![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
59. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. Schweizerischer Baumeisterverband (SBV) gegen Hoch- und Tiefbau- Genossenschaft Bern (Berufung) |
5C.67/2006 vom 8. Juni 2006 | |
Regeste |
Art. 66 Abs. 2 und Art. 75 ZGB; vereinsrechtliche Anfechtungsklage gegen Beschlüsse von Delegierten- und Generalversammlung; Beschlussfassung im Zirkularverfahren. |
Schriftliche Mehrheitsentscheidungen einer Delegiertenversammlung ohne statutarische Grundlage sind unzulässig (E. 4). Die Verletzung der Verfahrensregel macht sowohl den Beschluss der Delegiertenversammlung als auch den darauf gestützten Beschluss der Generalversammlung ungültig (E. 5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Gemäss den Statuten vom 2. Juli 1987 ist ein Austritt aus dem Beklagten nur auf Ende des Kalenderjahres zulässig, wobei die Kündigung sechs Monate vorher durch eingeschriebenen Brief an die Geschäftsstelle des Beklagten erfolgen muss (Art. 11.1.). Am 24. Februar 2003 gelangte die Fachgruppe Holzbau Schweiz schriftlich an den Beklagten und teilte ihm mit, gemäss dem Beschluss ihrer Delegiertenversammlung vom 15. November 2002 wolle sie die Interessen der Holzbau- und Zimmereibranche selbstständig und alleinig vertreten, weshalb sie als Fachgruppe aus dem Beklagten austrete. 652 Firmen, die gleichzeitig Mitglieder des Beklagten und der Fachgruppe Holzbau Schweiz seien, würden hiermit Statutenänderungen beantragen, und zwar mit dem Ziel, den Mitgliedern der Fachgruppe Holzbau Schweiz den Austritt bis zum 31. März 2003 zu ermöglichen.
| 2 |
![]() | 3 |
Am 26. März 2003 fand die Generalversammlung des Beklagten statt. Die Generalversammlung ergänzte Art. 11.1. der Statuten betreffend "Austritt" mit 553 Ja-Stimmen gegen 11 Nein-Stimmen antragsgemäss und gestattete der Fachgruppe Holzbau Schweiz und deren Mitgliederbetrieben ohne Einhaltung der Kündigungsfrist per 31. März 2003 aus dem Beklagten auszutreten (Art. 11.3.).
| 4 |
Mit Eingabe vom 25. April 2003 leitete die Klägerin gegen den Beklagten den Prozess auf Anfechtung des am 26. März 2003 getroffenen Beschlusses betreffend Abänderung der Statuten ein. Sie beantragte, es sei festzustellen, dass der Beschluss der Generalversammlung des Beklagten vom 26. März 2003 nichtig, eventuell ungültig sei. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen, in zweiter Instanz hingegen gutgeheissen. Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ab.
| 5 |
Aus den Erwägungen: | |
2. Organe des Beklagten sind gemäss Statuten die Generalversammlung, die Delegiertenversammlung, der Zentralvorstand und die Kontrollstelle (Art. 17). Die der Generalversammlung ![]() | 6 |
7 | |
3.1 Aktivlegitimiert ist die Klägerin als Vereinsmitglied, das dem Beschluss der Generalversammlung, die Statuten zu ändern, nicht zugestimmt hat. Das - als Rechtsfrage von Amtes wegen zu prüfende (BGE 116 II 351 E. 3b S. 355) - Interesse der Klägerin an der Anfechtung einer Statutenänderung, die anderen Vereinsmitgliedern den Austritt erleichtert, hat das Obergericht im Zusammenhang mit dem vom Beklagten geschlossenen Gesamtarbeitsvertrag gesehen, dessen Allgemeinverbindlicherklärung sich einzelne Vereinsmitglieder durch den Austritt aus dem Beklagten hätten entziehen wollen. Es kann dahingestellt bleiben, wie es sich damit verhält. Denn das im Gesetz vorgesehene Anfechtungsrecht schützt das einzelne Vereinsmitglied nicht nur gegen die unmittelbare Verletzung seiner Mitgliedschaftsrechte durch die Mehrheit, sondern garantiert ihm - darüber hinaus - die Rechtmässigkeit des ![]() | 8 |
9 | |
Die Frage nach der Rechtzeitigkeit der Anfechtung des Beschlusses der Delegiertenversammlung wurde zwar in den Rechtsschriften und in den vorinstanzlichen Entscheiden nicht aufgeworfen. Das Bundesgericht prüft indessen das Recht von Amtes wegen, weshalb es gestützt auf den verbindlich festgestellten Sachverhalt die Frage der Rechtzeitigkeit der Klageeinreichung zu überprüfen hat. Es handelt sich bei der Frist gemäss Art. 75 ZGB um eine Verwirkungsfrist, ![]() | 10 |
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann ein Vereinsmitglied den staatlichen Rechtsschutz erst in Anspruch nehmen, nachdem es von den Rechtsbehelfen, die ihm die Vereinsorganisation zur Verfügung stellt, erfolglos Gebrauch gemacht hat; der vereinsinterne Instanzenzug ist deshalb zunächst auszuschöpfen (BGE 85 II 525 E. 2 S. 533; BGE 118 II 12 E. 3b S. 17). Lediglich vereinsintern nicht weiterziehbare Beschlüsse der Delegiertenversammlung sind unmittelbar anfechtbar (RIEMER, Berner Kommentar, 1990, N. 14 und 16 zu Art. 75 ZGB sowie N. 39 a.E. zu Art. 66 ZGB mit Hinweisen). Das Bundesgericht begründete diesen Grundsatz mit der Absicht des Gesetzgebers, die Vereine ihre inneren Angelegenheiten möglichst selbstständig ordnen zu lassen und die gerichtliche Überprüfung von Vereinsbeschlüssen auf ein Mindestmass zu beschränken (BGE 51 II 237 E. 2 S. 241; 57 II 121 S. 125/126). Vorliegend steht zwar nicht das Verhältnis zwischen dem erstinstanzlichen und dem oberinstanzlichen vereinsinternen Entscheid zur Beurteilung, sondern dasjenige zwischen Antrag und anschliessendem Entscheid. Auch in diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass das entscheidende Organ den Mangel selber korrigieren kann, indem es auf den fehlerhaften Antrag nicht eintritt oder diesen zur Verbesserung zurückweist. Im vorliegenden Fall wäre es der Generalversammlung freigestanden, auf den Antrag der Delegiertenversammlung wegen dessen formellen Mängeln nicht einzutreten. Es rechtfertigt sich daher, die Klage gegen den Antragsbeschluss der Delegiertenversammlung erst zuzulassen, wenn die Generalversammlung darüber entschieden hat. Dies bedeutet, dass sich die Frage nach der Zulässigkeit der schriftlichen Mehrheitsentscheidung auf dem Korrespondenzweg lediglich als Vorfrage stellt. Hauptfrage ist ausschliesslich diejenige nach der Gültigkeit des Generalversammlungsbeschlusses vom 26. März 2003. Gegen diesen Beschluss ist die Klage rechtzeitig eingereicht worden.
| 11 |
3.3 Eine andere Frage ist, ob die Klägerin den Verfahrensmangel rechtzeitig gerügt hat. Es gilt nicht nur im öffentlichen Recht, sondern gestützt auf Art. 2 Abs. 2 ZGB auch im Privatrecht der Grundsatz, dass Verfahrensmängel, soweit rechtzeitig erkennbar und noch behebbar, vor der Beschlussfassung zu rügen sind, andernfalls das Anfechtungsrecht verwirkt ist (BGE 121 I 30 E. 5f S. 38; RIEMER, a.a.O., N. 59 zu Art. 75 ZGB; ders., Anfechtungs- und ![]() | 12 |
13 | |
4.1 Gemäss Art. 66 Abs. 1 ZGB werden Vereinsbeschlüsse von der Vereinsversammlung gefasst. Die schriftliche Zustimmung aller Mitglieder zu einem Antrag ist einem Beschluss der Vereinsversammlung gleichgestellt (Art. 66 Abs. 2 ZGB). Es trifft deshalb jedenfalls für die Vereinsversammlung nicht zu, dass das Zirkularverfahren mangels einer entgegenstehenden Vorschrift in den Statuten auch dann zulässig ist, wenn die in Art. 66 Abs. 2 ZGB verlangte Einstimmigkeit nicht erreicht wird (vgl. BRÜCKNER, Das Personenrecht des ZGB, Zürich 2000, Rz. 1216 und 1217 S. 366; HEINI/PORTMANN, Das Schweizerische Vereinsrecht, Schweizerisches Privatrecht, Bd. II/5, 3. Aufl., Basel 2005, Rz. 460). Das Gesetz unterscheidet in Art. 66 ZGB nicht zwischen wichtigen und weniger wichtigen Vereinsbeschlüssen oder zwischen solchen mit Legislativcharakter und solchen mit Exekutivcharakter, sondern bestimmt ![]() | 14 |
15 | |
4.3 Diese Folge hängt entgegen der Meinung des Beklagten nicht davon ab, ob die Delegiertenversammlung Befugnisse wahrnimmt, welche bei Vereinen ohne dieses statutarische Organ der Vereinsversammlung zukommen oder nicht. Da es sich bei der Delegiertenversammlung wie bei der Vereinsversammlung um ein Legislativorgan handelt, gelangen die Art. 66-68 ZGB grundsätzlich analog zur Anwendung, selbst wenn die Delegiertenversammlung Befugnisse wahrnimmt, die ohne dieses Organ dem Vorstand zustehen. Im Übrigen gilt nach der herrschenden Lehre auch für den Vorstand eines Vereins, dass ausschliesslich die schriftliche Zustimmung aller stimmberechtigten Vorstandsmitglieder einem ![]() | 16 |
17 | |
18 | |
19 | |
![]() | 20 |
21 | |
5.3 Zunächst ist zu wiederholen, dass die Anfechtung rechtzeitig erfolgt ist (E. 3) und dass die Mehrheitsentscheidung der Delegierten auf dem Korrespondenzweg keine statutarische Grundlage hat und Art. 66 Abs. 2 ZGB verletzt (E. 4 hiervor). Nach der Rechtsprechung könnte bei dieser Sachlage von einer Ungültigerklärung ![]() | 22 |
5.4 Der Verfahrensmangel ist vorliegend nicht bedeutungslos. Ein Zirkularbeschluss anstelle der Versammlung verunmöglicht die Willensbildung der Delegierten in lebendiger Diskussion und wird daher in der Lehre etwa als Notbehelf bezeichnet (BRÜCKNER, a.a.O., Rz. 1218 S. 366). Es ist offen, wie sich die Delegierten im Rahmen einer direkten Aussprache verhalten hätten, wo Meinung und Gegenmeinung aufeinander gestossen wären. Der Beklagte hat sich zudem an die Hürden zur Änderung seiner Vereinsverfassung, die er selber zur Vermeidung von Zufallsentscheiden und überfallartigen Statutenänderungen im Interesse der Kontinuität gestellt hat, zu halten. Er hat selber zur Betonung des korporativen Elements eine Versammlung der Delegierten und nicht eine schriftliche Umfrage vorgesehen. Dieser Versammlungsgrundsatz darf mit dem Verbot des überspitzten Formalismus nicht in sein Gegenteil verkehrt werden. Der Umstand, dass im schriftlichen Verfahren eine Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht worden ist, reicht für eine Heilung des Mangels deshalb nicht aus. Es ist zudem offen, ob an einer Versammlung mehr oder weniger Delegierte als an der schriftlichen Umfrage teilgenommen hätten. Hätten sämtliche 195 Delegierte an der Versammlung teilgenommen, wäre die erforderliche Dreiviertelmehrheit mit 115 Ja-Stimmen nicht erreicht worden. Immerhin haben sich 80 Delegierte entweder negativ oder gar nicht geäussert. Es kann daher nicht gesagt werden, es wäre kein anderes Ergebnis möglich gewesen. Angesichts der Bedeutung des im Versammlungsgebot zum Ausdruck gelangenden Korporationsgedankens und des konkreten Abstimmungsergebnisses kann die Ungültigerklärung des Zirkularbeschlusses nicht als überspitzt formalistisch betrachtet werden. Art. 66 Abs. 2 ZGB, wonach alle Mitglieder schriftlich zustimmen müssen, damit der schriftliche ![]() | 23 |
24 | |
25 | |
5.7 Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die Frage näher einzugehen, ob schriftliche Mehrheitsentscheidungen ohne statutarische Grundlage nicht bloss ungültig, sondern gar nichtig sind, wie das die herrschende Lehre annimmt (HEINI/PORTMANN, a.a.O., Rz. 460; RIEMER, Berner Kommentar, N. 47 zu Art. 66 ZGB und N. 92 ff. zu Art. 75 ZGB mit Hinweisen; a.M. offenbar PERRIN, a.a.O., S. 88).
| 26 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |