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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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7. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. Die Schweizerische Post gegen Verein gegen Tierfabriken (Berufung) |
4C.297/2001 vom 7. Mai 2002 | |
Regeste |
Verpflichtung der Post zur Beförderung von nicht abonnierten Zeitungen (Art. 35 BV; Art. 2-4, 9 und 15 PG; Art. 1 OR). |
Im Bereich der Wettbewerbsdienste ist die Post gleich zu behandeln wie ihre private Konkurrenz. Eine spezielle Grundrechtsbindung der Post, aus welcher eine Beförderungspflicht abgeleitet werden könnte, ist zu verneinen (E. 5). |
Eine privatrechtliche Kontrahierungspflicht kann sich ausnahmsweise aus dem Verbot des Verstosses gegen die guten Sitten ergeben. Im vorliegenden Fall ist eine Kontrahierungspflicht auf dieser Grundlage zu bejahen (E. 6). | |
Sachverhalt | |
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B.- In der Folge beantragte der Kläger beim Bezirksgericht Frauenfeld, es sei festzustellen, dass die Ablehnung des Versands der "VgT-Nachrichten VN00-1", der Sonderausgabe "VgT-Nachrichten VN00-1a" sowie der "ACUSA-News AN99-01" durch die Post widerrechtlich sei. Die Post beantragte, auf die Klage sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. In einem separaten Entscheid vom 3. April 2000 bejahte die Bezirksgerichtliche Kommission sowohl ihre sachliche wie auch ihre örtliche Zuständigkeit, über die Feststellungsklage zu befinden. Dieser Zuständigkeitsentscheid wurde nicht angefochten. Mit Urteil vom 22. September 2000 stellte die Bezirksgerichtliche Kommission fest, dass die Verweigerung der Annahme der erwähnten Publikationen widerrechtlich erfolgt sei. Dagegen erhob die Post Berufung ans Obergericht des Kantons Thurgau. Mit Urteil vom 22. März 2001 bestätigte das Obergericht den Entscheid der Bezirksgerichtlichen Kommission.
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Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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In Bezug auf das Dienstleistungsangebot der Post hat der Gesetzgeber eine differenzierte Regelung getroffen. Einerseits ist die Post auch nach der Ausgliederung aus der allgemeinen Bundesverwaltung verpflichtet, eine flächendeckende Grundversorgung mit Post- und Zahlungsverkehrsdienstleistungen sicherzustellen. Diesbezüglich ist von Universaldienst die Rede (Art. 2 des Postgesetzes vom 30. April 1997 [PG; SR 783.0]). Dieser wird mit Dienstleistungen sichergestellt, die ausschliesslich der Post als Monopolanbieterin vorbehalten sind (sog. "reservierte Dienste" [Art. 3 Abs. 1 PG]) oder die von der Post in Konkurrenz zu privaten Anbietern im ganzen Land erbracht werden müssen (sog. "nicht reservierte Dienste" [Art. 4 Abs. 1 PG und Art. 4 der Postverordnung vom 29. Oktober 1997 [VPG; SR 783.01]). Anders als bei den Universaldiensten verhält es sich bei den Wettbewerbsdiensten (Art. 9 PG). Dazu gehören alle Dienste, die weder durch das Gesetz den reservierten oder durch Bundesratsverordnung den nicht reservierten Diensten zugewiesen sind. In diesen Bereichen tritt die Post wie ein Privater ![]() | 7 |
Eine spezielle Regelung hat die Pflicht zur Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften erfahren. Zur Erhaltung einer vielfältigen Presse ist die Post verpflichtet, abonnierte Zeitungen und Zeitschriften zu einem Vorzugspreis zu befördern (Art. 15 PG). Die bereits vom Gesetz vorgesehene Pflicht zur Beförderung wurde vom Bundesrat in der Postverordnung konkretisiert. So bestimmt der Bundesrat, dass die Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften zum nicht reservierten Dienst gehöre (Art. 4 Abs. 1 lit. c VPG). Die Post ist somit zur Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften zu einem vergünstigten Tarif nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet.
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Das Bundesgericht hatte bereits verschiedentlich Gelegenheit darzulegen, dass Gratisanzeiger - wie die hier zu beurteilenden Publikationen - nicht vom Vorzugspreis profitierten, weil bei Gratispublikationen definitionsgemäss ein entgeltlicher Abonnementsvertrag fehle (BGE 120 Ib 142 ff. betr. "Obersee Nachrichten"; Urteil 2A.119/1993 vom 11. März 1994, betr. "Affaires publiques"). Ferner wurde eine Beförderungspflicht zum bevorzugten Zeitungstarif für eine Publikation verneint, die überwiegend Geschäfts- und Reklamezwecken diente (BGE 120 Ib 150 ff. betr. "Macworld Schweiz"). Da es sich bei Gratisanzeigern wie den "VgT-Nachrichten" ![]() | 10 |
Daran ändert die Auffassung der Vorinstanz nichts, dass eine Beförderungspflicht auch für nicht abonnierte Zeitungen bestehe, weil in Art. 4 Abs. 1 lit. c VPG die Beförderung von Zeitungen und Zeitschriften - und nicht bloss von abonnierten Zeitungen und Zeitschriften - dem reservierten Dienst und damit der von der Post zu gewährleistenden Grundversorgung zugeteilt worden sei. Richtig ist zwar, dass die Verordnung nur von "Zeitungen und Zeitschriften" spricht (Art. 4 Abs. 1 lit. c VPG), während an verschiedenen anderen Stellen von "abonnierten Zeitungen und Zeitschriften" die Rede ist (Art. 4 Abs. 2 und Art. 11 VPG, Art. 15 PG). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass jedes Presseprodukt eine "Zeitung" oder "Zeitschrift" ist, deren Verbreitung zur Sicherung der Pressevielfalt von Staates wegen zu fördern ist. Wie bereits ausgeführt sind nicht die äussere Erscheinungsform, sondern die in Art. 11 VPG aufgeführten Kriterien massgebend dafür, ob eine Publikation unter dem Gesichtspunkt der Pressevielfalt privilegiert zu behandeln ist.
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5. Nachdem sich ergeben hat, dass die Beförderung der "VgT-Nachrichten" und "ACUSA-News" nicht zu der von der Post obligatorisch zu erbringenden Grundversorgung (Universaldienst) zählt, ![]() | 13 |
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5.2 Gemäss Art. 35 Abs. 2 BV ist an die Grundrechte gebunden, wer staatliche Aufgaben wahrnimmt. Danach besteht bei der Erfüllung von staatlichen Aufgaben eine Grundrechtsbindung, und zwar unabhängig davon, ob diese Aufgaben durch den Staat oder durch privatrechtliche Organisationen erfüllt werden (BBl 1997 I 193; JÖRG PAUL MÜLLER, Allgemeine Bemerkungen zu den Grundrechten, in: Thürer/Aubert/Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, S. 635). Da die Post im hier relevanten Bereich der Wettbewerbsdienste keine "staatlichen Aufgaben" wahrnimmt, sondern vielmehr Dienstleistungen erbringt, die von jedem anderen Privaten auch erbracht werden könnten, fällt eine Grundrechtsbindung der Post gestützt auf Art. 35 Abs. 2 BV ausser Betracht. Nur im Bereich der Universaldienste kann von der Erfüllung einer staatlichen Aufgabe (Art. 92 Abs. 2 BV) und dementsprechend auch von einer Grundrechtsbindung des jeweiligen Dienstleisters ausgegangen werden. Diese Bindung gilt gemäss Art. 35 Abs. 2 BV gleichermassen für die Post als öffentlichrechtliche Anstalt und für Private, die in Anwendung von Art. 5 ff. PG für die Erbringung von nicht reservierten Postdiensten der Konzessionspflicht unterstellt worden sind (vgl. BGE 127 I 84 E. 4b S. 88 f. als Anwendungsfall eines Privaten, der bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben an die Grundrechte gebunden ist).
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5.4 Damit kann festgehalten werden, dass keine Grundrechtsbindung gemäss Art. 35 Abs. 2 BV besteht, weil die Post im hier interessierenden Bereich keine staatlichen Aufgaben wahrnimmt (E. 5.2). Desgleichen fällt eine spezielle Grundrechtsbindung der Post in ihrer Eigenschaft als selbständige Anstalt des öffentlichen Rechts ausser Betracht, wie sie in der Literatur teilweise aus Art. 35 Abs. 1 und 3 BV abgeleitet wird (YVO HANGARTNER, Grundrechtsbindung öffentlicher Unternehmen, in: AJP 2000 S. 515 ff.), weil der Gesetzgeber klar bestimmt hat, dass die Post im Bereich der Wettbewerbsdienste gleich gestellt ist wie ihre private Konkurrenz (E. 5.3). Wenn aber eine spezielle Grundrechtsbindung der Post bei der Erbringung der Wettbewerbsdienste abzulehnen ist, liesse sich eine Bindung an die Grundrechte nur mit einer Drittwirkung der ![]() | 17 |
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6.2.1 Im viel beachteten Entscheid Seelig (BGE 80 II 26) hatte das Bundesgericht die Klage eines Filmkritikers zu beurteilen, dem der Zutritt zu einem Kino verweigert worden war. Es verneinte unter Hinweis auf die Vertragsfreiheit eine Rechtspflicht der Kinoinhaberin, mit dem missliebigen Filmkritiker einen Vorstellungsbesuchsvertrag ![]() | 21 |
Dieser Entscheid wurde in der Literatur unterschiedlich bewertet. Ausdrücklich gebilligt wurde er de lege lata von EUGEN BUCHER, welcher für eine Kontrahierungspflicht des privaten Kinobetreibers die erforderliche gesetzliche Grundlage vermisst ("Drittwirkung der Grundrechte?", in: SJZ 83/1987 S. 37 ff., S. 42 f.). Demgegenüber hat PETER JÄGGI am Entscheid insoweit Kritik geübt, als darin das öffentliche Besuchsangebot und damit die Duldungspflicht des Anbieters zu wenig beachtet worden sei; seines Erachtens liesse sich der Ausschluss eines Filmkritikers vom Vorstellungsbesuch gegen den Vorwurf einer Verletzung von Art. 28 ZGB und das Rechtsmissbrauchsverbot nur halten, wenn mit einer unsachlichen Kritik zu rechnen sei (Bemerkungen zum Fall Seelig, in: SJZ 50/1954 S. 353 ff.; ähnlich EMILE THILO, in: JdT 1955 I S. 146 ff.). Schliesslich erwuchs dem Entscheid auch aus grundrechtlicher Sicht Kritik (JÖRG PAUL MÜLLER, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, Bern 1982, S. 50; PETER SALADIN, Grundrechte im Wandel, 3. Aufl., Bern 1982, S. 72 und 86), auf welche Diskussion hier aber wie erwähnt nicht weiter einzugehen ist (vgl. oben, E. 5.4).
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Eine Kontrahierungspflicht auf dieser Grundlage setzt erstens voraus, dass ein Unternehmer seine Waren oder Dienstleistungen allgemein und öffentlich anbietet. Der Bereich des rein privaten Güteraustausches ist von einer Kontrahierungspflicht zum Vornherein ausgenommen. Zweitens kann sich der Kontrahierungszwang nur auf Güter und Dienstleistungen beziehen, die zum Normalbedarf gehören. Dazu zählen Güter und Leistungen, die heute praktisch jedermann zur Verfügung stehen und im Alltag in Anspruch genommen werden. Die Beschränkung der Kontrahierungspflicht auf "lebenswichtige" - d.h. für das nackte Überleben notwendige - Güter und Leistungen (so noch BGE 80 II 26 E. 4c S. 37) scheint zu eng. Drittens kann ein Kontrahierungszwang nur angenommen werden, wenn dem Interessenten aufgrund der starken Machtstellung des Anbieters zumutbare Ausweichmöglichkeiten zur Befriedigung seines Normalbedarfs fehlen. Von einer solchen Machtkonstellation ist dann auszugehen, wenn entweder nur ein einziger Anbieter zureichend erreichbar ist, oder wenn sich alle in Frage kommenden Anbieter gegenüber dem Interessenten gleichermassen ablehnend verhalten.
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Nur wenn diese vier Voraussetzungen kummulativ erfüllt sind, rechtfertigt es sich, die Vertragsabschlussfreiheit ausnahmsweise einzuschränken und den Unternehmer zu verpflichten, mit einem Interessenten einen Vertrag zu den von ihm allgemein kundgegeben Bedingungen abzuschliessen.
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Ferner kann davon ausgegangen werden, dass die von der Post angebotene Dienstleistung zum "Normalbedarf" im oben umschriebenen Sinn zählt. Die Versendung von Informations- und Werbepublikationen wird von vielen Unternehmen und Institutionen nachgefragt, so dass ohne weiteres gesagt werden kann, dass die von der Post öffentlich angebotene Dienstleistung vom Durchschnittsnachfrager regelmässig in Anspruch genommen wird und insofern zum Normalbedarf zählt.
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Weiter kann im vorliegenden Fall auch davon ausgegangen werden, dass die Post gegenüber dem Kläger als marktstarke - oder sogar marktbeherrschende - Anbieterin auftritt. Die marktmächtige Position der Post ergibt sich einerseits aus dem Umstand, dass diese vor kurzem aus einem Monopolbetrieb - der PTT - hervorgegangen ist und gegenüber der sich allmählich etablierenden privaten Konkurrenz eine starke Stellung einnimmt. Andrerseits fällt unter diesem Gesichtspunkt auch die heutige Monopolstellung in Teilen des Universaldienstes und das flächendeckende Verteilnetz in Betracht. Für den Kläger dürfte es daher nicht oder nur mit unzumutbaren Schwierigkeiten möglich gewesen sein, auf einen anderen Anbieter als die Post auszuweichen, der bereit und in der Lage gewesen wäre, 500'000 Exemplare der "VgT-Nachrichten" an Deutschschweizer und 200'000 Exemplare der "ACUSA-News" an Westschweizer Haushalte zu verteilen.
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Unter diesen Umständen stellt die Weigerung der Post, die Publikationen des Klägers zu transportieren, einen Verstoss gegen die guten Sitten dar. Die Post wäre daher verpflichtet gewesen, die Sendungen des Klägers zu den von ihr in der Broschüre "Promopost" öffentlich und allgemein bekannt gegebenen Bedingungen zu befördern.
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6.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Post im Bereich der Wettbewerbsdienste keine staatlichen Aufgaben erfüllt und deshalb nicht an die Grundrechte gebunden ist. Im Bereich der Wettbewerbsdienste gilt daher sowohl für die Post als auch für ihre private Konkurrenz grundsätzlich die Vertragsfreiheit und insbesondere auch die Vertragsabschlussfreiheit (E. 6.1). Eine Kontrahierungspflicht ist ausnahmsweise denkbar, wenn sie auf vertraglicher oder gesetzlicher Grundlage beruht (E. 6.2). Als gesetzliche Grundlage kommen nicht nur ausdrückliche gesetzliche Regelungen, sondern auch allgemeine privatrechtliche Grundsätze wie das Verbot des Verstosses gegen die guten Sitten in Frage (E. 6.3). Im vorliegenden Fall hat die Post mit ihrer Weigerung, die klägerischen Publikationen zu transportieren, gegen dieses Verbot verstossen (E. 6.4). Im Ergebnis hat das Obergericht des Kantons Thurgau somit zutreffend festgehalten, dass die Post zur Beförderung der "VgT-Nachrichten" und der "ACUSA-News" verpflichtet gewesen wäre.
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