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12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung gegen A. AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_383/2020 vom 8. März 2021 |
Art. 42 Abs. 1 KG; Art. 6 VwVG; Unterscheidung zwischen den "von der Untersuchung Betroffenen" und "Dritten" mit Blick auf die Befragung aktueller und ehemaliger Organe eines untersuchungsbetroffenen Unternehmens. |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Aussageverweigerungsrecht eines ehemaligen Organs eines untersuchungsbetroffenen Unternehmens aufgrund von "nemo tenetur". | |
Sachverhalt | |
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B. Mit Verfügung vom 27. November 2018 luden die Wettbewerbsbehörden B. in seiner Rolle als ehemaliger CEO der C. AG für den 5. Dezember 2018 zu einer Zeugeneinvernahme vor. Einer allfälligen Beschwerde gegen die Vorladung wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Gegen diese Anordnung gelangte die A. AG mit Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht.
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Mit Urteil vom 6. März 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat; in der Urteilsbegründung hielt es jedoch fest, dass die Zeugenbefragung mit Blick auf den nemo-tenetur-Grundsatz nur zulässig sei, solange sie sich auf Angaben rein tatsächlicher Art beschränke, welche sich für die A. AG im Hinblick auf eine allfällige Sanktionierung nicht direkt belastend auswirken könnten.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 15. Mai 2020 gelangt das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. März 2020, soweit damit die Einvernahme von B. für die Zeit vor dem 27. September 2016 eingeschränkt worden sei; es sei den Wettbewerbsbehörden die uneingeschränkte Einvernahme B.s als Zeuge und ohne Einräumung aussergesetzlicher Zeugnisverweigerungsrechte zu gestatten. Eventualiter sei festzustellen, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. März 2020 die Zeugeneinvernahme von B. in der Untersuchung 22-0492 (Boykott Apple Pay) in keiner Weise verbindlich einschränke.
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Die A. AG beantragt Nichteintreten; eventualiter sei die Beschwerde abzuweisen. Das Bundesverwaltungsgericht verzichtet auf inhaltliche Stellungnahme. Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels halten die Verfahrensbeteiligten an ihren Anträgen fest.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. ![]() | 6 |
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Erwägung 4 | |
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4.3 Art. 42 Abs. 1 KG sieht - über das VwVG hinausgehend (vgl. Art. 12 lit. b VwVG) - vor, dass die Wettbewerbsbehörden die "von einer Untersuchung Betroffenen" zur Beweisaussage verpflichten können, wobei mit Blick auf den "nemo-tenetur-Grundsatz" (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; vgl. dazu E. 5.2.1 hiernach) im Kartellsanktionsverfahren regelmässig nur das vorgelagerte "einfache Parteiverhör" (Art. 42 Abs. 1 KG i.V.m. Art. 64 Abs. 1 Halbsatz 2 BZP [SR 273]) stattfindet (vgl. BICKEL/WYSSLING, in: KG, Kommentar zum Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen, Roger Zäch und andere [Hrsg.], 2018, N. 161 zu Art. 42 KG). Dritte sind nach Art. 42 Abs. 1 KG demgegenüber als Zeugen zu befragen (vgl. auch Art. 12 lit. c VwVG). Die in Art. 42 Abs. 1 KG getroffene ![]() ![]() | 9 |
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4.5 Ob eine Person als Zeugin zu befragen ist, oder aber ein Parteiverhör bzw. eine Beweisaussage anzuordnen ist, bestimmt sich damit (vgl. E. 4.4 hiervor) danach, ob die betreffende Person als Verfahrenspartei einzustufen ist. Diese Frage ist mangels anderslautender Bestimmung im KG nach Art. 6 VwVG zu beantworten: Als Parteien gelten demnach jene Personen, deren Rechte oder Pflichten die Verfügung berühren soll, und andere Personen, Organisationen oder Behörden, denen ein Rechtsmittel gegen die Verfügung zusteht (vgl. in diesem Zusammenhang Art. 48 VwVG). Eine Sanktionsverfügung nach Art. 49a KG berührt in erster Linie die Rechte und Pflichten jener Unternehmen (vgl. zum Unternehmensbegriff Art. 2 Abs. 1bis KG), die von der allfällig auszusprechenden Sanktion betroffen wären. Parteien sein können aber auch Dritte, die in einem besonders engen, spezifischen Verhältnis zum Verfügungsgegenstand stehen und deren Situation durch den Ausgang des ![]() ![]() | 11 |
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4.7.2 Die Rechtsauffassung der Vorinstanz ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die unterschiedliche Behandlung von Parteien und Dritten im Rahmen des Beweisverfahrens soll - ungeachtet der Frage allfälliger Aussageverweigerungsrechte (vgl. dazu E. 5 hiernach) - insbesondere verhindern, dass die befragte Person zur Zeugin in eigener Sache wird. Hat eine Person ihre Organstellung in einem Unternehmen verloren, verfügt sie entgegen den Andeutungen in der Beschwerdeantwort betreffend die allfällige Sanktionierung des ![]() ![]() | 15 |
Mit dem von der Vorinstanz angerufenen Novenrecht hat all dies allerdings nichts zu tun: Zwar trifft zu, dass sich die Zulässigkeit einer erst noch ausstehenden Zeugenbefragung danach beurteilt, ob die einzuvernehmende Person zum Zeitpunkt des anzunehmenden Befragungszeitpunkts voraussichtlich Organstellung haben wird; ebenfalls zutreffend ist, dass zur Beurteilung dieser Frage im bundesverwaltungsgerichtlichen Verfahren Noven berücksichtigt werden können (vgl. Art. 12 und Art. 32 Abs. 2 VwVG). Dies gilt jedoch auch dann, wenn die Einvernahme bereits stattgefunden hat, ihre Rechtmässigkeit vom Gericht mit anderen Worten ex post zu beurteilen ist; ein allfälliges Wiederaufleben der Organfunktion während des Beschwerdeverfahrens führt in diesem Sinne nicht zur Unzulässigkeit der Zeugeneinvernahme. Das Novenrecht verhält sich zur hier interessierenden Frage mit anderen Worten indifferent und kann nicht als Argument dafür herangezogen werden, dass ehemalige Organe als Zeugen zu befragen seien.
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5.2.1 Festzustellen ist diesbezüglich im Ausgangspunkt, dass das für sich genommen dem Verwaltungsrecht zuzuordnende kartellrechtliche Sanktionsverfahren (Art. 49a KG) vom Bundesgericht im Lichte der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entwickelten "Engel-Kriterien" in konstanter Rechtsprechung als strafrechtsähnlich bezeichnet wird; damit gelangen in diesem Verfahren unter anderem die Schutzgarantien von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ![]() ![]() | 21 |
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Von einem Strafverfahren betroffene natürliche Personen würden durch eine (strafbewehrte) Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage in das Dilemma geraten, sich entweder selbst einer Unrechtstat zu bezichtigen oder aber Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden. Dies ist bei juristischen Personen nicht der Fall: Solange den für das Unternehmen handelnden Organen nicht auch persönlich eine (strafrechtliche oder strafrechtsähnliche) Sanktionierung droht, können sie nicht in die beschriebene Zwangslage geraten (vgl. FLORIAN HENN, Strafrechtliche Verfahrensgarantien im europäischen Kartellrecht, Berlin 2018, S. 179). Für das Kartellsanktionsverfahren, in dem natürliche Personen nach Art. 49a KG grundsätzlich nicht sanktioniert werden können, bedeutet dies, dass der nemo-tenetur-Grundsatz nicht den mit der Menschenwürde verknüpften Schutz der Willensfreiheit der handelnden Organe, sondern einzig und allein die Gewährleistung eines effektiven Verteidigungsrechts der Untersuchungsbetroffenen bezweckt.
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5.2.3 Zutreffen mag, dass das je nach Anspruchsberechtigten divergierende telos des nemo-tenetur-Grundsatzes (vgl. E. 5.2.2 hiervor) die Geltung dieses Grundsatzes für juristische Personen nicht a priori ausschliesst oder einschränkt (vgl. CAROLE BECK, Enforcementverfahren der FINMA und Dissonanz zum nemo tenetur-Grundsatz, 2019, Rz. 700; CHRISTOPH DANNECKER, Der nemo tenetur-Grundsatz - prozessuale Fundierung und Geltung für juristische Personen, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft [ZStW] 127/2015 S. 371 ff., S. 379; FELLMANN/VETTERLI, "Nemo tenetur" light bei strafähnlichen Verwaltungssanktionen?, forumpoenale 1/2015 S. 43 ff., S. 45; ROMAN HUBER, Interne Untersuchungen und Anwaltsgeheimnis, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht [GesKR] 2019 S. 65 ff., ![]() ![]() | 24 |
Im Vordergrund steht vielmehr die Sicherstellung der Möglichkeit einer wirksamen Verteidigung für das untersuchungsbetroffene Unternehmen. Inwiefern diese Möglichkeit zu einer wirksamen Verteidigung dadurch beschnitten würde, dass ehemalige Organe aufgrund ihrer Pflicht zu wahrheitsgemässer Aussage belastende Aussagen treffen könnten, ist nicht ersichtlich: Die Aussagen der ehemaligen Organe können der Untersuchungsbetroffenen nicht zugerechnet werden; insofern sind die im Kartellsanktionsverfahren handelnden Organe bzw. ihre Rechtsvertreter frei darin, deren Aussagen in Frage zu stellen und sie gegebenenfalls zu widerlegen, ohne hierdurch widersprüchlich zu handeln (vgl. die entsprechende Zweckbegründung des nemo-tenetur-Grundsatzes bei NADINE QUECK, Die Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes zugunsten von Unternehmen, Berlin 2004, S. 218). Entgegen anderslautender Lehrmeinungen (vgl. u.a. THOMI/WOHLMANN, Der Täter als Zeuge im Kartellverfahren, Jusletter 13. Juni 2016 Rz. 14 ff.; DAVID MAMANE, Nemo Tenetur in kartellrechtlichen Sanktionsverfahren - Anmerkungen aus Sicht der Praxis, in: 8. Tagung zum Wettbewerbsrecht, Grundlegende Fragen, Hochreutener/Stoffel/Amstutz [Hrsg.], 2017, S. 71 ff., S. 82; ASTRID WASER, Verfahrensrechte der Parteien - neueste ![]() ![]() | 25 |
5.3 Wie das WBF im Übrigen zutreffend vorbringt, hätte es dem Gesetzgeber offengestanden, zum Schutz des Näheverhältnisses zwischen ehemaligen Organen und der untersuchungsbetroffenen Gesellschaft ein spezifisches Zeugnisverweigerungsrecht zu schaffen; ein derart begründetes Zeugnisverweigerungsrecht ist in den geltenden Verfahrensgesetzen jedoch nicht vorgesehen und kann sich auch nicht auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK abstützen (vgl. für das deutsche Strafrecht QUECK, a.a.O., S. 269 ff.). ![]() | 26 |
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