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18. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. Februar 1997 i.S. X. Versicherungsgesellschaft gegen S. (Berufung) | |
Regeste |
Haftung des Motorfahrzeughalters. Adäquater Kausalzusammenhang. | |
Sachverhalt | |
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Am 19. Mai 1992 klagte S. gegen die X. Versicherungsgesellschaft als Versichererin des fehlbaren Autolenkers auf Bezahlung von Fr. 231'353.-- nebst Zins. Er machte geltend, bei der Kollision ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitten zu haben, das in der Folge zu einer hundertprozentigen Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Mit Urteil vom 17. September 1993 verneinte das Amtsgericht Luzern-Land den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Unfall vom 2. Juni 1988 und wies die Klage ab.
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Auf Berufung des Klägers hob das Obergericht des Kantons Luzern dieses Urteil mit Erkenntnis vom 13. Mai 1996 auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Die von der Beklagten hiergegen erhobene Berufung weist das Bundesgericht ab.
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An diese Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, die den natürlichen Kausalzusammenhang betreffen, ist das Bundesgericht von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen gebunden (Art. 63 Abs. 2 OG; BGE 113 II 52 E. 2 S. 56; BGE 109 II 462 E. 4c S. 469). Insoweit lässt die Beklagte denn auch das angefochtene Urteil gelten. Streitig ist dagegen, ob der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 2. Juni 1988 und den Beschwerden des Klägers gegeben ist.
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3. Während das Amtsgericht die Prüfung der Adäquanz im Lichte der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vornahm und verneinte, weil es den Unfall als leicht taxierte und den diagnostischen Nachweis eines HWS-Traumas für gescheitert betrachtete (unter Hinweis auf BGE 117 V 359 E. 6a S. 366 und BGE 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.), hielt die Vorinstanz die sozialversicherungsrechtlichen Kriterien in diesem Punkte nicht für massgebend und gelangte zum Ergebnis, auch der adäquate Kausalzusammenhang sei gegeben. Diese Auffassung gibt die Beklagte in der Berufung als bundesrechtswidrig aus. Der Adäquanzbegriff werde im Sozialversicherungs- und im Haftpflichtrecht gleich definiert und verfolge in ![]() | 6 |
a) Bundesgericht und Eidgenössisches Versicherungsgericht gehen von derselben Umschreibung der Adäquanz aus. Danach hat ein Ereignis als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt des Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 122 V 415 E. 2a; BGE 121 V 45 E. 3a S. 49; BGE 121 III 358 E. 5 S. 363, je mit Hinweisen; BGE 113 II 174 E. 2 S. 178; BGE 107 II 238 E. 5a S. 243). Rechtspolitischer Zweck der Adäquanz ist sowohl im Sozialversicherungs- als auch im Haftpflichtrecht eine Begrenzung der Haftung (BGE 117 V 369 E. 4a S. 382; BGE 115 V 133 E. 7 S. 142; BGE 96 II 392 E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, Rz. 21, S. 114; BREHM, Berner Kommentar, Bern 1990, N. 161 zu Art. 41 OR; ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5. Aufl., Bern 1993, S. 66; ALFRED MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 460). Sie dient als Korrektiv zum naturwissenschaftlichen Ursachenbegriff, der unter Umständen der Einschränkung bedarf, um für die rechtliche Verantwortung tragbar zu sein (BGE 107 II 269 E. 3 S. 276; BGE 122 V 415 E. 2c).
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Beim adäquaten Kausalzusammenhang im Sinne der genannten Umschreibung handelt es sich um eine Generalklausel, die im Einzelfall durch das Gericht gemäss Art. 4 ZGB nach Recht und Billigkeit konkretisiert werden muss. Die Beantwortung der Adäquanzfrage beruht somit auf einem Werturteil. Es muss entschieden werden, ob eine unfallbedingte Störung billigerweise noch dem Schädiger oder Haftpflichtigen zugerechnet werden darf (BGE 109 II 4 E. 3 S. 7; BGE 96 II 392 E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 113; BREHM, a.a.O., N. 162 zu Art. 41 OR; HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, Zürich 1995, Rz. 528). Das Gericht hat dabei die gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles, aber auch den Zweck einer Norm oder eines ganzen Normenkomplexes, so ![]() | 8 |
Die Auffassung der Beklagten, der Adäquanzbegriff müsse im Sozialversicherungs- und im Haftpflichtrecht gleich gehandhabt werden, ist zwar im Grundsatz einleuchtend, lässt aber ausser acht, dass es sich bei der Adäquanztheorie nicht um eine rein logische Kausalitätstheorie, sondern um eine wertende Zurechnungstheorie handelt (VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 3. Aufl., Zürich 1979, S. 98; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl., Zürich 1991, S. 64; BRUNO VON BÜREN, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Zürich 1964, S. 55 f.; OFTINGER/STARK, a.a.O., Rz. 14, S. 109; MAURER, a.a.O., S. 463; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, Basel 1984, S. 92; HERMANN WEITNAUER, FS *Oftinger, Zürich 1969, S. 324). Wohl ist die Umschreibung der Adäquanz im Haftpflicht- wie im Sozialversicherungsrecht dieselbe, doch muss, da es sich um eine konkretisierungsbedürftige Generalklausel handelt, auch die unterschiedliche rechtspolitische Zielsetzung der beiden Rechtsgebiete berücksichtigt werden (BGE 96 II 392 E. 2 S. 398). Eine schematische Übernahme sozialversicherungsrechtlicher Kriterien ins Haftpflichtrecht unbesehen dieser Unterschiede würde dem Zweck, im Einzelfall eine billige, eben "adäquate" Zurechnungsentscheidung zu fällen, zuwiderlaufen.
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b) Dass die Beurteilung der Adäquanz auf einer wertenden Betrachtung des Gerichts beruht und unter Berücksichtigung des anwendbaren Normenkomplexes zu erfolgen hat, hat sich sowohl in den Entscheiden des Eidgenössischen Versicherungsgerichts als auch in denjenigen des Bundesgerichts, wenn auch nicht immer mit derselben Transparenz, niedergeschlagen. So beruht etwa die Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, die Leistungspflicht bei Begehrungsneurosen mangels Adäquanz abzulehnen, auf dem Gedanken, dass das Unfallversicherungsrecht Begehrungstendenzen auch dann nicht durch Leistungen belohnen und dadurch fördern will, wenn sie sich zu einer Neurose verfestigen (MAURER, a.a.O., S. 408 und Anm. 1040 a.E.). Damit folgt es - der Sache nach - der deutschen Normzwecktheorie, welche sich mit der Adäquanztheorie in vielen Punkten deckt und ebenfalls auf eine Haftungsbegrenzung zielt (vgl. BREHM, a.a.O., N. 159 zu Art. 41 OR; LAURI, a.a.O., S. 102 f.; ![]() | 10 |
Auch das Bundesgericht hat in BGE 113 II 86 E. 1c S. 90 f. unter Hinweis auf BGE 96 II 398 festgehalten, die Abgrenzung adäquater Unfallursachen und -folgen von inadäquaten brauche im Sozialversicherungsrecht nicht gleich auszufallen wie im Haftpflichtrecht, da nach Art. 91 KUVG (SR 832.10) unfallfremde Mitursachen eines Schadens berücksichtigt werden könnten, die den Haftpflichtanspruch nicht zu beeinflussen vermöchten. Daran ändert auch nichts, dass das Bundesgericht anschliessend ausführt, es sei nicht einzusehen, weshalb ein Umstand, der sich in beiden Bereichen auswirke, in jenem erheblich, in diesem hingegen unerheblich sein solle. Damit ist lediglich gesagt, dass ein solcher Umstand im allgemeinen in beiden Rechtsgebieten berücksichtigt werden muss, nicht aber unter welchen rechtlichen Gesichtspunkten die Berücksichtigung zu erfolgen habe. Das Haftpflichtrecht erlaubt nämlich eine Berücksichtigung im Rahmen der Schadenersatzbemessung, während es im Anwendungsbereich des UVG (SR 832.20) um die Alternative des Alles-oder-nichts geht, soweit sich vorbestandene Gesundheitsschäden nicht auf die Erwerbsfähigkeit ausgewirkt haben (Art. 36 Abs. 2 UVG, 2. Satz e contrario).
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c) Aus diesen Gründen vermag auch die Auffassung der Beklagten, dass an die Adäquanz im Haftpflichtrecht höhere Anforderungen zu stellen seien, wenn die Zurechnungskriterien schon nicht dieselben sein sollten, nicht zu überzeugen. In BGE 113 II 86 E. 1b S. 89 f. führte das Bundesgericht denn auch aus, nach Lehre und Rechtsprechung zum rechtserheblichen Kausalzusammenhang genüge es ![]() | 12 |
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