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80. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X. USA Ltd. (Beschwerde in Zivilsachen) |
4A_438/2010 vom 15. November 2010 | |
Regeste |
Art. 139 OR; analoge Anwendung auf Verwirkungsfristen; Anwendung trotz fehlendem Rückweisungsentscheid; Anwendung bei irrtümlicher Parteibezeichnung. | |
Sachverhalt | |
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Mit Schreiben vom 21. Dezember 2007 zeigte der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin an, dass er die "Bürgschaftsgarantie" in Anspruch nehmen wollte. Die Beschwerdegegnerin lehnte jedoch ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 11. Januar 2008 ab, weil die Anzeige nicht rechtzeitig erfolgt sei.
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Der Beschwerdeführer reichte am 28. Januar 2008 ein Sühnebegehren beim Friedensrichteramt T. ein, in dem er statt der Beschwerdegegnerin die X. (Europe) AG als Beklagte aufführte. Am 11. März 2008 fand eine Sühneverhandlung statt und am selben Tag wurde die Weisung ausgestellt.
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Mit Klage vom 5. Juni 2008 beantragte der Beschwerdeführer dem Handelsgericht des Kantons Zürich, die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, ihm den Betrag von EUR 400'000.- zuzüglich Zinsen von 5 % seit 1. Februar 2008, Zug um Zug gegen Herausgabe der ![]() | 4 |
Das Handelsgericht wies die Klage mit Urteil vom 15. Juni 2010 ab. Es befand, die Garantie sei nicht rechtzeitig im Sinne von Art. 510 Abs. 3 OR geltend gemacht worden und damit sei die Garantieforderung verwirkt.
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Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, dieses Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen, eventuell den Prozess an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde aus nicht publizierten Erwägungen gut.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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3.1 Die Beschwerdegegnerin hält dafür, die Klage hätte schon deshalb abgewiesen werden müssen, weil die analoge Anwendung von Art. 139 OR auf gesetzliche oder vertragliche Verwirkungsfristen grundsätzlich nicht sachgerecht sei. Damit widerspricht sie der langjährigen und konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, nach der Art. 139 OR bezüglich Verwirkungsfristen des Bundeszivilrechts analog anwendbar ist (vgl. namentlich mit ausführlicher Begründung BGE 89 II 304 E. 6; 61 II 148 E. 5; ferner BGE 109 III 49 E. 4b S. 51; BGE 103 II 15 E. 3c; je mit Hinweisen; vgl. auch die weiteren Hinweise bei STEPHEN V. BERTI, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2002, N. 73 f. zu Art. 139 OR; ROBERT K. DÄPPEN, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2007, N. 4 zu Art. 139 OR; PASCAL PICHONNAZ, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2003, N. 6 zu Art. 139 OR). Nach dieser bestehen für eine sinngemässe Anwendung von Art. 139 OR auf Verwirkungsfristen zureichende Gründe. Diese Norm will dem Gläubiger Gelegenheit geben, die unbillige Härte zu vermeiden, die darin liegen würde, dass sein Anspruch der Verjährung anheimfallen müsste, wenn die noch während deren Lauf angehobene Klage aus einem der vom Gesetz erwähnten Gründe zurückgewiesen wird und unterdessen die Verjährungsfrist abgelaufen ist. Sinn und Zweck von Art. 139 OR besteht mithin darin, den Gläubiger, der sein Interesse an der Geltendmachung der Forderung qualifiziert und rechtzeitig, indessen fehlerhaft bekundet hat, vor der Verjährung zu schützen, weil der Schuldner über dessen Absicht, die Forderung durchzusetzen, auch ![]() | 10 |
Die Beschwerdegegnerin hält dafür, einer sinngemässen Anwendung von Art. 139 OR auf Verwirkungsfristen stehe entgegen, dass sich Wortlaut und Systematik der Norm ausschliesslich auf Verjährungsfristen bezögen. Das Bundesgericht verwarf dieses Argument in BGE 61 II 148 E. 5c und 5f mit eingehender Begründung. Auf diese kann hier vollumfänglich verwiesen werden, da sich die Beschwerdegegnerin mit den entsprechenden Erwägungen nicht auseinandersetzt und nicht aufzeigt, inwiefern ihrer Ansicht nach insoweit Anlass für eine Praxisänderung bestehen soll (nicht publ. E. 1.2).
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Weiter bringt die Beschwerdegegnerin zur Begründung ihres Standpunkts vor, dass Verwirkungsfristen im Gegensatz zu Verjährungsfristen nicht unterbrochen werden könnten. Zudem seien Verwirkungsfristen regelmässig wesentlich kürzer als Verjährungsfristen und bezweckten eine rasche und endgültige Klärung der Rechtslage; eine Verlängerung um die sechzigtägige Frist nach Art. 139 OR würde im vorliegenden Fall auf eine Verlängerung der Frist um mehr als das Doppelte hinauslaufen. Damit vermag die Beschwerdegegnerin indessen nicht zu widerlegen, dass die für eine Anwendung von Art. 139 OR sprechende Interessenlage bei Verjährungs- und Verwirkungsfristen dieselbe ist. Das Bundesgericht legte denn auch eingehend dar, weshalb die Anwendung von Art. 139 OR auf Verwirkungsfristen mit deren Natur nicht unvereinbar ist, und verneinte insbesondere, dass ein Interesse an einer raschen Streiterledigung, soweit Verwirkungsfristen dieses schützen, zu einer anderen Beurteilung führe (BGE 89 II 304 E. 6 S. 309 f.; 61 II 148 E. 5e). Die Beschwerdegegnerin setzt sich mit dieser Rechsprechung in ![]() | 12 |
Die Vorinstanz verletzte mithin kein Bundesrecht, indem sie Art. 139 OR auf die Verwirkungsfrist nach Art. 510 Abs. 3 OR analog anwendete.
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Die Beschwerdegegnerin macht insoweit vorsorglich geltend, eine Anwendung von Art. 139 OR entfalle vorliegend schon deshalb, weil eine Rückweisung der Klage durch den Friedensrichter im Sinne dieser Bestimmung nicht erfolgt sei.
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Dem kann nicht gefolgt werden. Die Beschwerdegegnerin beruft sich zur Begründung ausschliesslich auf den "klaren Wortlaut" von Art. 139 OR. Nach Rechtsprechung und Lehre kommt eine Nachfrist aber ungeachtet des Wortlauts der Bestimmung nicht nur in Frage, wenn ein formeller Rückweisungsentscheid ergeht, sondern auch wenn der Ansprecher seine Klage, noch bevor ein Nichteintretensentscheid ergeht, angebrachtermassen zurückzieht. In einem solchen Fall die Rechtswohltat einer Nachfrist schon grundsätzlich abzuerkennen, weil kein Nichteintretensentscheid abgewartet wurde bzw. erging, liefe auf einen überspitzten Formalismus hinaus (BGE 72 II 326 E. 4 S. 330 ff.; vgl. auch BGE 85 II 504 E. 3b S. 510 f.; DÄPPEN, a.a.O., N. 9 zu Art. 139 OR; PICHONNAZ, a.a.O., N. 9 und 12 zu Art. 139 OR). Eine Nachfrist nach Art. 139 OR fällt demnach nicht nur dann in Betracht, wenn ein formeller Nichteintretensentscheid ergangen ist. Das in Art. 139 OR genannte Tatbestandselement der (rechtskräftigen) Rückweisung als Voraussetzung für die (Auslösung einer) Nachfrist ist demnach nur insoweit als wesentlich zu betrachten, als damit mit hinreichender Sicherheit feststeht, dass die Klage fehlerhaft eingeleitet wurde und der Ansprecher davon Kenntnis erhalten hat (vgl. BGE 109 III 49 E. 4d, wo die Rechtssicherheit besonders betont wird).
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Nach den vorinstanzlichen Feststellungen fehlte der Friedensrichterin, die der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall mit seinem Sühnebegehren vom 28. Januar 2008 vor Ablauf der Frist nach Art. 510 Abs. 3 OR anrief, die Kompetenz zum Erlass eines formellen Rückweisungsentscheids. Ohnehin habe sie ihre funktionelle ![]() | 17 |
Der Beschwerdeführer hatte somit von der fehlerhaften Klageeinleitung bis zur Zustellung der Verfügung vom 18. November 2008 gar keine Kenntnis und diese war vorher im Prozess überhaupt kein Thema. In diesem Fall bei Bekanntwerden des Fehlers eine Verwirkung der Forderung wegen verspäteter rechtlicher Geltendmachung anzunehmen, unter grundsätzlichem Ausschluss einer Fristwahrung nach Art. 139 OR, weil kein formeller Nichteintretensentscheid ergangen ist, erschiene im Lichte des vorstehend Ausgeführten als unhaltbar. Solches liefe offensichtlich dem Zweck von Art. 139 OR zuwider, den Ansprecher, der die Klage - innerhalb der Verjährungs- bzw. Verwirkungsfrist - fehlerhaft eingeleitet hat, vor einem Rechtsverlust zu schützen, wenn dadurch keine schutzwürdigen Interessen der Gegenpartei tangiert werden.
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Die Vorinstanz verletzte demnach kein Bundesrecht, indem sie die Anwendbarkeit von Art. 139 OR nicht schon deshalb ausschloss, weil kein Rückweisungsentscheid ergangen war.
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(...)
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Diese Argumentation stösst ins Leere. Der Vorinstanz entging nicht, dass Art. 139 OR nicht anwendbar ist, wenn der Ansprecher die falsche Person eingeklagt hat, der die Passivlegitimation fehlt, da es sich dabei nicht um einen verbesserlichen Fehler im Sinne dieser Norm handelt (BGE 114 II 335 E. 3a S. 338; 32 II 186 E. 2 S. 189; Urteil 5C.31/2005 vom 29. September 2005 E. 1.2, nicht publ. in: ![]() | 23 |
Die Vorinstanz erwog mithin zu Recht, es sei zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer bei der Klageeinleitung ein Versehen in der Parteibezeichnung unterlief und ob die Beschwerdegegnerin erkannte bzw. nach dem Vertrauensprinzip erkennen musste, dass die Ansprüche gegen sie und nicht gegen die im Sühnebegehren genannte X. (Europe) AG geltend gemacht wurden.
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