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108. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. X. AG gegen A. (Berufung) |
4C.136/2003 vom 23. September 2003 | |
Regeste |
Kumulative Schuldübernahme (Art. 143 OR) oder Bürgschaft (Art. 492 OR)? |
Unterschiede hinsichtlich Formerfordernis und Rechtsgrund der Mitverpflichtung (E. 2.2). |
Grundsätzliche Wahlfreiheit zwischen den beiden Rechtsinstituten (E. 2.3). |
Vertragsauslegung. Bedeutung eines klaren Wortlauts der Parteierklärungen bei geschäftsgewandten und nicht geschäftsgewandten Beteiligten (E. 2.4). |
Vertragsqualifikation nach dem rechtlichen und wirtschaftlichen Zweck des Sicherungsgeschäfts (E. 2.5-2.8). |
Interesse am sicherzustellenden Hauptgeschäft als wichtiges Abgrenzungskriterium (E. 2.6). | |
Sachverhalt | |
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Am 11. Mai 1996 erlitt der Leasingnehmer mit dem geleasten Fahrzeug in Österreich einen Unfall. Er unterschrieb in der Folge mit der Klägerin eine Schuldanerkennung gegenüber der Beklagten über Fr. 22'000.-, zahlbar in 48 Monatsraten à Fr. 450.- und eine Schlussrate von Fr. 400.-. Die Klägerin kam dieser Zahlungspflicht nicht nach und wurde daher von der Beklagten betrieben. Am 11. Juni 2001 erteilte der Vizepräsident 1 des Bezirksgerichts Baden der Beklagten provisorische Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 22'000.- nebst Zins.
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B.- Eine Aberkennungsklage der Klägerin wurde vom Bezirksgericht Baden am 26. Februar 2002 zunächst abgewiesen. Am 27. Februar 2003 hiess jedoch das Obergericht des Kantons Aargau die Klage im Appellationsverfahren gut.
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C.- Die Beklagte führt gegen dieses Urteil eidgenössische Berufung, mit dem Begehren, es sei aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin beantragt die Abweisung der Berufung.
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Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Die Beklagte rügt einzig, die Vorinstanz habe die seitens der Klägerin eingegangene Verpflichtung zu Unrecht nicht als kumulative ![]() | 6 |
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Die kumulative Schuldübernahme (auch Schuldbeitritt oder Schuldmitübernahme) ist dadurch gekennzeichnet, dass der Schuldübernehmer eine eigene, zur Verpflichtung eines Schuldners hinzutretende, selbständige Verpflichtung begründet, somit die Drittschuld persönlich und direkt mitübernimmt (BGE 113 II 434 E. 2 S. 435 f. mit Hinweis; Urteil 4C.191/1999 vom 22. September 1999, E. 1a, publ. in: SJ 2000 I S. 305; WEBER, Zürcher Kommentar, N. 89/94 zu Art. 111 OR; SPIRIG, Zürcher Kommentar, N. 281 in Vorbem. zu Art. 175-183 OR; PESTALOZZI, Basler Kommentar, N. 32 zu Art. 111 OR). Sie ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, ergibt sich aber als rechtliche Gestaltungsmöglichkeit aus der Regelung von Art. 143 OR. Im Gegensatz zum Garantieversprechen nach Art. 111 OR (dazu BGE 125 III 305 E. 2b mit Hinweisen) hängt die kumulative Schuldübernahme ebenfalls vom Bestand der mitübernommenen Schuld ab, ist aber insofern nicht akzessorisch, als nicht jeder Wegfall der Verpflichtung des Hauptschuldners diejenige des Mitschuldners untergehen lässt. Ob die Solidarverpflichtung bei Wegfall der Primärschuld dahinfällt, beurteilt sich nach den Regeln der Solidarität (Art. 147 OR). Die Tilgung der Schuld bewirkt den Untergang der Mitverpflichtung. Der Gläubiger kann gegenüber jedem Schuldner über seine Forderung unabhängig verfügen. Grundsätzlich berührt ein Erlass der Forderung gegenüber dem bisherigen Schuldner die Verpflichtung des kumulativen Übernehmers nicht. Auch Kündigung und Mahnung wirken nur gegenüber jenem Schuldner, gegen den sie der Gläubiger ausgesprochen hat (vgl. zum Ganzen die Urteile des Bundesgerichts 4C.154/2002 vom 10./17. Dezember 2002, E. 3.1 und 4C.218/1995 vom 9. Juli 1996, E. 2a mit Hinweisen; GIOVANOLI, Berner Kommentar, N. 17 zu Art. 492 OR; SCHNYDER, Basler Kommentar, N. 1 f. zu Art. 143 OR; TSCHÄNI, Basler Kommentar, N. 2 zu Art. 176 OR; SCYBOZ, Garantievertrag ![]() | 8 |
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Die Abgrenzung von Bürgschaft und Schuldmitübernahme ist fliessend. Auszugehen ist in rechtlicher Hinsicht davon, dass Inhalt und Rechtsgrund der Bürgenschuld von denjenigen der Hauptschuld verschieden sind, wogegen der Mitübernehmer sich gleich dem ursprünglichen Schuldner verpflichtet, diesem als Gesamtschuldner beitritt (HANS REICHEL, Die Schuldmitübernahme, München 1909, S. 68 ff.). Rechtsgrund der Verpflichtung ist im ersten Fall das Einstehen für die Leistungsfähigkeit des Hauptschuldners, im zweiten die eigenständige Befriedigung des Gläubigers (vgl. BGE 111 II 276 E. 2a; Urteile 4C.154/2002 vom 10./17. Dezember 2002, E. 3.1 und 4C.218/1995 vom 9. Juli 1996, E. 2b). Im Gegensatz zur Bürgschaft darf die Sicherung nicht das wesentliche Element im Rechtsgrund der Schuld aus Mitübernahme darstellen, wenn auch in jeder Schuldmitübernahme ein gewisser Sicherungseffekt liegt (KLEINER, a.a.O., Rz. 11.18).
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2.3 Es ist als Inkohärenz der Rechtsordnung zu werten, dass das gleiche wirtschaftliche Ziel der Verstärkung der Gläubigerposition mit zwei (bzw. mehreren) rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht werden kann, indessen nur die Bürgschaft zum Schutz der sich verpflichtenden Partei an besondere Formvorschriften geknüpft ist. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen der aus der Vertragsfreiheit fliessenden Wahlfreiheit zwischen zwei Rechtsinstituten ![]() | 11 |
Wie GUTZWILLER (Wahlfreiheit zwischen Bürgschaft und Garantie, ZSR 103/1984 I S. 119 ff., 127, mit Hinweisen auf die Materialien) nachgewiesen hat, war sich der Gesetzgeber beim Erlass der Bürgschaftsrechtsreform vom 10. Dezember 1941, in der die Formvorschriften verschärft wurden, zwar der Möglichkeit der Umgehung der entsprechenden Regeln, z.B. durch Abgabe einer Garantieerklärung, bewusst. Indessen setzte sich im Nationalrat und, ihm folgend, im Ständerat die Auffassung durch, dass sich die für die Bürgschaft vorgesehene Formvorschrift nicht rechtfertige, wo der Wille der Parteien wirklich auf den Abschluss eines Garantievertrages gehe. In anderen Fällen komme die Vorschrift von Art. 18 OR über die Auslegung der Verträge und über die Simulation zur Anwendung (allgemein zur Reform: WIEGAND, a.a.O., S. 175 ff., 185 f.; SCYBOZ, a.a.O., S. 349 f.). Damit hat sich der Gesetzgeber klar dafür entschieden, trotz der erkannten Abgrenzungsproblematik zwischen Bürgschaft und anderen persönlichen Sicherungsversprechen, mehrere Gestaltungsmöglichkeiten zuzulassen, ohne die Formvorschriften über die Bürgschaft hinaus auszudehnen. Lehre und Rechtsprechung haben daraus geschlossen, dass die Parteien nach ihrem freien Willen entscheiden dürfen, ob ein Sicherungsziel mit Bürgschaft, Garantie oder kumulativer Schuldübernahme erreicht werden soll. Eine Beschränkung der Privatautonomie ist insofern zu verneinen (Urteil 4C.436/1997 vom 9. Juli 1998, E. 2; GUTZWILLER, a.a.O., S. 128; ZOBL, Die Bankgarantie im schweizerischen Recht, in: Berner Bankrechtstagung 1997, Personalsicherheiten, Bern 1997, S. 31, 35; TUTO ROSSI, Garantie ou cautionnement?, SJ 1986 S. 406 f.). Dass die Parteien nach freiem Willen bestimmen können, welche Form von Sicherungsgeschäft sie wählen, rechtfertigt sich denn auch insofern, als namentlich im internationalen Handels- und Kreditgeschäft aus praktischen Gründen ein hohes Bedürfnis nach einem Rückgriff auf formfreie Sicherungsgeschäfte anstelle der formgebundenen Bürgschaft besteht, wie GUTZWILLER (a.a.O., S. 124 f.) überzeugend darlegt. Als Grund für die Wahl eines formfreien Geschäfts fällt namentlich der - in erster Linie im internationalen Verkehr vorkommende - Wille zur Begründung einer von der ursprünglichen Verpflichtung unabhängigen Sicherheit in ![]() | 12 |
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2.4.1 Davon ausgehend, dass die gewählten Bezeichnungen von den Vertragsparteien gewöhnlich in ihrer objektiven Bedeutung verwendet werden und den korrekten Sinn der Erklärung wiedergeben, hat ein klarer Wortlaut bei der Auslegung nach dem Vertrauensprinzip Vorrang vor weiteren Auslegungsmitteln. Auch wenn der Wortlaut - wie im vorliegenden Fall - auf den ersten Blick klar erscheint, darf es allerdings nicht bei einer reinen Wortauslegung sein Bewenden haben (Art. 18 Abs. 1 OR). So kann sich aus den anderen Vertragsbestimmungen, aus dem von den Parteien verfolgten Zweck und aus weiteren Umständen ergeben, dass der Wortlaut der strittigen Bestimmung nicht genau den Sinn der Vereinbarung unter den Parteien wiedergibt (BGE 128 III 265 E. 3a; BGE 127 III 444 E. 1b S. 445). Dementsprechend misst die Rechtsprechung dem Umstand, dass die Parteien präzise juristische Bezeichnungen verwendet haben, für sich allein keine entscheidende Bedeutung zu (anders insbesondere BGE 111 II 284 E. 2 S. 287 und darauf gestützt PESTALOZZI ![]() | 14 |
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2.5 Wo - wie vorliegend - der Vertragstext keine entsprechende Erklärung enthält und erhebliche Zweifel bestehen, ob die sich mitverpflichtende Person die rechtliche Bedeutung und die praktische Tragweite der verwendeten juristischen Bezeichnungen "Garantie" oder "solidarische Haftung" verstanden und insbesondere die Unterschiede zum Gehalt einer "Bürgschaft" erfasst hat, kann nicht davon gesprochen werden, dass sie von der ihr zustehenden autonomen Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Sicherungsabreden (Erwägung 2.3 vorne) Gebrauch gemacht hat. Dies gilt in besonderem Masse, wenn der Vertragstext nicht von ihr, sondern von der Gegenpartei verfasst worden ist. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob das Geschäft seinem rechtlichen und wirtschaftlichen Zweck nach nicht entgegen seinem klaren Wortlaut als Bürgschaft zu qualifizieren ist, um den zum Schutz des Bürgen aufgestellten, zwingenden Formvorschriften zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. BGE 81 II 520 E. 3c S. 525 f.). Die Formvorschriften des Bürgschaftsrechts können ![]() | 17 |
2.6 Die akzessorische Bürgschaft unterscheidet sich von der kumulativen Schuldübernahme als selbständiger Verpflichtung indiziell darin, dass der Verpflichtende bei der Schuldübernahme, nicht aber bei der Bürgschaft regelmässig ein erkennbares eigenes Interesse am Geschäft hat, das zwischen dem Hauptschuldner und dem Gläubiger geschlossen wurde, und nicht bloss ein Sicherungsinteresse an der Erfüllung der Urschuld (BGE 81 II 520 E. 3d; BGE 66 II 26 E. a; Urteil 4C.191/1999 vom 22. September 1999, a.a.O., E. 1a; SPIRIG, a.a.O., N. 312 f. in Vorbem. zu Art. 175-183 OR; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, N. 50 zu Art. 492 OR; WEBER, a.a.O., N. 93 zu Art. 111 OR; PESTALOZZI, a.a.O., N. 32 zu Art. 111 OR S. 625 f.; TERCIER, Les contrats spéciaux, 3. Aufl., 2003, N. 5954 f.; SCHWENZER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 2000, Rz. 91.33 [Das Interesse des Garanten am Geschäft ist auch ein wichtiges Indiz zur Abgrenzung von Bürgschaft und Garantie: BGE 128 III 295 E. 2d/bb S. 303; BGE 125 III 305 E. 2b S. 309; BGE 111 II 276 E. 2b S. 280; BGE 101 II 323 E. 1a S. 325 f.; KLEINER, a.a.O., Rz. 11.20 f.; ZOBL, a.a.O., S. 34 f.; MERZ, Garantievertrag oder Bürgschaft, ZBJV 125/1989 S. 229]). Darin, dass bei der Bürgschaft ein solches Eigeninteresse fehlt und es sich um ein uneigennütziges Geschäft handelt, das typischerweise zur Sicherstellung einer Verpflichtung von Familienangehörigen oder engen Freunden eingegangen wird, liegt denn auch der Grund, dass sie besonderen Formvorschriften unterstellt wurde (WIEGAND, a.a.O., S. 175 f.; HANDSCHIN, Zur Abgrenzung von Garantievertrag und Bürgschaft, SZW 1994 S. 228, 230; BYDLINSKI, a.a.O., S. 250; ROSSI, a.a.O., S. 410). Damit auf kumulative Schuldübernahme geschlossen werden kann, ist erforderlich, dass der Übernehmer ein unmittelbares und materielles Interesse hat, in das Geschäft einzutreten und es zu seinem eigenen zu machen, indem er - für die Gegenpartei erkennbar - direkt von der Gegenleistung des Gläubigers profitiert, wie bei der Miete einer gemeinsam genutzten Wohnung, dem Leasing eines vom Mitübernehmer mitbenutzten Fahrzeuges zu privaten Zwecken oder bei der gemeinsamen Geldaufnahme durch Ehegatten ![]() | 18 |
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