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4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatssekretariat für Migration gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_108/2020 vom 10. Juli 2020 | |
Regeste |
Art. 4 Anhang I FZA; Art. 2 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70; Verbleiberecht des Wanderarbeitnehmers (Auslegung des Begriffs der "dauernden Arbeitsunfähigkeit"). | |
Sachverhalt | |
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Seit einem Arbeitsunfall im Juli 2011 geht A. keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Weil die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt eine Leistungsverpflichtung zunächst verneinte, musste er von August 2012 bis Ende Januar 2015 (mit Unterbrüchen) von der Sozialhilfe unterstützt werden. Im Frühjahr bzw. Sommer 2015 sprach die IV-Stelle der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich A. Taggelder für eine berufliche Wiedereingliederungsmassnahme zu und erteilte ihm Kostengutsprache für die unter diesem Titel begonnene einjährige Handelsausbildung zum Bürofachdiplom VSH. Das Migrationsamt des Kantons Zürich (nachfolgend: Migrationsamt) verlängerte die Aufenthaltsbewilligung von A. im August 2015 deshalb nochmals um vier Monate. Mitte Januar 2016 brach A. die Umschulung aus gesundheitlichen Gründen ab. Ab Februar 2016 beanspruchte er wieder Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hand.
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B. Mit Verfügung vom 22. Juli 2016 verweigerte das Migrationsamt die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von A. und forderte ihn auf, die Schweiz bis zum 5. September 2016 zu verlassen.
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Während des daraufhin angehobenen Rechtsmittelverfahrens teilte die Schweizerische Ausgleichskasse mit, A. habe - ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 54 % - mit Wirkung ab dem 1. November 2018 Anspruch auf Ausrichtung einer halben Invalidenrente (Mitteilung vom 17. Oktober 2018). Die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich wies das Rechtsmittel von A. in der Folge ab (Entscheid vom 29. März 2019), während das Verwaltungsgericht des Kantons Zürichs ![]() ![]() | 4 |
C. Mit Eingabe vom 30. Januar 2020 gelangt das Staatssekretariat für Migration (SEM) ans Bundesgericht und erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Es ersucht um Aufhebung des Urteils vom 11. Dezember 2019.
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D. A. beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Migrationsamt, die Sicherheitsdirektion und das Verwaltungsgericht verzichten auf inhaltliche Stellungnahme.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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4.1 Die Vorinstanz bejahte diese Frage. Sie erwog, gemäss dem klaren Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 knüpfe der Verbleibeanspruch nach Art. 4 Anhang I FZA nicht an den Invaliditätsgrad der betroffenen ausländischen Person an, sondern setze "dauernde Arbeitsunfähigkeit" voraus. Darüber, wann eine Person als "dauernd arbeitsunfähig" zu gelten habe, schwiegen sich indessen sowohl die Verordnung wie auch das Abkommen aus. Im Urteil 2C_1102/2013 vom 8. Juli 2014 habe das ![]() ![]() | 12 |
Ein Teil der Lehre (vgl. namentlich MARC SPESCHA, in: Migrationsrecht, Kommentar, Spescha/Zünd/Bolzli/Hruschka/de Weck [Hrsg.], 5. Aufl. 2019, N. 5 zu Art. 4 Anhang I FZA; SPESCHA/KERLAND/BOLZLI, Handbuch zum Migrationsrecht, 3. Aufl. 2015, S. 299) leite aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Bst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 ab, dass der freizügigkeitsrechtliche Verbleibeanspruch lediglich die Aufgabe der bisherigen Beschäftigung infolge Arbeitsunfähigkeit voraussetze, so dass irrelevant sei, ob und in welchem Umfang die betroffene Person - worauf es bei der Prüfung des Invaliditätsgrads ankomme - in einer angepassten Tätigkeit arbeitsfähig, d.h. - in der Terminologie des Sozialversicherungsrechts - erwerbsfähig wäre. Folge man dieser Ansicht, könne sich eine ausländische Person auch dann auf einen Verbleibeanspruch berufen, wenn ihr nach einem Unfall die vollständige Wiedereingliederung ins Erwerbsleben in einem anderen Beruf möglich und zumutbar wäre. Ob sich dieser Lehrmeinung in dieser Absolutheit beipflichten lasse, sei fraglich; die Frage brauche im vorliegenden Fall allerdings nicht beantwortet zu werden, weil A. nicht nur im Sinne der sozialversicherungsrechtlichen Terminologie in seinem angestammten Berufsfeld dauerhaft arbeitsunfähig sei, sondern auch in einer angepassten Tätigkeit zu 54 % in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei, womit er in diesem Umfang als erwerbsunfähig zu gelten habe. Es erscheine stossend und lasse sich nicht mit der sozialen Zielsetzung des Verbleiberechts vereinbaren, wenn von dem heute 57-Jährigen verlangt würde, er müsse die aus Sicht der Invalidenversicherung bestehende Restarbeitsfähigkeit von 46 % bzw. Teile davon künftig auch noch verwerten, um in der Schweiz verbleiben zu können, während umgekehrt von arbeitnehmenden EU-Staatsangehörigen lediglich verlangt werde, dass sie keiner völlig untergeordneten und unwesentlichen Erwerbstätigkeit nachgingen. A. erfülle daher die Voraussetzung der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" im Sinne des Freizügigkeitsrechts.
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4.3.3 Bezüglich Art. 17 Abs. 1 Bst. a der Freizügigkeitsrichtlinie (Parallelbestimmung zu Art. 2 Abs. 1 Bst. a der Verordnung [EWG]Nr. 1251/70) hat der EuGH in einem kürzlich ergangenen Entscheid ![]() ![]() | 19 |
Wenngleich dieses Begriffsverständnis des deutschen Gesetzgebers das Bundesgericht bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 nicht zu binden vermag, so ist es ![]() ![]() | 20 |
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Anders liegen die Dinge jedoch zum einen dann, wenn die verbleibende Restarbeitsfähigkeit keine beruflichen Aktivitäten mehr ermöglicht, die einer "qualitativ und quantitativ echten und tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit" gleichkommen (vgl. BGE 141 II 1 E. 2.2.4 S. 6; Urteil 2C_938/2018 vom 24. Juni 2019 E. 4.2.2). Zum anderen kann ein Anspruch auf Daueraufenthalt auch dann bestehen, wenn zwar hypothetisch die Möglichkeit einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit in einem alternativen Berufsfeld bestünde, der betroffenen Person die Aufnahme einer solchen Tätigkeit jedoch nicht (mehr) zugemutet werden kann. Zu berücksichtigen sind dabei neben dem Alter der betroffenen Person auch ihre Aussichten, auf dem konkreten Arbeitsmarkt noch einmal Fuss zu fassen. Ein allfälliger Rentenbescheid einer IV-Stelle ist in diesem Zusammenhang nicht von ausschlaggebender Bedeutung; der darin berechnete Invaliditätsgrad kann aber immerhin wertvolle Hinweise für die Frage der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" liefern (vgl. Urteil 2C_1102/2013 vom 8. Juli 2014 E. 4.4).
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4.3.5 In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass im Zeitpunkt des Entscheids über die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts ein "gewisses Vertrauen auf die Möglichkeit des ![]() ![]() | 23 |
Was das Argument des Beschwerdegegners angeht, der Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" müsse im Kontext des europäischen Sozialmodells interpretiert werden, ist darauf hinzuweisen, dass vorliegend nicht die sozialversicherungsrechtliche Definition des Invaliditätsbegriffs in Frage steht, sondern die Konturierung des freizügigkeitsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts. Für die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 nicht von Belang sind insofern die vom Beschwerdegegner angerufenen Begrifflichkeiten des schweizerischen Sozialversicherungsrechts (vgl. in diesem Sinne auch EPINEY, a.a.O., Rz. 9) bzw. des "europäischen Sozialmodells".
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Soweit der Beschwerdegegner schliesslich das Diskriminierungsverbot (Art. 2 FZA) anruft, ist zwar festzuhalten, dass das Verbleiberecht als wichtiger Bestandteil der Personenfreizügigkeit anzusehen ist, zumal es dem sozialen Bedürfnis der Wanderarbeitnehmer entspricht, nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im gewohnten Lebensumfeld verbleiben zu können; das Recht gilt jedoch nicht schrankenlos (vgl. BGE 146 II 89 E. 4.8 S. 94 mit Hinweis auf die Literatur).
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4.4 Damit steht fest, dass die Vorinstanz den Begriff der "dauernden Arbeitsunfähigkeit" gemäss Art. 2 Abs. 1 Bst. b Satz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 unzutreffend ausgelegt hat. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass A. nicht trotzdem gestützt auf diese Bestimmung ein Daueraufenthaltsrecht zukommen könnte. Nicht beantworten lässt sich aufgrund der vorinstanzlichen Feststellungen nämlich, ob ihm die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit in einem neuen Betätigungsfeld zugemutet werden kann; in diesem Zusammenhang darf durchaus auch berücksichtigt werden, inwiefern - auch angesichts der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit und der baldigen Pensionierung von A. - überhaupt Aussichten darauf bestehen, ![]() ![]() ![]() | 26 |
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