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91. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. November 1995 i.S. Siegfried Aktiengesellschaft gegen The Wellcome Foundation Ltd. (Berufung) | |
Regeste |
Materielle Rechtskraft eines Urteils über eine Patentverletzungsklage. |
Begriff der materiellen Rechtskraft; Bedeutung von Dispositiv und Urteilsbegründung - insbesondere von tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen - des rechtskräftigen Urteils (E. 4a). |
Anwendung der entsprechenden Grundsätze auf den patentrechtlichen Verletzungsprozess im allgemeinen (E. 4b) und auf den konkret beurteilten Fall (E. 5). | |
Sachverhalt | |
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Am 10. Februar 1976 reichte die Siegfried Aktiengesellschaft beim Handelsgericht des Kantons Bern gegen The Wellcome Foundation Ltd. Klage ein mit dem Antrag, es sei gerichtlich festzustellen, dass sie nicht in die Rechte aus dem schweizerischen Patent 507'266 der Beklagten eingreife, wenn sie den Arzneistoff Allopurinol nach einem von ihr entwickelten Verfahren in der Weise fabriziere, dass sie durch Reaktion des 2-Cyano-3-morpholino-acrylsäureäthylesters mit Hydrazinhydrat das 3-Amino-4-carbäthoxypyrazol herstelle und dieses durch Umsetzung mit Formamid in Allopurinol umwandle.
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Die Beklagte erhob Widerklage mit mehreren Rechtsbegehren. Mit Begehren Ziffer 2 verlangte sie insbesondere, es sei der Klägerin gerichtlich zu verbieten, Allopurinol (...) in der Weise herzustellen, dass ein (...) 3-Morpholino-2-cyano-acrylsäureamid oder 3-Morpholino-2-cyano-acrylsäureäthylester mit Hydrazin in ein (...) 3-Aminopyrazol-4-carbonsäureamid bzw. 3-Amino-pyrazol-4-carbonsäureäthylester oder in ein Salz einer dieser Verbindungen überführt und das erhaltene Zwischenprodukt in das (...) Allopurinol überführt werde, insbesondere durch Umsetzung mit Harnstoff oder mit Formamid und/oder Ameisensäure.
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Das Handelsgericht hiess mit Urteil vom 22. Mai 1979 die Klage gut und stellte fest, dass die Klägerin nicht in die Rechte aus dem Patent Nr. 507'266 der Beklagten eingreife, wenn sie den Arzneistoff Allopurinol nach einem von ihr entwickelten Verfahren in der Weise fabriziere, dass sie durch Reaktion des 2-Cyano-3-morpholino-acrylsäureäthylesters mit ![]() | 4 |
Eine Berufung der Beklagten wies das Bundesgericht am 27. März 1980 unter Bestätigung des Urteils des Handelsgerichts ab. Am 12. Juni 1989 wies das Bundesgericht zudem ein Revisionsgesuch der Beklagten ab. Diese hatte zur Begründung ihres auf Art. 137 lit. b OG (neue erhebliche Tatsache) gestützten Gesuches geltend gemacht, die Klägerin verwende bei der Herstellung von Allopurinol zusätzlich Ammoniak als Reagens.
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Am 30. Juni 1988 erhob The Wellcome Foundation Ltd. beim Obergericht des Kantons Basel-Landschaft Klage gegen die Siegfried Aktiengesellschaft mit den folgenden Rechtsbegehren:
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"1. Es sei festzustellen, dass die Beklagte das Schweizer Patent Nr. 507'266 der Klägerin verletzt, indem sie den Arzneistoff Allopurinol in der Weise fabriziert, dass sie durch Reaktion des 2-Cyano-3-morpholino-acrylsäureäthylesters mit Hydrazin das 3-Amino-4-carbäthoxypyrazol herstellt und dieses durch Umsetzung mit Ammoniak und Formamid in Allopurinol umwandelt.
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2. Es sei der Beklagten unter Androhung der Verzeigung ihrer zuständigen Organe an den Strafrichter wegen Verletzung von Art. 292 StGB für den Fall der Zuwiderhandlung zu untersagen, den Arzneistoff Allopurinol in der Weise zu fabrizieren, dass sie durch Reaktion des 2-Cyano-3-morpholino-acrylsäureäthylesters mit Hydrazin das 3-Amino-4-carbäthoxypyrazol herstellt und dieses durch Umsetzung mit Ammoniak und Formamid in Allopurinol umwandelt."
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Die Klägerin verlangte darüber hinaus, die Beklagte zur Gewinnherausgabe zu verpflichten und sie zu ermächtigen, das Urteil auf Kosten der Beklagten in bestimmten Zeitschriften zu veröffentlichen.
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Auf Antrag der Beklagten beschränkte das Obergericht das Verfahren vorläufig auf die Beurteilung der von ihr erhobenen Einrede der abgeurteilten Sache, welche es mit Urteil vom 27. September 1994 abwies. Die Beklagte hat dieses Urteil mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die materielle Rechtskraft, das heisst die Verbindlichkeit eines Urteils für spätere Prozesse, eine Frage des Bundesrechts, sofern der zu beurteilende Anspruch ![]() | 11 |
4. a) Eine abgeurteilte Sache liegt vor, wenn der streitige Anspruch mit einem schon rechtskräftig beurteilten identisch ist. Dies trifft zu, falls der Anspruch dem Richter aus demselben Rechtsgrund und gestützt auf denselben Sachverhalt erneut zur Beurteilung unterbreitet wird (BGE 119 II 89 E. 2a S. 90). In anspruchsbezogene materielle Rechtskraft erwächst demzufolge allein das Sachurteil. Ein solches ist nur gegeben, wenn und soweit das Gericht die Sachverhaltsvorbringen der Parteien materiellrechtlich würdigt, das heisst den geltend gemachten Anspruch ![]() | 12 |
Die Rechtskraftwirkung tritt folgerichtig nur soweit ein, als über den geltend gemachten Anspruch entschieden worden ist. Inwieweit dies der Fall ist, ergibt die Auslegung des Urteils, zu welcher dessen ganzer Inhalt heranzuziehen ist. Zwar erwächst der Entscheid nur in jener Form in Rechtskraft, wie er im Urteilsdispositiv zum Ausdruck kommt, doch ergibt sich dessen Tragweite vielfach erst aus einem Beizug der Urteilserwägungen, namentlich im Falle einer Klageabweisung (vgl. BGE 115 II 187 E. 3b S. 191; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., N 12c/aa zu Art. 192 ZPO).
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Nicht zur Urteilsformel gehören die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Erwägungen des Entscheids. Sie haben in einer anderen Streitsache keine bindende Wirkung (LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., N 12c/aa zu Art. 192 ZPO). Gleiches gilt für Feststellungen zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen oder sonstigen Vorfragen sowie für weitere Rechtsfolgen, die sich aus dem Inhalt des Urteils mit logischer Notwendigkeit ergeben. Sie sind bloss Glieder des Subsumtionsschlusses, die für sich allein nicht in materielle Rechtskraft erwachsen (ROSENBERG/SCHWAB, Zivilprozessrecht, 15. Auflage, S. 922 ff.).
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Die materielle Rechtskraft der Entscheidung wird objektiv begrenzt durch den Streitgegenstand. Der Subsumtionsschluss entfaltet die Ausschlusswirkung nur gegenüber dem mit dem bereits beurteilten identischen Anspruch. Der Begriff der Anspruchsidentität ist nicht grammatikalisch, sondern inhaltlich zu verstehen. Er wird durch die mit dem Begehren des abgeschlossenen Verfahrens insgesamt erfassten und beurteilten Rechtsbehauptungen bestimmt. Der neue Anspruch ist deshalb trotz abweichender Umschreibung vom beurteilten nicht verschieden, wenn er in diesem bereits enthalten war, wenn bloss das kontradiktorische Gegenteil zur Beurteilung unterbreitet wird oder wenn die im ersten Prozess beurteilte Hauptfrage für Vorfragen des zweiten Prozesses von präjudizieller Bedeutung ist (vgl. VOGEL, a.a.O., S. 213 ff. Rz. 66 ff.; ROSENBERG/SCHWAB, a.a.O., S. 926 ff.; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, a.a.O., N 12c/cc zu Art. 192 ZPO). Anderseits sind Rechtsbehauptungen trotz gleichen Wortlauts dann nicht identisch, wenn sie nicht auf dem gleichen Entstehungsgrund, das heisst auf denselben Tatsachen und rechtlichen Umständen beruhen (BGE 97 II 390 E. 4 S. 396).
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c) Das Schicksal der Einrede der abgeurteilten Sache hängt damit allein von der Beantwortung der Frage ab, ob das mit der Klage angegriffene Verfahren der Beklagten zur Herstellung von Allopurinol bereits in einem Sachurteil auf seine Verträglichkeit mit dem Schutzbereich des Patents Nr. 507'266 überprüft worden ist.
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5. a) Massgebend für den Inhalt der früheren Streitentscheidung ist das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 22. Mai 1979. Dieses ist zwar durch den Berufungsentscheid des Bundesgerichts vom 27. März 1980 ![]() | 18 |
Ohne Einfluss bleibt in diesem Zusammenhang der Entscheid des Bundesgerichts vom 12. Juni 1989 über das Revisionsgesuch der Klägerin. Mit dessen Abweisung hat das Bundesgericht kein neues Sachurteil gefällt, sondern lediglich eine Aufhebung seines Entscheids vom 27. März 1980 abgelehnt (vgl. POUDRET, COJ, N 1 zu Art. 144 OG). Anspruchsbezogene Rechtskraftwirkung entfaltet der Revisionsentscheid nicht. Daran ändert nichts, dass die Klägerin dem Bundesgericht damals den Antrag gestellt hat, den Sachentscheid aufgrund ihrer Behauptung zu revidieren, dass die Beklagte zusätzlich zu den im Verfahren erwähnten Substanzen bei der Herstellung von Allopurinol Ammoniak als Reagens verwende. Einerseits hielt das Bundesgericht diese Tatsache nicht für neu, anderseits nicht für ein Tatbestandsmerkmal des geltend gemachten Verletzungsanspruchs. Damit war das Schicksal des Revisionsgesuchs besiegelt, und die - an sich überflüssige - Zusatzerwägung, der Vorwurf der Patentverletzung scheitere ohnehin bereits an Unterschieden in der ersten Stufe des Herstellungsverfahrens, erweiterte die materielle Rechtskraftwirkung des früheren Sachentscheids nicht.
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b) In Ziffer 1 der Erwägungen seines Urteils vom 22. Mai 1979 hat das Handelsgericht des Kantons Bern festgestellt, die Umsetzung des von der Beklagten verwendeten Ausgangsstoffes (S-I) mittels Hydrazin in ein Zwischenprodukt (S-II) und dessen Umwandlung in Allopurinol durch Umsetzung mit Formamid verletze die Rechte der Klägerin aus deren Patent Nr. 507'266 nicht. Damit wurde nicht darüber befunden, ob eine Patentverletzung auch dann zu verneinen wäre, wenn zusätzlich Ammoniak als Reagens verwendet würde. Zwar mag richtig sein, dass sich diese Schlussfolgerung aus den Feststellungen des Handelsgerichts aufdrängt, doch ist entscheidend, dass sie im Urteilsspruch keinen Niederschlag gefunden hat. Selbst logisch zwingende Deduktionen aus den Erwägungen des Gerichts bleiben, wenn sie in der Urteilsformel nicht zum Ausdruck kommen, bestenfalls hypothetische ![]() | 20 |
c) Damit bleibt zu prüfen, ob das Handelsgericht den heute streitigen Anspruch bereits mit dem Entscheid über die Widerklage materiell beurteilt hat.
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aa) Mit der Unterlassungs-Widerklage (Widerklagebegehren Ziffer 2) sollte der Beklagten (= Siegfried Aktiengesellschaft) Herstellung und Vertrieb von Allopurinol verboten werden, welches durch die Umwandlung eines Ausgangsstoffes (S-I) in ein Zwischenprodukt (S-II) und die Überführung dieses Zwischenproduktes in Allopurinol insbesondere durch Umsetzung mit Harnstoff oder mit Formamid und/oder Ameisensäure fabriziert wird. Das Handelsgericht hat das Begehren mit der Begründung abgewiesen, das von der Beklagten angewendete Verfahren, wie es in den Akten definiert sei, weise nicht alle Merkmale und auch nicht alle wesentlichen Merkmale des Verfahrens nach dem Streitpatent auf; zudem seien die Unterschiede der jeweiligen ersten Stufe der beiden Verfahren wesentlich, weshalb keine Patentverletzung vorliege. Die Beklagte versteht diese Abweisung im Ergebnis so, dass angesichts des im Rechtsbegehren verwendeten Wortes "insbesondere" sämtliche Umwandlungen ihres Zwischenprodukts (S-II) in Allopurinol als nicht patentverletzend beurteilt worden seien, also auch die Umsetzung unter Verwendung von Ammoniak.
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Richtig - und den Ausführungen der Beklagten insoweit zuzustimmen - ist, dass das Handelsgericht eine Patentverletzung im wesentlichen mit den zwei folgenden Begründungen verneint hat. Zum einen liege die geschützte Erfindung des patentgemässen Verfahrens hauptsächlich in der Verwendung des Ausgangsstoffes (W-I), welchen die Beklagte jedoch nicht benütze. Zum andern werde die Umsetzung des jeweiligen Ausgangsstoffes über ein Zwischenprodukt in Allopurinol von den Parteien unterschiedlich durchgeführt; von der Beklagten aufgrund einer eigenen, von jener des Streitpatents unabhängigen Erfindung, so dass sie insoweit nicht in dessen Schutzbereich eingreife. Daraus lässt sich zwar ableiten, dass das Handelsgericht auch die Verwendung von Ammoniak als nicht patentverletzend erachtet hätte. Dies ist indessen unter dem hier massgebenden Gesichtspunkt unerheblich. Entscheidend ist vielmehr der Umstand, dass es eine solche Feststellung nicht getroffen und mit der Abweisung der Widerklage auch nicht zum Ausdruck gebracht hat. Aus seinem Urteil geht mit keinem Wort hervor, dass sich das Handelsgericht zur Verwendung von Ammoniak als ![]() | 23 |
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