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46. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. und B. gegen C. AG (Berufung) |
4C.402/2005 vom 19. Januar 2006 | |
Regeste |
Massenentlassung; Art. 335g OR; Rechtsfolgen bei unterlassener Anzeige an das kantonale Arbeitsamt. |
Annahme einer neuen Stelle durch die entlassenen Arbeitnehmer als konkludente Zustimmung zur Beendigung des bisherigen Arbeitsvertrages (E. 2.6). | |
Sachverhalt | |
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Die Beklagte sprach die erwähnten Kündigungen ohne Konsultation der Belegschaft aus. Das kantonale Arbeitsamt wurde nicht benachrichtigt. Das Arbeitsamt intervenierte erst im Juni 2003 von sich aus, nachdem es von den Kündigungen aus der Presse erfahren hatte.
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Am 31. Januar 2003 erhoben die Kläger Einsprache gegen die Kündigung gemäss Art. 336 Abs. 1 OR und verlangten eine Entschädigung. Am 19. September 2003 liessen sie zum Aussöhnungsversuch laden und gelangten am 20. Dezember 2004 an das Gerichtspräsidium des Gerichtskreises II Biel-Nidau.
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Mit Urteil vom 26. Mai 2005 verpflichtete der Gerichtspräsident des Kreises Biel-Nidau die Beklagte, dem Kläger 1 eine Entschädigung von Fr. 16'260.- sowie Lohn von Fr. 4'599.25 (brutto) je nebst Zins zu bezahlen; gegenüber dem Kläger 2 wurde die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung von Fr. 10'833.30 und Lohn von Fr. 1'933.95 (brutto) je nebst Zins verurteilt. Zur Begründung führte der Gerichtspräsident im Wesentlichen aus, es liege eine Massenentlassung vor, die missbräuchlich sei, weil die Beklagte die Konsultation der Belegschaft und die Benachrichtigung des Arbeitsamts unterlassen habe. Er kam zum Schluss, das Arbeitsverhältnis der Parteien habe erst geendigt, als die Kläger am 14. April 2003 bzw. am 24. März 2003 eine neue Arbeitsstelle angetreten hätten; denn bis zu diesem Zeitpunkt sei die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäss Art. 335g Abs. 4 OR hinausgeschoben worden. Mit der Einreichung der Aussöhnungsbegehren am 19. September 2003 sei daher die Verwirkungsfrist von 180 Tagen im Sinne von Art. 336b Abs. 2 OR gewahrt.
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B. Das Obergericht des Kantons Bern wies die Klagen in Gutheissung der Appellation der Beklagten mit Urteil vom 29. September ![]() | 5 |
C. Die Kläger haben gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern - mit je separaten Eingaben - Berufung eingereicht.
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Das Bundesgericht heisst die Berufungen teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.1 Wer gestützt auf Art. 336 und 336a OR eine Entschädigung geltend machen will, muss gegen die Kündigung spätestens bis zum Ende der Kündigungsfrist beim Kündigenden schriftlich Einsprache erheben (Art. 336b Abs. 1 OR). Ist die Einsprache wie hier gültig erfolgt und einigen sich die Parteien nicht über die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, so kann die Partei, der gekündigt worden ist, ![]() | 9 |
2.2 Die Kläger berufen sich auf Art. 335g Abs. 4 OR. Danach endet das Arbeitsverhältnis, das im Rahmen einer Massenentlassung gekündigt worden ist, 30 Tage nach der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung an das kantonale Arbeitsamt, ausser wenn die Kündigung nach den vertraglichen oder gesetzlichen Bestimmungen auf einen späteren Termin wirksam wird. In der bundesrätlichen Botschaft wird dazu ausgeführt, der Arbeitgeber könne den betroffenen Arbeitnehmern kündigen, selbst wenn er keine Anzeige an das kantonale Arbeitsamt vorgenommen habe. Aber in einem solchen Fall könne die Kündigung unter Umständen erst nach dem vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungstermin wirksam werden. Dies wird am Beispiel eines Arbeitnehmers erläutert, dem am 30. Juni auf den 31. Juli gekündigt wird, während die Massenentlassung dem kantonalen Arbeitsamt erst am 15. Juli angezeigt wird. In diesem Falle wirkt die Kündigung nach den Ausführungen in der Botschaft erst auf den 15. August (Botschaft I über die Anpassung des Bundesrechts an das EWR-Recht vom 27. Mai 1992, BBl 1992 V 412; vgl. zur Berechnung bzw. Gültigkeit des Kündigungstermins allerdings auch GEISER, Massenentlassung, AJP 1995 S. 1412; LIENHARD MEYER, Die Massenentlassung, Diss. Basel 1999, S. 229). Da im ![]() | 10 |
2.3 Eine Kündigung, die unter Verletzung der (Verfahrens-)Vorschriften über die Massenentlassung - insbesondere ohne Anzeige an das kantonale Arbeitsamt gemäss Art. 335g Abs. 1 OR - erfolgt, ist gültig (Botschaft I über die Anpassung des Bundesrechts an das EWR-Recht vom 27. Mai 1992, a.a.O., S. 412; GEISER, Massenentlassung, a.a.O., S. 1411 f.; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: von Büren/Girsberger/Kramer et al. [Hrsg.], Schweizerisches Privatrecht, 3. Aufl., Basel 2005, S. 152). Art. 335g Abs. 4 OR stellt hingegen nicht eine Verfahrensbestimmung, sondern eine materiell-rechtliche Norm über den Kündigungstermin dar (STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 1 zu Art. 335g OR). Der Zeitpunkt der Anzeige an das kantonale Arbeitsamt gemäss Art. 335g OR kann zu einer Verlängerung der Kündigungsfrist bzw. zu einem Hinausschieben der Beendigung des Arbeitsvertrags führen. In der Lehre ist umstritten, welche Folgen die Unterlassung der Anzeige an das Arbeitsamt insbesondere für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat. Ein Teil der Doktrin vertritt die Ansicht, das Gesetz enthalte für diesen Fall - abgesehen von einer allfälligen Busse gemäss Art. 39 Abs. 2 lit. b AVG (SR 823.11) - keine Sanktion (AUBERT, Die neue Regelung über Massenentlassungen und den Übergang von Betrieben, AJP 1994 S. 703; ROLAND A. MÜLLER, Die neuen Bestimmungen über Massenentlassungen, in: Mitteilungen des Instituts für Schweizerisches Arbeitsrecht, 1995, S. 135; vgl. auch das Urteil des Tribunal cantonal de Neuchâtel vom 24. November 2004, Recueil de jurisprudence neuchâteloise [RJN] 2004 S. 86, E. 5c). Mehrheitlich setzt die Lehre jedoch die Unterlassung der Anzeige der Verzögerung gleich und befürwortet damit für den Fall fehlender Anzeige mindestens sinngemäss die - unter bestimmten Vorbehalten grundsätzlich unbefristete - Weitergeltung des Arbeitsvertrags über den vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungstermin hinaus (STREIFF/ von Kaenel, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 6. Aufl., 2006, N. 9 zu Art. 335g OR; GEISER, Die Änderungskündigung im schweizerischen Arbeitsrecht, AJP 1999 S. 66; MEYER, a.a.O., S. 238; WYLER, Droit du travail, Bern 2002, S. 359; ![]() | 11 |
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2.5 Wird dem kantonalen Arbeitsamt überhaupt nicht ermöglicht, vermittelnd tätig zu werden, so soll einerseits der Arbeitgeber, der seiner Pflicht nicht nachkommt, nicht besser gestellt sein, als wenn er wegen einer verspäteten Anzeige die Arbeitsverträge erst auf einen späteren Termin beenden kann. Anderseits sollen die Arbeitnehmer, die ihrer Rechte auf eine vermittelnde Tätigkeit der Amtsstelle verlustig gehen, nicht zusätzlich schlechter gestellt sein, als wenn die Anzeige verspätet erfolgt wäre und sich entsprechend ihr ![]() | 13 |
2.6 Grundsätzlich ist den Klägern beizupflichten, dass sich der Endtermin ihrer Arbeitsverträge spätestens bis zum Antritt ihrer neuen Stellen verlängert hat. Denn mit der Annahme einer neuen Stelle haben sie jedenfalls sinngemäss ihr Einverständnis mit der Beendigung des - von der Beklagten gültig gekündigten - Arbeitsvertrages erklärt. Der Kläger 1 hat am 14. April 2003 und der Kläger 2 am 24. März 2003 eine neue Stelle angetreten. Am 19. September 2003 reichten die Kläger das Aussöhnungsbegehren ein (vgl. E. 2.1). Die 180-tägige Verwirkungsfrist gemäss Art. 336b Abs. 2 OR wurde somit in beiden Fällen gewahrt. Die Vorinstanz stellt im angefochtenen Entscheid allerdings fest, dass die Kläger bis Ende Februar 2003 für die Beklagte gearbeitet haben, dass sie danach aber weder eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses verlangt, noch ihre Arbeitskraft weiter angeboten haben. Die Kläger erheben gegen diese Feststellung keine zulässigen Rügen (Art. 63 Abs. 2 OG). Bietet der Arbeitnehmer aber seine Arbeitsleistung nicht an, ohne dass anerkannte Verhinderungsgründe vorliegen, gerät er wegen Nichterfüllung des Vertrages in Verzug und der ![]() | 14 |
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