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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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99. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. September 2001 i.S. X. GmbH gegen Y. SA (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Offensichtliches Versehen im internationalen Schiedsverfahren; Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG). | |
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a) In der Lehre wird auf die Problematik der vom Bundesgericht im angeführten Entscheid getroffenen Unterscheidung zwischen einer formellen und einer materiellen Rechtsverweigerung ![]() | 2 |
b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin liegt nicht in jedem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Bundesgericht hat vielmehr festgehalten, dass eine offensichtlich falsche oder aktenwidrige Feststellung für sich allein ![]() | 3 |
c) Zu prüfen bleibt, unter welchen Umständen in einem einfachen offensichtlichen Versehen, welches das Bundesgericht unter Vorbehalt des Ordre public nicht korrigiert, auch eine formelle Rechtsverweigerung liegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen eines internationalen Schiedsverfahrens entspricht im Wesentlichen den aus Art. 29 Abs. 2 BV hergeleiteten Verfahrensgarantien mit Ausnahme der Pflicht zur Begründung des Entscheides (BGE 116 II 373 E. 7b S. 374 f.; BERTI/SCHNYDER, a.a.O., N. 64 zu Art. 190 IPRG; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl., Zürich 1993, S. 368 f.; kritisch VISCHER, IPRG Kommentar, N. 17 zu Art. 182 IPRG, mit Hinweis). Er umfasst die Rechte der Parteien auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung (BGE 126 V 130 E. 2b S. 131 f. mit Hinweis). Die Rechtsprechung leitet daraus insbesondere das Recht der Parteien ab, sich über alle für das Urteil wesentlichen Tatsachen zu äussern, ihren Rechtsstandpunkt zu vertreten, erhebliche Beweisanträge zu stellen, an den Verhandlungen teilzunehmen, ![]() | 4 |
d) Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 190 IPRG ist nicht bereits gegeben, wenn ein offensichtliches Versehen zu einem Fehlentscheid führt. Diesfalls handelt es sich um eine materielle Rechtsverweigerung. Eine formelle Rechtsverweigerung liegt nur vor, wenn den Parteien die Möglichkeit, am Prozess teilzunehmen, ihn zu beeinflussen und ihren Standpunkt einzubringen, verbaut, mithin ihr Anspruch auf rechtliches Gehör durch das offensichtliche Versehen faktisch ausgehöhlt wird. Dies allein rechtfertigt, den Entscheid ohne Rücksicht auf die materiellen Erfolgschancen der Beschwerde aufzuheben, da der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht die materielle Richtigkeit, sondern das Recht auf Beteiligung der Parteien an der Entscheidfindung garantiert. Würde der Schiedsentscheid bei jedem offensichtlichen Versehen ungeachtet der materiellen Erfolgsaussichten der Beschwerde aufgehoben, käme dem Bundesgericht im Rahmen der Schiedsbeschwerde eine Kognition zu, die es in anderen Verfahren nicht einmal als ordentliche Rechtsmittelinstanz hat (vgl. Art. 63 Abs. 2 OG; BGE 101 Ib 220 E. 1 S. 222; POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bd. II, Bern 1990, N 5.1 zu Art. 63 OG). Dies widerspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers (vgl. SCHWANDER, a.a.O., S. 443 Fn. 75).
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e) In dem BGE 121 III 331 zu Grunde liegenden Fall führten beide Parteien aus, während einer gewissen Zeit seien Leistungen erbracht worden, wogegen das Schiedsgericht infolge eines offensichtlichen Versehens davon ausging, für den entsprechenden Zeitraum habe keine Partei die Erbringung einer Leistung behauptet. Damit hat das Schiedsgericht nicht etwa die ihm unterbreitete Streitfrage falsch entschieden, sondern vielmehr über einen Sachverhalt geurteilt, der ihm gar nicht unterbreitet wurde. Im Ergebnis war die Partei mit Bezug auf einen Teil der Klage nicht besser gestellt, als wenn ihr das rechtliche Gehör überhaupt nicht gewährt worden wäre, indem das Gericht infolge des Versehens eine wesentliche Behauptung der Partei überhaupt nicht zur Kenntnis nahm (BGE 121 III 331 E. 3b S. 334). Die formelle Rechtsverweigerung liegt darin, dass eine Partei ihren Standpunkt nicht in das Verfahren einbringen konnte, so dass ihn das Gericht bei der Entscheidfindung nicht berücksichtigte (vgl. ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 90). Dabei spielt keine Rolle, ob das Schiedsgericht ![]() | 6 |
f) Wer aus einem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ableiten will, kann sich demnach nicht darauf beschränken, auszuführen, inwiefern das behauptete Versehen zu einer fehlerhaften Beweiswürdigung führte, da darin, wie auch in einer willkürlichen Beweiswürdigung, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt. Die betreffende Partei hat vielmehr darzulegen, dass ihr das richterliche Versehen verunmöglicht hat, ihren Standpunkt in Bezug auf ein prozessrelevantes Thema in den Prozess einzubringen und zu beweisen.
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