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54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Mai 1999 i.S. Beretta gegen Zürich Versicherungs-Gesellschaft (Berufung) | |
Regeste |
Art. 42 OR. Kapitalisierter Schadenersatz für künftigen Erwerbsausfall; Kapitalisierungszinsfuss. |
Stellungnahmen in der Lehre (E. 3). |
Wirtschaftliches Umfeld (E. 4). |
Massgeblichkeit des durchschnittlichen Realertrags (E. 5). |
Zumutbare Anlagen (E. 6). |
Festhalten am Zinsfuss von 3,5% (Bestätigung der Rechtsprechung) (E. 7). | |
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2. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall reicht weit zurück. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert berechnete das Bundesgericht den kapitalisierten Schadenersatz unter Anwendung eines Zinssatzes von 3,5% nach den Barwerttafeln, die Charles Soldan im Jahre 1895 vorgelegt hatte (La responsabilité des fabricants et autres chefs d'exploitations industrielles, Lausanne 1895, S. 87 ff., Anhänge II-IV, insbesondere Anhang III: «Table suisse de mortalité pour le sexe masculin»). Vom so ermittelten Betrag nahm es allerdings mit Rücksicht auf die Vorteile, welche die Kapitalabfindung für den Geschädigten hat, im Allgemeinen einen Abzug vor, den es im Regelfall auf 20%, zuweilen aber auch etwas höher oder niedriger ansetzte (vgl. BGE 25 II 105 E. 3 S. 112 ff.; BGE 31 II 405 E. 3 S. 410; BGE 31 II 623 E. 6 S. 630 ff.). In den Jahren 1917 und 1918 erschienen die Barwerttafeln von PAUL PICCARD (Haftpflichtpraxis und Soziale Unfallversicherung, Zürich 1917, S. 146 ff.; Barwerttafeln zur Kapitalisierung von Unfall- und anderen Renten, Bern 1918, S. 9 ff.). Sie enthielten die Zahlen für die Kapitalisierung von auf Mortalität gestellten Annuitäten mit Zinssätzen von 3,5%, 4%, 4,5% oder 5%. Unter Hinweis auf die Ausführungen PICCARDS (a.a.O., Haftpflichtpraxis, S. 124 ff.) entschied sich das Bundesgericht im Jahre 1919 für einen Kapitalisierungszinsfuss von 4,5% (BGE 45 II 215 ff.). Im Gegenzug gab es die Praxis pauschaler Abzüge für die Vorteile der Kapitalabfindung auf (BGE 46 II 50 S. 53; vgl. auch BGE 50 II 190 E. 3 S. 195). In einem Urteil aus dem Jahre 1927 schloss es allerdings angesichts der damaligen Geldmarktverhältnisse solche Abzüge auch bei mit 4,5% kapitalisierten Abfindungen nicht mehr zum Vornherein aus (BGE 53 II 50 E. 4 S. 53). In der Folge nahm es vereinzelt wiederum Kürzungen von 10% vor (BGE 54 II 294 E. 4 S. 300, ![]() | 2 |
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Seit Bekanntwerden der Urteilsberatung vom 13. Dezember 1994 (ZBJV 131/1995, S. 39 ff.; dazu auch MARC SCHAETZLE, Neuer Kapitalisierungszinsfuss im Haftpflichtrecht?, ZBJV 131/1995, S. 520 ff.) sind zahlreiche weitere Stellungnahmen veröffentlicht worden. Die Meinungen bleiben weiterhin geteilt. Ein allgemeiner Konsens über den «richtigen» Kapitalisierungszinsfuss vermochte sich nicht herauszubilden. Während verschiedene Autoren sich gegen eine Änderung ![]() | 4 |
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b) Die künftige Zinsentwicklung hängt stark davon ab, ob und wieweit die Schweiz ihre Landeswährung an die europäische Einheitswährung anlehnen wird. Da darüber noch keine Klarheit besteht, ist es gerade im heutigen Zeitpunkt besonders schwierig, verlässliche Prognosen zur Zinsentwicklung zu stellen. Nach verbreiteter Ansicht würden sich bei einer Andockung des Schweizer Frankens an den Euro die Zinsen dem europäischen Niveau angleichen und mutmasslich um rund 2% steigen, wobei jedoch gleichzeitig auch die Teuerung eher zunehmen würde. In diesem Zusammenhang weisen die Experten darauf hin, dass die Realzinsen in den Ländern der Europäischen Union eher höher liegen als in der Schweiz.
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c) Zu den Erträgen verschiedener Kapitalanlagen nennen die Experten unterschiedliche Zahlen. Nach dem Gutachten Müller/Keel beträgt der - aufgrund der Daten der Jahre 1930 bis 1997 errechnete - durchschnittliche Realertrag bei konservativer Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 80% Obligationen, 10% Aktien) 1,65%, bei mittlerer Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 60% Obligationen, 30% Aktien) 2,55% und bei aggressiver Anlagestrategie (10% Geldmarkt, 40% Obligationen, 50% Aktien) 3,45%. Das Bundesamt für Privatversicherungswesen geht für einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren davon aus, dass ein gemischtes Portfeuille (10% Geldmarkt, 45% in- und ausländische Obligationen, 45% in- und ausländische Aktien) im Durchschnitt jährlich mit nominal 7-8% rentiert, was teuerungs- und kostenbereinigt einem Realertrag von wohl über 4% entsprechen würde. Die Schweizerische Nationalbank gelangt gestützt auf den Aktienindex des Schweizerischen Bankvereins von Januar 1969 bis Dezember 1997 zu einer durchschnittlichen realen Aktienrendite von 2,26% im Jahr, wobei in der Zeit von 1972 bis 1985 mehrheitlich Verluste, seither mehrheitlich - zum Teil massive - Gewinne zu verbuchen waren. Für risikolose Anlagen rechnet die ![]() | 8 |
d) Ein ähnliches Bild zeichnet übrigens auch die vorerwähnte, 1997 veröffentlichte Studie von CHRISTOPH AUCKENTHALER und ANDREAS J. ZIMMERMANN. Nach deren auf den Zahlen aus den Jahren 1970 bis 1997 beruhenden Berechnungen beträgt die reale Netto-Rendite eines gemischten Portfeuilles je nach eingegangenem Risiko zwischen 2,12 und 4,07% (AJP 1997, S. 1139).
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b) Die Kapitalerträge folgen den Konjunkturschwankungen. Der Kapitalisierungszinsfuss kann jedoch nicht laufend den wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden. Andernfalls wären verlässliche ![]() | 11 |
c) In der Lehre ist zum Teil die Forderung erhoben worden, auch den künftigen Reallohnerhöhungen mit dem Kapitalisierungszinsfuss Rechnung zu tragen (PETER STEIN, Die massgebende Rententafel, Juristische Schriften des TCS Nr. 8, Genf 1989, S. 17 f.; kritisch: GIOVANNONI, a.a.O., S. 8 f.; zu den verschiedenen Möglichkeiten, Reallohnerhöhungen generell zu berücksichtigen, vgl. MARC SCHAETZLE, Zur Kapitalisierung von Reallohnerhöhungen, plädoyer 5/1991, S. 42 ff.). Die Reallohnentwicklungen sind jedoch in den einzelnen Branchen und Bereichen möglicher Erwerbstätigkeit sehr unterschiedlich. Die individuelle Einkommensentwicklung hängt zudem stark vom Alter des Geschädigten ab (vgl. SCHAETZLE, a.a.O., S. 43 f.; WEBER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 1113 f.; SCHAETZLE/WEBER, a.a.O., S. 54). Die Praktikabilität gebietet es, bei der Festsetzung des Kapitalisierungszinsfusses nur jene Elemente zu berücksichtigen, die für alle Fälle künftiger Einkommenseinbussen gleich ![]() | 12 |
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a) Auf ein Leben ohne jedes finanzielle Risiko können Geschädigte, die für künftigen Erwerbsausfall eine Kapitalabfindung verlangen, nicht Anspruch erheben. Gewisse Anlagerisiken sind ihnen durchaus zuzumuten. Das rechtfertigt sich schon deshalb, weil auch voll erwerbstätige Personen erheblichen wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt sind, insbesondere jenem der Arbeitslosigkeit. Auf der anderen Seite darf nicht vorausgesetzt werden, dass durchschnittliche Geschädigte in der Lage wären, besonders günstige Börsengeschäfte zu tätigen. Kapitalabfindungen sind grundsätzlich für den laufenden Verzehr bestimmt, so dass vorauszusetzen ist, dass die geschädigte Person dauernd - und so lange sie lebt - auf das Kapital und auf dessen Ertrag angewiesen ist, weshalb sie in Zeiten niedriger Börsenkurse nicht einfach auf die Auflösung von Anlagen verzichten und abwarten kann, bis sich die Märkte wieder erholt haben. Besonders risikoreiche und auf längere Sicht entsprechend gewinnträchtige Anlagen kommen deshalb nicht in Frage.
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b) Das mit bestimmten, längerfristig ertragreicheren Anlagen, insbesondere mit Aktien, verbundene Risiko lässt sich allerdings mit einer angemessenen Diversifikation begrenzen. Es liegt nahe, der Ertragsschwäche risikoarmer Anlagen mit einem angemessenen Aktienanteil zu begegnen. Bundesanleihen sind entgegen dem, was der Kläger anzunehmen scheint, nicht die einzig zumutbaren Anlagen. Mit einem vernünftig gemischten, auf eine vorsichtige Anlagestrategie ausgerichteten Portefeuille lässt sich einerseits eine Risikoverteilung und damit ein Risikoausgleich schaffen, anderseits im Durchschnitt ein besserer Ertrag erwirtschaften. Diese Erkenntnis setzt sich denn in der Schweizer Bevölkerung auch mehr und mehr durch. Eine einseitige Anlehnung des Kapitalisierungszinsfusses an den Realzins der Bundesobligationen rechtfertigt sich deshalb nicht. Es ist notorisch, dass das Anlageverhalten der nicht institutionellen ![]() | 15 |
c) Das Gesetz äussert sich nicht dazu, ob Personenschaden in der Form eines Kapitals oder einer Rente zu ersetzen ist; es überlässt den Entscheid dem Richter (Art. 43 OR). Das Bundesgericht hat in seiner bisherigen Rechtsprechung regelmässig der Kapitalabfindung den Vorzug gegeben und ist davon ausgegangen, dass Renten nur ganz ausnahmsweise dann zuzusprechen sind, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls es rechtfertigen (BGE 117 II 609 E. 10c S. 625 f., mit Hinweisen). Diese Praxis bedarf der Überprüfung. Die Rente ist an sich die geeignete Form des Ausgleichs von Dauerschäden. Die geschädigte Person erhält mit einer an den Lohn- oder Teuerungsindex angepassten Rente den Ausfall so, wie sie ihn erleidet, und solange, wie sie ihn erleidet, ersetzt (KELLER, a.a.O., S. 43; STAUFFER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 225 Rz. 589; BREHM, a.a.O., N. 8 zu Art. 43 OR; OFTINGER/STARK, a.a.O., S. 321 Rz. 218). Das Rückstellungsproblem, das damit für Haftpflichtige und Versicherungen entsteht, erscheint durchaus lösbar (WALTER GRESSLY, Schadenersatz in Form einer indexierten Rente?, Collezione Assista 1998, S. 250 f.; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Le mensonge du nominalisme ou quelques réflexions sur l'indexation des rentes alimentaires et des rentes indemnitaires, in: FS Jeanprêtre 1982, S. 153 f.). Jedenfalls wird man die Unwägbarkeiten der Entwicklung des Geldwerts eher dem Haftpflichtigen oder seiner Versicherung als dem Geschädigten anlasten dürfen. Kapitalabfindungen haben zwar ebenfalls ihre Vorteile, insbesondere auch jenen der Praktikabilität (STAUFFER/SCHAETZLE, a.a.O., S. 225 Rz. 583 ff.; TERCIER, La capitalisation en question, in: Kapitalisierung - Neue Wege, vgt., S. 33; BREHM, a.a.O., N. 10 und 14 ff. zu Art. 43 OR). Das ist indessen kein Grund, anderslautende ![]() | 16 |
7. Die Änderung einer Rechtsprechung rechtfertigt sich nur, wenn sich dafür hinreichend ernsthafte Gründe anführen lassen. Das gilt namentlich, wenn diese Rechtsprechung während mehrerer Jahrzehnte konstant befolgt worden ist (BGE 120 II 137 E. 3f S. 142, mit Hinweisen; vgl. auch BGE 122 I 57 E. 3c/aa S. 59). Die Gründe, die gegen die bisherige Praxis und zugunsten einer neuen Betrachtungsweise sprechen, müssen insgesamt gewichtiger sein als die nachteiligen Auswirkungen, welche die Praxisänderung insbesondere auf die Rechtssicherheit hat (THOMAS PROBST, Die Änderung der Rechtsprechung, Diss. St. Gallen 1992, S. 664). Dabei ist vorliegend zu berücksichtigen, dass das Bedürfnis nach Rechtssicherheit im Bereich der Schadenskalkulation besonders ausgeprägt ist (E. 5b hievor). Die bisherige, langjährige Rechtsprechung ist deshalb nur zu ändern, wenn hinreichend sichere Anzeichen dafür bestehen, dass ein Realertrag von 3,5% auf Kapitalabfindungen in absehbarer Zukunft nicht realisierbar ist, und sich mit hinreichender Gewissheit sagen lässt, dass der seit 1946 geltende Kapitalisierungszinsfuss mit dem Grundsatz des vollen Schadensausgleichs nicht zu vereinbaren ist.
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In Würdigung der Aussagen der Experten ist davon auszugehen, dass ein realer Ertrag von 3,5% jedenfalls seit Mitte der achtziger Jahre im Rahmen dessen liegt, was sich mit einem angemessen gemischten Wertschriften-Portefeuille oder mit Anteilen an einem auf eine vorsichtige Anlagestrategie ausgerichteten Anlagefonds erzielen lässt. Dafür, dass sich die derzeitige Ertragslage solcher Anlagen in absehbarer Zukunft nicht mehr werde halten können, bestehen keine hinreichend gesicherten Anhaltspunkte. Eine Praxisänderung ist deshalb nicht angezeigt. Am Kapitalisierungszinsfuss ![]() | 18 |
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