. Februar 2019, N. 18 und 30 sowie III. Zusammenfassung). Dennoch haben die Berner Behörden Art. 81 Abs. 2 Satz 1 AIG für die Periode vom 17. bis zum 20. Juni 2019 - gestützt auf die spezifischen Umstände der konkreten Situation im vorliegenden Fall - nicht verletzt: Der Beschwerdeführer hat sich während vier Tagen im Trakt für Administrativinhaftierte des Regionalgefängnisses Bern im Hinblick darauf befunden, dass er gemäss den Vorbereitungen und der Flugreservation innert 96 Stunden ausgeschafft werden sollte; die Behörden befürchteten, dass er sich ihnen hierfür nicht zur Verfügung halten würde. Eine Unterbringung in Moutier hätte den geplanten Ablauf der Ausschaffung übermässig erschwert. Es bestand deshalb vorübergehend ein wesentlicher Grund, den Beschwerdeführer in einer abgetrennten Zone einer normalen, zentral gelegenen Justizvollzugsanstalt unterzubringen (vgl. vorstehend E. 5.4). Anders verhielt es sich nach seiner Rückversetzung in die Festhaltung ab dem 21. Juni 2019; in dieser Zeit hätte er in einer spezialisierten, allenfalls auch entfernter gelegenen Einrichtung im Kanton Bern oder andernorts in ![]() ![]() | 34 |
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8. Zusammengefasst ergibt sich: Im Grundsatz hat die ausländerrechtliche Festhaltung in speziellen Vollzugsanstalten zu erfolgen; diese müssen über genügend Plätze verfügen (Art. 16 Abs. 1 Richtlinie 2008/115; Art. 81 Abs. 2 Satz 1 AIG). In begründeten Ausnahmefällen kann die Haft in ordentlichen Haftanstalten vollzogen werden, wenn die Trennung von den anderen Häftlingen - etwa durch eine eigenständige Abteilung - sichergestellt bleibt und ein administrativ anderweitig nicht bewältigbarer wichtiger Grund für dieses Vorgehen spricht (vgl. vorstehende E. 5.4; hier: kurzfristige Verbringung zum Flughafen). Der Grund für die Unterbringung in einer separaten Abteilung eines normalen Gefängnisses und nicht in einer speziellen Einrichtung - wie von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie als Regel vorausgesetzt - ist in der Haftverfügung sachgerecht zu begründen, damit der Haftrichter die angegebenen Gründe im Hinblick auf die Zulässigkeit der Haft und der nach Art. 16 der Rückführungsrichtlinie erforderlichen Haftbedingungen überprüfen kann (vgl. Art. 80 Abs. 4 AIG). Die wichtigen Gründe und die konkreten Abklärungen bezüglich der Unterbringung der ausreisepflichtigen Person sind in der Haftverfügung nachvollziehbar darzutun und zu belegen (hier: im Einzelfall kurzfristig organisierte Ausreise ![]() ![]() ![]() | 36 |
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