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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: | |||
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3. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Januar 1997 i.S. Erben E. gegen M. (Berufung) | |
Regeste |
Art. 107 OR. Wahlrecht des Gläubigers bei Verzug des Schuldners. |
Bedeutung der Wahlmöglichkeiten des Gläubigers bei Verzug des Schuldners. Auslegung der Wahlerklärung. Unwiderruflichkeit der getroffenen Wahl (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Im März 1991 klagten die Erben E. beim Appellationshof des Kantons Bern ihre Kaufpreisforderung sowie eine Forderung aus von ihnen anstelle von M. bezahlten Mietzinsen für die Praxisräumlichkeiten ein. Der Appellationshof verpflichtete M. mit Urteil vom 7. Juli 1992, den Erben E. Fr. 70'000.-- sowie Fr. 6'464.-- zu bezahlen, beides nebst Zins. Auf Berufung bestätigte das Bundesgericht dieses Urteil, wobei es in seinem Entscheid vom 20. April 1993 in Übereinstimmung mit der Vorinstanz insbesondere den Einwand verwarf, der sämtliche Krankengeschichten der Patientinnen umfassende Kaufvertrag der Parteien weise einen widerrechtlichen Inhalt auf und sei daher gemäss Art. 20 Abs. 1 OR nichtig (BGE 119 II 222 ff.).
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Im Anschluss an diesen Bundesgerichtsentscheid ergaben sich weitere Meinungsverschiedenheiten über die Vertragserfüllung. M. erhob Anspruch auf alle Unterlagen über die Patientinnen. Die Erben E. vertraten demgegenüber die Ansicht, nur die Namen und die Adressen seien geschuldet. Nach längerem Hin und Her verzichtete M. mit Schreiben vom 26. November 1993 auf die Leistung der Verkäufer und behielt sich die Geltendmachung von Schadenersatz vor. Die Erben E. setzten in der Folge den vom Bundesgericht zugesprochenen Betrag in Betreibung. Nachdem sie definitive Rechtsöffnung erlangt hatten, bezahlte ihnen M. mit Vergütungsaufträgen vom 21. April 1994 und vom 7. Juni 1994 den Betrag von Fr. 85'913.--. M. verlangte daraufhin erneut die bedingungslose ![]() | 3 |
B.- Am 13. April 1995 klagte M. beim Appellationshof des Kantons Bern gegen die Erben E. auf Rückzahlung des Betrages von Fr. 85'913.-- und auf Schadenersatz in der Höhe von Fr. 4'898.--. Mit Urteil vom 13. März 1996 schützte der Appellationshof diese Begehren.
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C.- Das Bundesgericht heisst die Berufung der Beklagten teilweise gut, hebt das Urteil des Appellationshofs auf und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Eine abgeurteilte Sache liegt vor, wenn der streitige Anspruch mit einem schon rechtskräftig beurteilten identisch ist. Dies trifft zu, falls der Anspruch dem Richter aus demselben Rechtsgrund und gestützt auf denselben Sachverhalt erneut zur Beurteilung unterbreitet wird. In anspruchsbezogene materielle Rechtskraft erwächst demzufolge allein das Sachurteil. Ein solches liegt nur vor, wenn und soweit das Gericht die Sachverhaltsvorbringen der Parteien materiellrechtlich würdigt, das heisst den geltend gemachten Anspruch inhaltlich beurteilt. Die Rechtskraftwirkung tritt nur soweit ein, als über den geltend gemachten Anspruch entschieden worden ist. Zwar erwächst der Entscheid nur in jener Form in Rechtskraft, wie er im Urteilsdispositiv zum Ausdruck kommt, doch ergibt sich dessen Tragweite vielfach erst aus den Urteilserwägungen. Im übrigen ![]() | 7 |
b) Bei einem zweiseitigen Vertrag muss, wer den andern zur Erfüllung anhalten will, nach Art. 82 OR entweder selbst bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, er habe nach dem Inhalt oder der Natur des Vertrages erst später zu erfüllen. Nach herrschender Lehre (WEBER, Berner Kommentar, N. 199 zu Art. 82 OR; SCHRANER, Zürcher Kommentar, N. 7 zu Art. 82 OR; LEU, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, N. 1 und 12 f. zu Art. 82 OR; VON TUHR/ESCHER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, 3. Aufl. 1974, S. 60 f.; GAUCH/
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SCHLUEP, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1995, Bd. II, N. 2229) und Rechtsprechung (Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 1985, publiziert in SJ 1986, S. 382; vgl. auch BGE 111 II 463 E. 3 S. 466; ebenso bereits BGE 76 II 298 E. 3 S. 299; BGE 79 II 277 E. 2 S. 279) gibt diese Bestimmung dem Schuldner eine aufschiebende Einrede mit der Wirkung, dass er die geforderte Leistung bis zur Erbringung oder Anbietung der Gegenleistung zurückhalten darf. Der Gläubiger kann sich demnach damit begnügen, auf vorbehaltlose Leistung zu klagen; es obliegt dem Schuldner, die Einrede zu erheben (BGE 111 II 463 E. 3 S. 466). Wird die Einrede nicht erhoben, bildet somit die Gegenleistung nicht Streitgegenstand und wird im Urteil auch dann nicht rechtskräftig über sie entschieden, wenn sie nach dem Vertrag in Vorleistung oder Zug um Zug zu erbringen ist (vgl. SJ 1986, S. 382). Erhebt der Schuldner dagegen die Einrede, zwingt er den Gläubiger zur Beweisführung über die ![]() | 9 |
c) Im vorliegenden Fall hatte der Kläger im Vorprozess als Schuldner mindestens sinngemäss die Einrede aus Art. 82 OR erhoben und gerügt, die von den Beklagten angebotenen Unterlagen seien mangelhaft gewesen. Die Einrede wurde mit der Begründung verworfen, dass dem Beklagten eine allfällige Unleserlichkeit der Krankengeschichten schon beim Vertragsschluss bekannt gewesen und dass ihm nach den Feststellungen der Vorinstanz für die Entzifferung überdies Hilfe zugesagt worden sei. Es wurde somit entschieden, dass das Angebot der Beklagten, den Vertrag ihrerseits zu erfüllen, vertragsgemäss war. Dagegen wurde im Urteil vom 20. April 1993 nicht festgestellt, die Beklagten hätten ihre Leistung tatsächlich erbracht und den Vertrag ihrerseits erfüllt. Wie der Appellationshof zutreffend festhält, bildete die eigentliche Vertragsabwicklung insoweit nicht Gegenstand des damaligen Verfahrens. Wenn der Kläger daher behauptet, die Beklagten hätten ihre - vor dem Urteil vom 20. April 1993 gehörig angebotene - Leistung nach dem Urteil dennoch verweigert, nachdem er Erfüllung verlangt habe, so stützt er seine Klage auf eine neue Tatsache. Die Vorinstanz hat die Einrede der abgeurteilten Sache zu Recht verworfen.
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3. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat der Kläger nach dem Urteil vom 20. April 1993 mehrmals die bedingungslose Herausgabe aller Patientinnenunterlagen verlangt, was die Beklagten jedoch in dieser Form verweigert haben. Die Beklagten führen in ihrer Berufung selbst aus, dass sie bis zum Zeitpunkt des Urteils des Appellationshofs vom 7. Juli 1992 dem Kläger "die Kaufsache in ihrer Gesamtheit" angeboten hatten. Nach dem Urteil des Bundesgerichts vom 20. April 1993 bildeten Vertragsgegenstand die über die Patientinnen bestehenden schriftlichen Unterlagen (Namen, Adressen, Krankengeschichten, Operationsberichte), wobei sämtliche schriftlichen Unterlagen bezüglich der Patientinnen mit der ![]() | 11 |
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a) Die Vorinstanz bejaht den Schuldnerverzug der Beklagten. Sie hält in diesem Zusammenhang fest, dass Verzug bei der Gegenleistung auch nach dem rechtskräftigen Urteil über die Preiszahlung eintreten kann, was die Beklagten zu Recht nicht als bundesrechtswidrig rügen. Die Beklagten bestreiten zwar den Zeitpunkt der Fälligkeit ihrer Leistung, stellen aber nicht in Abrede, dass die Leistung jedenfalls seit dem rechtskräftigen Urteil über die Zahlungspflicht des Klägers längst fällig war. Den Ausführungen der Beklagten ist im übrigen nicht zu entnehmen, ob und inwiefern sie die Voraussetzungen des Schuldnerverzugs bestreiten wollen. Zwar trifft zu, dass der Kläger rechtskräftig zur Zahlung verurteilt war, sich seinerseits daher nicht mehr auf eine allfällige vertragliche Vorleistungspflicht der Beklagten berufen konnte und dass die Beklagten ihre Forderung auf dem Betreibungsweg vollstrecken konnten und auch vollstreckt haben. Mit ihrer Ansicht, dass sie vor der vollständigen Bezahlung des Preises durch den Kläger am 20. Juni 1994 mit ihrer eigenen Leistung gar nicht in Verzug hätten geraten können, verkennen die Beklagten jedoch, dass der Kläger, als er von ihnen Erfüllung forderte, nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil jeweils seine eigene Leistung angeboten hat und ![]() | 13 |
b) Entscheidet sich der Gläubiger mit dem Verzicht auf die nachträgliche Leistung für Schadenersatz aus Nichterfüllung, so hat der Schuldner ihm den Wert der Leistung zu ersetzen, auf die der Gläubiger verzichtet hat, während dieser grundsätzlich zur Erbringung seiner eigenen Leistung verpflichtet bleibt (VON TUHR/ESCHER, a.a.O., S. 154 f.; GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., N. 3052 ff.; BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. Zürich 1988, S. 379 f.). Der Gläubiger hat Anspruch auf Ersatz des sogenannten positiven oder Erfüllungs-Interesses; er ist vermögensmässig so zu stellen, wie wenn der Vertrag ordnungsgemäss erfüllt worden wäre (WIEGAND, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Basel, N. 17 zu Art. 107 OR; vgl. auch BGE 120 II 296 E. 3b S. 299). Der Vertragsrücktritt begründet dagegen ein Rückabwicklungs- oder Liquidationsverhältnis, in dessen Rahmen bereits erbrachte Leistungen in natura oder wertmässig zurückzuerstatten sind (BGE 111 II 157), so dass die Parteien nach Möglichkeit vermögensmässig so gestellt werden, wie wenn sie den Vertrag nie geschlossen hätten.
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Umstritten ist, ob der Gläubiger mit der Verzichtserklärung gleichzeitig seine Entscheidung zugunsten des Schadenersatzes wegen Nichterfüllung oder des Vertragsrücktritts bekanntgeben muss (GAUCH/SCHLUEP, a.a.O. N. 3050 f.; WIEGAND, a.a.O., N. 15 zu Art. 107 OR). Fest steht hingegen, dass die einmal getroffene Wahl als Ausübung eines Gestaltungsrechts ebenso unwiderruflich ist wie der Verzicht auf die Leistung (VON TUHR/ESCHER, a.a.O., S. 153 f.; BUCHER, a.a.O., S. 373). Für die Auslegung der Wahlerklärung ist der Vertrauensgrundsatz massgebend, sofern nicht festgestellt ist, dass die Parteien sie übereinstimmend im einen oder im anderen Sinne gemeint und verstanden haben. Die Erklärung ist daher so auszulegen, wie sie der Schuldner nach den gesamten Umständen in guten Treuen verstehen durfte und musste (WIEGAND, a.a.O., N. 15 zu Art. 107 OR; BUCHER, a.a.O., S. 373 f.; vgl. auch BGE 76 II 300 E. 3 S. 306; BGE 54 II 308 S. 313).
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In seinen weiteren Erwägungen nimmt der Appellationshof an, der Kläger habe nach der auf dem Betreibungsweg erzwungenen Bezahlung seiner eigenen Leistung auf die erklärte Wahl insofern zurückkommen können, als er, statt Schadenersatz aus der Nichterfüllung des Vertrages zu verlangen, vom Vertrag habe zurücktreten können. In diesem Zusammenhang verweist die Vorinstanz auf eine Lehrmeinung, die den Gläubiger, soweit sein Schadenersatzanspruch an der Exkulpation des Schuldners scheitert (Art. 97 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 2 OR), wieder in sein Wahlrecht einsetzen, ihm also erneut die Möglichkeit des Vertragsrücktritts gewähren will (GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., N. 3024 ff.). Der Fall, dass der Schuldner sich exkulpieren und auf diese Weise der Schadenersatzpflicht entgehen kann, ist jedoch mit dem vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Bei Exkulpation des Schuldners entfällt oder reduziert sich dessen Leistungspflicht aus Gründen, auf die der Gläubiger keinen Einfluss hat; es mag deshalb als unbillig erscheinen, vom Gläubiger dennoch die volle Erbringung seiner eigenen Vertragsleistung zu verlangen. Dagegen berührt es die Leistungspflicht des Schuldners nicht, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Leistung des Gläubigers auf dem Betreibungsweg ![]() | 17 |
d) Der Appellationshof hat die Beklagten gemäss Art. 109 OR zur Rückleistung und zu Schadenersatz aus dem Dahinfallen des Vertrages verpflichtet und damit den Ersatzanspruch des Klägers so berechnet, als wäre er vom Vertrag zurückgetreten. Der Erklärung des Klägers vom 26. November 1993 entsprechend hätte sie den Schadenersatzanspruch nach dessen Erfüllungsinteresse bemessen müssen, wobei dem Kläger oblag, die Elemente seines Schadens nachzuweisen (Art. 42 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 99 Abs. 3 OR; BGE 120 II 296 E. 3b S. 299). Die Feststellungen der Vorinstanz erlauben nicht, den Ersatzanspruch des Klägers auf dieser Grundlage zu berechnen. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Streitsache gestützt auf Art. 64 Abs. 1 OG an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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