BGE 137 III 289 | |||
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44. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_335/2011 vom 7. Juni 2011 | |
Regeste |
Fürsorgerische Freiheitsentziehung; Gutachten eines Sachverständigen. | |
Sachverhalt | |
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A.a Der Vormundschaftsrat des Kantons Basel-Stadt ordnete mit Entscheid vom 15. November 2006 über X. (geb. 6. Dezember 1948) eine fürsorgerische Freiheitsentziehung an. Diese Massnahme wurde mit Entscheid vom 6. Dezember 2007 unter Auferlegung bestimmter Auflagen "sistiert". Insbesondere wurde X. dazu verhalten, auf den Gebrauch von Kerzen in der Wohnung zu verzichten, beim Rauchen Vorsicht walten zu lassen und keinen Alkohol zu konsumieren.
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A.b Im Juni 2010 erstattete die Liegenschaftsverwaltung Meldung, dass die Wohnung von X. verwahrlost sei. Am Sylvester 2010 kam es zu dem nach Angaben der Polizei dritten Wohnungsbrand, wobei sich X. eine Rauchvergiftung zuzog und deswegen hospitalisiert werden musste. Anschliessend wurde sie in die UPK verlegt. Am 3. Januar 2011 meldete die Beiständin, dass X. von einem Ausgang nicht in die UPK zurückgekehrt sei. Sie wurde in der Folge von der Polizei in stark verwirrtem Zustand vorgefunden, wobei sie Schürfwunden im Gesicht aufwies und ihr Atem stark nach Alkohol roch.
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B. Mit Entscheid des Vormundschaftsrates des Kantons Basel-Stadt vom 9. Februar 2011 wurde die am 6. Dezember 2007 erfolgte "Sistierung" der fürsorgerischen Freiheitsentziehung aufgehoben und angeordnet, X. verbleibe in den UPK, bis eine geeignete Institution gefunden werde. X. gelangte gegen diesen Entscheid an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht, das ihren Rekurs mit Urteil vom 21. März 2011 ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens abwies.
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C. Die anwaltlich verbeiständete X. (Beschwerdeführerin) gelangt mit Beschwerde vom 12. Mai 2011 an das Bundesgericht und beantragt, es sei das Urteil des Appellationsgerichts vom 21. März 2011 aufzuheben und sie sei sofort aus den UPK zu entlassen.
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Der Vormundschaftsrat und das Appellationsgericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut, soweit es darauf eintritt; es hebt das angefochtene Urteil auf und weist das Appellationsgericht an, die Beschwerdeführerin spätestens nach 30 Tagen seit Zustellung des begründeten bundesgerichtlichen Urteils aus den UPK zu entlassen, wobei innert dieser Frist ein neuer Entscheid im Sinne der Erwägungen vorbehalten bleibt.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 4 | |
4.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, aus der behaupteten Verwahrlosung, dem Wohnungsbrand und dem Vorfall vom 2. Februar 2011 ziehe das Appellationsgericht den Schluss, sie leide unter einer Geisteskrankheit im Sinn von Art. 397a Abs. 1 ZGB. Mit der Erwägung, sie sei nicht mehr in der Lage, vernünftig zu denken, spreche ihr das Appellationsgericht überdies die Urteilsfähigkeit ab. Das Appellationsgericht hätte daher gestützt auf Art. 397e Ziff. 5 ZGB ein Gutachten einholen müssen, zumal schon die erste Instanz (die fürsorgerisch die Freiheit entziehende Behörde im Sinn von Art. 397b Abs. 1 ZGB) kein Gutachten eingeholt habe.
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Das Appellationsgericht weist in seiner Vernehmlassung darauf hin, die Beschwerdeführerin sei nicht wegen Geisteskrankheit eingewiesen worden, womit sich die Einholung eines Gutachtens erübrigt habe.
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4.2 Nach Art. 397e Ziff. 5 ZGB darf bei psychisch Kranken nur unter Beizug eines Sachverständigen entschieden werden. Psychisch Kranke im Sinne dieser Bestimmung können nicht nur Geisteskranke, sondern auch Geistesschwache, Suchtkranke oder völlig Verwahrloste im Sinne von Art. 397a Abs. 1 ZGB sein (Art. 397b Abs. 2 i.V.m. Art. 397e Ziff. 5 ZGB; siehe zum Ganzen: Botschaft vom 17. August 1977 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches[Fürsorgerische Freiheitsentziehung] und den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 5 der Konvention zum Schutze derMenschenrechte und Grundfreiheiten, BBl 1977 III 31 Ziff. 222; EUGEN SPIRIG, Zürcher Kommentar, 1995, N. 167 zu Art. 397e ZGB i.V.m. N. 68 zu Art. 397b ZGB; THOMAS GEISER, in: Basler Kommentar, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 12 zu Art. 397 b ZGB; ALEXANDER IMHOF, Der formelle Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der fürsorgerischen Freiheitsentziehung, 1999, S. 105 f.). Es handelt sich also um all jene Personen, die einerseits einen der fürsorgerischen Gründe gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB erfüllen und anderseits sinnvollerweise durch die Anstaltspsychiatrie betreut werden müssen. Eine derartige Betreuung drängt sich häufig auch bei Suchtkranken, insbesondere bei Alkoholikern oder Rauschgiftsüchtigen auf (Botschaft, a.a.O., 31 Ziff. 222). Aber auch die Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung, welche jene über die fürsorgerische Freiheitsentziehung ersetzen werden, sehen in Art. 450e Abs. 3 ausdrücklich vor, dass bei psychischen Störungen gestützt auf das Gutachten einer sachverständigen Person entschieden werden muss. Dabei wird unter den Begriff der psychischen Störung auch die Alkohol-, Drogen- und Medikamentensucht subsumiert, da auch diese Suchterkrankungen von den Fachleuten als psychische Störungen verstanden werden (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht], BBl 2006 7001,7043 Ziff. 2.2.2). Im vorliegenden Fall lässt sich dem angefochtenen Urteil entnehmen, dass die Beschwerdeführerin an einem bedeutenden Alkoholproblem leidet, das sich zunehmend negativ auf ihren Lebensverlauf auswirkt.
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4.5 Das gestützt auf Art. 397e Ziff. 5 ZGB anzuordnende Gutachten hat sich insbesondere über den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu äussern, ferner darüber, wie sich allfällige gesundheitliche Störungen hinsichtlich der Gefahr einer Selbst- oder Drittgefährdung, aber auch der Verwahrlosung auswirken können und ob sich daraus ein Handlungsbedarf ergibt. Ferner ist durch den Gutachter zu prüfen, ob aufgrund des festgestellten Handlungsbedarfs eine stationäre Behandlung unerlässlich ist, schliesslich, ob eine Anstalt zur Verfügung steht und wenn ja, (nötigenfalls) warum die vorgeschlagene Anstalt für die Behandlung der Beschwerdeführerin infrage kommt (zum Inhalt des Gutachtens vgl. Urteil 5A_137/2008 vom 28. März 2008 E. 3). Aufgrund des Gutachtens muss das Appellationsgericht in der Lage sein, die sich aus Art. 397a Abs. 1 ZGB ergebenden Rechtsfragen zu beantworten, nämlich ob ein Schwächezustand im Sinn von Art. 397a Abs. 1 ZGB vorliegt, ferner, ob sich daraus ein Fürsorgebedarf für die Beschwerdeführerin ergibt, sodann, ob die erforderliche persönliche Fürsorge der Beschwerdeführerin nur stationär oder aber ambulant gewährt werden kann, schliesslich, ob im Fall einer erforderlichen stationären Behandlung die vorgeschlagene Anstalt als geeignet erscheint. Das Appellationsgericht wird die Beschwerdeführerin zum Gutachten anzuhören und danach neu zu entscheiden haben.
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