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35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Juni 1997 i.S. A. X. gegen Privatklinik Y. AG (Berufung) | |
Regeste |
Vertragsverletzung; Genugtuung; Verjährung (Art. 49 OR, Art. 60 Abs. 1 OR und Art. 127 OR). | |
Sachverhalt | |
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Am 16. August 1994 klagten B. X. und ihr Ehemann A. X. beim Appellationshof des Kantons Bern gegen die Beklagte auf Zahlung von Schadenersatz und Genugtuung in einem Fr. 15'000.-- übersteigenden Betrag nebst Zins an die Verletzte sowie Zahlung einer Genugtuungssumme von Fr. 40'000.-- nebst Zins an den Zweitkläger. Mit Urteil vom 10. Mai 1996 bejahte der Appellationshof im Sinne eines selbständigen Zwischenentscheides die grundsätzliche Haftung der Beklagten gegenüber der Erstklägerin für die Folgen des Vorfalles vom 29. Dezember 1988 und wies gleichzeitig die Klage des Zweitklägers infolge Verjährung ab.
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Das Bundesgericht weist die Berufung des Zweitklägers ab und bestätigt das angefochtene Urteil.
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Aus den Erwägungen: | |
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Bezüglich der Genugtuungsforderung des Zweitklägers stellte die Vorinstanz fest, dass die einjährige Verjährungsfrist gemäss Art. 60 Abs. 1 OR spätestens mit der Zustellung der IV-Rentenverfügung vom 22. Juni 1990 zu laufen begonnen habe, mithin die klageweise erhobenen Ansprüche offensichtlich verjährt seien. Die längere ![]() | 5 |
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a) In seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesgericht einen selbständigen Genugtuungsanspruch von Ehegatten und Nachkommen bejaht, deren Partner bzw. Elternteil durch eine unerlaubte Handlung oder eine Vertragsverletzung schwer invalid geworden ist, soweit diese nächsten Angehörigen dadurch in ihren persönlichen Verhältnissen gleich oder schwerer betroffen werden als im Falle der Tötung (BGE 112 II 220 E. 2 und 226 E. 3; BGE 116 II 519 E. 2; 117 II E. 3; BGE 122 III 5 E. 2). Wird der Haftpflichtige aus unerlaubter Handlung belangt, so ist auch auf die selbständigen Genugtuungsansprüche der Angehörigen die längere strafrechtliche Verjährungsfrist von Art. 60 Abs. 2 OR anwendbar (BGE 122 III 5 E. 2d S. 9).
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Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit von Art. 60 Abs. 2 OR unter Hinweis auf die Einstellung des Strafverfahrens gegen den seinerzeitigen Chefarzt der Beklagten verneint. Zu Recht wird dies in der Berufung nicht beanstandet (vgl. BGE 106 II 213 E. 3 S. 216). Da seitens des Zweitklägers bezüglich des Genugtuungsanspruchs bis zur Klageeinleitung keine verjährungsunterbrechenden Handlungen erfolgten, kann er seinen in Streit gesetzten Anspruch nur durchsetzen, wenn dieser nach Art. 127 OR verjährt.
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b) Die Verjährungsfrist von zehn Jahren gemäss Art. 127 OR gilt für alle Forderungen, für welche das Bundeszivilrecht nicht etwas anderes bestimmt. Genugtuungsforderungen bei Tötung oder schwerer Körperverletzung eines Angehörigen stützen sich auf Art. 47 bzw. Art. 49 OR. Diese Bestimmungen stehen im Abschnitt über die Entstehung von Forderungen aus unerlaubter Handlung, für welche Art. 60 Abs. 1 OR eine von Art. 127 OR abweichende Regelung trifft. Der Anspruch auf Genugtuung wird in dieser Verjährungsbestimmung auch ausdrücklich genannt.
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Auch Vertragsverletzungen können einen Genugtuungsanspruch begründen. Die besonderen Voraussetzungen von Art. 49 OR (Schwere der Verletzung und Fehlen eines anderweitigen ![]() | 10 |
Streitgegenstand der Berufung bildet indes nicht der Genugtuungsanspruch der Vertragspartnerin der Beklagten, sondern von deren Ehemann. In BGE 64 II 200 ff. hat das Bundesgericht bezüglich des Anspruchs auf Versorgerschaden und Genugtuung festgehalten, dass die Hinterbliebenen des Getöteten aus dem Vertragsverhältnis zwischen diesem und dem Verantwortlichen für sich keine Ansprüche ableiten können, sondern sich diese einzig auf Art. 45 und Art. 47 OR stützen (E. 1). Auch in BGE 72 II 311 ff. hat das Bundesgericht die genannten Ansprüche der Angehörigen ausschliesslich aus unerlaubter Handlung abgeleitet (E. 3). Nachdem die Frage der Verjährung in beiden Fällen nicht zu beurteilen war, hat das Bundesgericht dann in BGE 81 II 547 ff. für den Versorgerschaden und die Genugtuung der Angehörigen auch im Fall, dass zwischen dem Getöteten und dem Verantwortlichen ein Vertragsverhältnis bestand, ausschliesslich die Verjährungsbestimmung gemäss Art. 60 OR als anwendbar erklärt (E. 3). Der angefochtene Entscheid folgt dieser Rechtsprechung.
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c) Nach Auffassung des Klägers hat das Bundesgericht mit BGE 122 III 5 ff. eine verjährungsrechtliche Akzessorietät zwischen dem Genugtuungsanspruch von Angehörigen eines Schwerstverletzten und dem Hauptanspruch des Direktgeschädigten bejaht. Hafte diesem jemand aus Vertrag, so unterstehe auch die Verjährung der Genugtuungsansprüche seiner Angehörigen der vertragsrechtlichen Regelung. Dieser Argumentation kann indes nicht gefolgt werden. Im zitierten Entscheid bildete einzig die Anwendbarkeit der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist gemäss Art. 60 Abs. 2 OR auf den Anspruch der Angehörigen Verfahrensgegenstand. Auch diese Bestimmung bildet wie Art. 60 Abs. 1 OR Teil der Verjährungsregeln für Deliktsansprüche. Eine verjährungsrechtliche Akzessorietät zum Anspruch des Direktgeschädigten kann aus diesem Entscheid ![]() | 12 |
d) Ob die Verjährungsbestimmungen der ausservertraglichen oder der vertraglichen Haftung auf die eigenständigen Ansprüche der Angehörigen anzuwenden sind, wenn der Verantwortliche gegenüber dem Direktgeschädigten aus Vertrag haftet, ist in der neueren Lehre allerdings umstritten. BREHM (Berner Kommentar, N. 13 zu Art. 60 OR) und OFTINGER/STARK (Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/1, 4. Aufl., S. 106) befürworten bezüglich des Versorgerschadens auch in diesem Fall die Anwendung von Art. 60 OR. Im gleichen Sinne, jedoch ohne ausdrückliche Stellungnahme zur Verjährung, leiten auch von TUHR/ESCHER (a.a.O., Bd. II, S. 102 und S. 109 Anm. 101) selbst bei Vorliegen eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Direktgeschädigten und dem Haftpflichtigen die Ansprüche der Angehörigen und Hinterbliebenen ausschliesslich aus unerlaubter Handlung ab. Ebenfalls mit der deliktischen Verjährungsregelung argumentieren jene Autoren, welche die Anwendung von Art. 127 OR - im Gegensatz zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung - ohnehin auf Schadenersatzansprüche wegen Nicht- oder verspäteter Erfüllung beschränken, die Ansprüche aus Schlechterfüllung bzw. positiver Vertragsverletzung hingegen generell und somit auch die Genugtuungsansprüche des Direktgeschädigten Art. 60 OR unterstellen (JÄGGI, Zum Begriff der vertraglichen Schadenersatzforderung, in: Festgabe für WILHELM SCHÖNENBERGEr, Fribourg 1968, S. 195; WERNER SCHWANDER, Die Verjährung ausservertraglicher und vertraglicher Schadenersatzforderungen, Diss. Fribourg 1963, S. 137 ff.). In die gleiche Richtung weisen auch die Ausführungen von SPIRO (Die Begrenzung privater Rechte durch die ![]() | 13 |
e) Die Rechtsnatur des Genugtuungsanspruchs ist vom Gesetzgeber nicht eindeutig festgelegt worden. Nach ihrer Funktion schafft die Genugtuung einen Ausgleich für die erlittene immaterielle Unbill. Vor diesem Hintergrund erscheint Art. 49 OR nicht als eine selbständige Haftungsnorm, sondern nur als Rechtsregel für die ![]() | 14 |
Der Genugtuungsanspruch der Angehörigen von Schwerstverletzten hat einen eigenständigen Charakter und gründet in der Verletzung der eigenen Persönlichkeit der Angehörigen (BGE 112 II 220 ff.; gl.M. für den Fall der Tötung: PATRICK BEAUVERD, a.a.O., S. 81 mit Hinweisen). Den Angehörigen stehen hingegen bei Körperverletzung keine selbständigen Schadenersatzansprüche zu; die von ihnen geleisteten Aufwendungen und erlittenen finanziellen Nachteile sind über den Schadenersatzanspruch des Direktgeschädigten auszugleichen (JEAN-FRANÇOIS EGLI, De la réparation accordée à la famille du défunt et de l'invalide en responsabilité civile, in: Problèmes de droit de la famille, Neuchâtel 1987, S. 57 ff.). Damit hat ihr eigenständiger Genugtuungsanspruch den Charakter eines ![]() | 15 |
f) Vor diesem Hintergrund vermag das Bestehen eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Haftpflichtigen und dem Direktgeschädigten die Unterstellung der Genugtuungsansprüche der Angehörigen unter die vertragliche Verjährung nicht zu rechtfertigen. Dies würde auch gegen den Grundsatz der Relativität von Verträgen verstossen, nach welchem sich nur die Vertragspartner auf den Bestand eines Vertragsverhältnisses berufen und bei Missachtung vertraglicher Pflichten Schadenersatz aus Vertragsverletzung verlangen können. Auch bei der Drittschadensliquidation (vgl. GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 2685 ff. mit Hinweisen), auf welche die Befürworter der vertragsrechtlichen Verjährungsfrist verweisen (HANS-ULRICH BRUNNER, a.a.O., Nr. 294; GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 2697), wird der Schaden vom Vertragspartner selbst geltend gemacht; eine Ausnahme ergibt sich dabei nur bezüglich des Grundsatzes, dass nur der im Vermögen des Gläubigers entstandene Schaden zu ersetzen ist. Die Genugtuung beanspruchenden Angehörigen eines Schwerstverletzten machen demgegenüber ihre eigene erlittene seelische Unbill geltend. Um ihnen dafür Ausgleich zu verschaffen, bietet Art. 49 OR eine genügende Rechtsgrundlage und ist die Berücksichtigung eines allfälligen Vertragsverhältnisses zwischen dem Verantwortlichen und dem Direktverletzten nicht erforderlich. Damit besteht auch kein zwingender Grund, für die Modalitäten dieses Genugtuungsanspruchs auf das Vertragsverhältnis abzustellen, bei welchem der Anspruchsberechtigte nicht Partei ist. Stehen der Haftpflichtige und der Direktgeschädigte in einem Vertragsverhältnis, so ist die als Vertragsverletzung zu qualifizierende Körperverletzung nur die Ursache der gegenüber den Angehörigen bewirkten Persönlichkeitsverletzung (BREHM, a.a.O., N. 75 zu Art. 49 OR). Die Besonderheiten der Ursachen einer Verletzung eines absoluten Rechts vermögen indessen die Modalitäten des aus dieser Verletzung begründeten Rechts ![]() | 16 |
Für die Anwendung der vertragsrechtlichen Verjährungsregeln auf den Genugtuungsanspruch der Angehörigen wird angeführt, dass andernfalls für die Ansprüche der Angehörigen und des Direktgeschädigten ein unterschiedliches Verjährungsregime gelten würde (HANS-ULRICH BRUNNER, a.a.O., Nr. 296). Dieser Unterschied liegt indes darin begründet, dass ein Vertragsverhältnis nur zum Direktgeschädigten besteht. Zudem vermag jeder Anspruchsberechtigte seinen Genugtuungsanspruch selbständig geltend zu machen. Wenn auch in praxi ein gemeinsames Vorgehen häufig vorkommen oder sogar die Regel bilden mag, so reicht dieser Umstand nicht aus, um den eigenständigen Anspruch der Angehörigen einer anderen Verjährungsregelung als derjenigen zu unterstellen, welche sich aufgrund der Rechtsnatur des Anspruchs ergibt. Wenn sodann geltend gemacht wird, aus derselben (unerlaubten) Handlung entstünden diesfalls Ansprüche mit unterschiedlicher Verjährungsdauer (vgl. ALFRED KELLER, a.a.O., Bd. I, S. 386), so tritt diese Situation auch in Fällen der Anspruchskonkurrenz (dazu BGE 113 II 246 E. 3; GAUCH/SCHLUEP, a.a.O., Rz. 2909 ff., 2914) ein, ohne dass deswegen generell die Modalitäten der einzelnen Ansprüche einander angeglichen würden.
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Entgegen der Auffassung verschiedener Autoren (ALFRED KELLER, a.a.O., Bd. I, S. 386; HANS-ULRICH BRUNNER, a.a.O., N. 296) kann auch nicht von einer Privilegierung der Tötung gegenüber der Körperverletzung gesprochen werden. Untersteht der Genugtuungsanspruch der Angehörigen auch bei Bestand eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Haftpflichtigen und dem Direktgeschädigten der Verjährung gemäss Art. 60 OR, so gilt dies sowohl im Falle der Tötung (BGE 81 II 547 E. 3 S. 553) wie auch bei schwerer Körperverletzung. Der genannte Einwand bezieht sich demgegenüber auf einen Vergleich zwischen dem Anspruch des Direktgeschädigten aus Körperschaden und dem Anspruch der Angehörigen aus Versorgerschaden bei Tötung im Falle, dass zwischen dem Haftpflichtigen und dem Direktgeschädigten ein Vertragsverhältnis bestand. Diese Ansprüche unterscheiden sich indes schon in ihrer Rechtsnatur und ihrem Inhalt grundlegend.
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Die Übertragung der im Verhältnis zum Direktgeschädigten allenfalls anwendbaren vertragsrechtlichen Verjährung auf den ![]() | 19 |
g) Zusammenfassend ist deshalb festzuhalten, dass keine stichhaltigen Gründe bestehen, bei Bestand eines Vertragsverhältnisses zwischen dem Haftpflichtigen und dem Direktgeschädigten die eigenständigen Genugtuungsansprüche der Angehörigen ebenfalls der vertragsrechtlichen Verjährung zu unterstellen. Entsprechend ihrem Charakter als Anspruch aus unerlaubter Handlung unterstehen sie auch in diesem Fall der Verjährung gemäss Art. 60 OR. Dies gilt sowohl bei schwerer Körperverletzung wie auch bei Tötung des Direktgeschädigten. Auf den Genugtuungsanspruch eines Angehörigen findet die vertragsrechtliche Verjährungsfrist nur Anwendung, wenn er ausnahmsweise selbst - wie allenfalls bei der ärztlichen Behandlung eines Kindes (BGE 116 II 519 ff.) - Vertragspartner ist und ein Vertrag zugunsten Dritter vorliegt (OFTINGER/STARK, a.a.O., Bd. I, S. 686/687). Die Anwendung der einjährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 60 Abs. 1 OR auf den Genugtuungsanspruch des Zweitklägers durch die Vorinstanz ist somit bundesrechtlich nicht zu beanstanden.
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