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4. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Zug (Berufung) 5C.234/2001 vom 1. Oktober 2001 | |
Regeste |
Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Begriff der schweren Verwahrlosung; Verzicht auf Einholung eines Gutachtens im gerichtlichen Verfahren. |
Art. 397e Ziff. 5 ZGB stellt eine erneute Begutachtung ins richterliche Ermessen, wenn ein Entscheid in einem erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren unter Beizug eines Sachverständigen ergangen ist. Sieht ein Kanton eine einzige richterliche Instanz vor, so ist diese verpflichtet, ein Gutachten einzuholen. Frage offen gelassen, ob sie im Lichte von Art. 397e Ziff. 5 ZGB auf ein Sachverständigengutachten aus einem zeitlich unmittelbar vorangegangenen gerichtlichen Verfahren abstellen darf (E. 4c). | |
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Gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB darf eine mündige oder entmündigte Person wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann. Nach der Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Fürsorgerische Freiheitsentziehung] soll der Begriff der Verwahrlosung jene Fälle decken, in welchen die EMRK (SR 0.101) die Versorgung zulässt, ohne dass ![]() | 2 |
Das Verwaltungsgericht hat unter anderem ausgeführt, die Klinikärzte bejahten eine Selbstgefährdung in Form einer zunehmenden Verwahrlosung, da der Berufungskläger bei einer sofortigen Entlassung keinen Wohnplatz habe und seine Übernahme durch das Wohnheim im jetzigen Zeitpunkt abgelehnt würde. Dieser Sachverhalt dürfte - für sich genommen - den Tatbestand der schweren Verwahrlosung nicht erfüllen. Nun ergibt sich aber aus dem angefochtenen Entscheid, dass der primäre Einweisungsgrund die festgestellte Geisteskrankheit ist und dem Hinweis auf die "zunehmende Verwahrlosung" mehr ergänzende Bedeutung zukommt. Die geschilderten Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden, haben in aller Regel auch nicht die Verwahrlosung zur Folge, können aber zu gravierenden Problemen führen, wenn jemand geisteskrank und deswegen eines geschützten Rahmens bedarf. Mit dem ergänzenden Hinweis auf die Gefahr zunehmender Verwahrlosung hat die Vorinstanz demnach kein Bundesrecht verletzt.
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b) Hat die vormundschaftliche Behörde die Unterbringung oder Zurückbehaltung angeordnet, entscheidet sie auch über Entlassungsgesuche (Art. 397b Abs. 3 ZGB). Da der Berufungskläger vom Bürgerrat eingewiesen wurde, wäre dieser zum Entscheid über die Entlassung zuständig gewesen. Insoweit konnte der Klinik von vornherein nicht die Funktion einer ersten Instanz zukommen, wie dies der Fall wäre, hätte sie die Unterbringung oder Zurückbehaltung angeordnet. Die Klinik war allerdings insoweit in das Verfahren involviert, als sie mit der Weiterleitung des Entlassungsgesuchs an das Verwaltungsgericht erklärte, dass aus psychiatrisch-psychosozialer Sicht zur Zeit keine Indikation bestehe, der einweisenden Behörde die Entlassung zu empfehlen. Diese Erklärung ist gleich zu würdigen wie der kurz danach am 31. Juli 2001 erstattete ärztliche Bericht.
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Beim Arzt, der diesen Bericht zumindest mitverfasst und auch mitunterzeichnet hat, handelt es sich um den behandelnden Arzt des Berufungsklägers; in dieser Eigenschaft war er auch bei der Anhörung des Berufungsklägers am 30. Juli 2001 zugegen. Geht man davon aus, dass an die Unabhängigkeit des Sachverständigen die gleichen Anforderungen zu stellen sind wie an das urteilende Gericht, so wird diese nicht nur durch eine förmliche Mitwirkung des Sachverständigen in der unteren Instanz in Frage gestellt. Freilich können Klinikärzte nicht generell als Gutachter ausgeschlossen werden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung lässt sich aus praktischen Gründen eine erste Begutachtung durch Klinikärzte nicht beanstanden, wenn eine Person in eine Klinik eingewiesen wird, nachdem ihr unvorhergesehen und krisenbedingt fürsorgerisch die Freiheit entzogen worden ist (BGE 118 II 249 E. 2a S. 251).
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c) Das Verwaltungsgericht beruft sich aber auch auf ein anstaltsexternes Gutachten vom 16. Dezember 1998, in dem chronisch paranoide Schizophrenie und eine Polytoxikomanie (Alkohol und Drogen verschiedenster Art) diagnostiziert wurden. Gestützt darauf hat es damals festgestellt, dass dem Berufungskläger jegliche Krankheitseinsicht fehle und er die Einnahme dringend notwendiger Medikamente verweigere; es hat sodann erwogen, dass eine ambulante Behandlung ausser Betracht falle und wegen des Fehlens einer Wohnmöglichkeit, eines sozialen Netzes und einer Beschäftigung rasch mit einem Rückfall in die Verhältnisse zu rechnen wäre, die zur Einweisung geführt hätten.
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Art. 397e Ziff. 5 Satz 2 ZGB hält ausdrücklich fest, dass "obere Gerichte" auf den Beizug eines Sachverständigen verzichten können, wenn ein Sachverständiger in einem gerichtlichen Verfahren bereits einmal zugezogen worden ist. Diese, im bundesrätlichen Entwurf nicht vorgesehene Bestimmung (BBl 1977 III 60), geht auf einen Antrag der ständerätlichen Kommission zurück (AB 1978 S 44) und bezweckt ins richterliche Ermessen zu stellen, ob eine erneute Begutachtung anzuordnen ist, falls bereits ein Entscheid in einem erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren unter Beizug eines Sachverständigen ergangen ist. Hingegen dispensiert die Bestimmung nicht davon, ein Sachverständigengutachten einzuholen, weil ein solches bereits in einem früheren Verfahren eingeholt worden ist. Dies ergibt sich aus der Formulierung "obere Gerichte" (siehe auch ALEXANDER IMHOF, Der formelle Rechtsschutz, insbesondere ![]() | 10 |
Sieht nun ein Kanton - wie der Kanton Zug - eine einzige richterliche Instanz vor, die insoweit als oberes Gericht zu gelten hat, kommt der Verzichtsvorbehalt zwangsläufig nicht zum Zuge. Indem das Verwaltungsgericht auf das in einem früheren Verfahren dem Gericht erstattete Gutachten abgestellt hat, ist es der gesetzlichen Pflicht, einen Sachverständigen beizuziehen, nicht nachgekommen. Wie zu entscheiden wäre, wenn das Gutachten in einem dem vorliegenden Verfahren zeitlich unmittelbar vorangegangenen Verfahren eingereicht worden wäre, kann dahin stehen. Seit der Einreichung des Gutachtens vor rund zweieinhalb Jahren ist eine Zeitspanne verstrichen, die auch ohne die in Frage stehende Bestimmung eine erneute Begutachtung nahegelegt hätte.
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Konnte demnach auf das Gutachten aus dem Jahre 1998 nicht abgestellt werden und verfügte die Klinik unter den gegebenen Umständen nicht über die erforderliche Unabhängigkeit, verstösst die Bestätigung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung gegen Art. 397e Ziff. 5 ZGB; das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben. Dies bedeutet freilich nicht, dass der Berufungskläger entlassen werden kann. Vielmehr hat die Vorinstanz nach Einholung eines Gutachtens eines unabhängigen Sachverständigen über die Beschwerde neu zu entscheiden, weshalb die Sache an sie zurückzuweisen ist.
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