BGE 137 III 593 | |||
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90. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Kanton St. Gallen gegen Kanton Thurgau (Klage) |
5E_1/2011 vom 24. Oktober 2011 | |
Regeste |
Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG; Art. 396 ZGB; Bestimmung der interkantonal zuständigen Vormundschaftsbehörde. | |
Sachverhalt | |
Mit Eingabe vom 7. Juni 2011 stellt der Kanton St. Gallen (Kläger) dem Bundesgericht das Rechtsbegehren, es sei der Kanton Thurgau zu verpflichten, die im Kanton St. Gallen durch die Vormundschaftsbehörde S. SG geführte Vertretungs- und Verwaltungsbeistandschaft (Art. 392 Ziff. 1 und Art. 393 Ziff. 2 ZGB) für X. zur Weiterführung durch die Vormundschaftsbehörde T. TG zu übernehmen. In seiner Klageantwort vom 16. August 2011 schliesst der Kanton Thurgau (Beklagter) auf Abweisung der Klage. Das Bundesgericht heisst die Klage gut und verpflichtet den Beklagten, die Übernahme und Weiterführung der von der Vormundschaftsbehörde S. SG errichteten und bisher geführten Vertretungs- und Verwaltungsbeistandschaft (Art. 392 Ziff. 1 und Art. 393 Ziff. 2 ZGB) für X. durch die Vormundschaftsbehörde T. TG zu veranlassen.
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(Zusammenfassung)
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Erwägungen: | |
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1.1 Die Zuständigkeitsvorschriften des Vormundschaftsrechts (hier: Art. 396 ZGB) gehören formell zum Privatrecht, sind materiell aber öffentlich-rechtlicher Natur. Auf staatsrechtliche Klage hin hat das Bundesgericht unter Herrschaft des Bundesrechtspflegegesetzes von 1943 (OG; BS 3 531) über Zuständigkeitsfragen in Vormundschaftssachen zwischen Kantonen entschieden (vgl. BGE 129 I 419 E. 1 S. 421; BGE 131 I 266 E. 2.1 S. 267 f.) und namentlich Streitigkeiten - wie die vorliegende - über die interkantonale Zuständigkeit zur Weiterführung einer Beistandschaft, wenn die verbeiständete Person ihren Wohnsitz wechselt, beurteilt (vgl. Urteil 1P.867/2005 vom 4. April 2006 E. 1, in: Pra 95/2006 Nr. 91 S. 651 f.). Seit Inkrafttreten des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) am 1. Januar 2007 beurteilt das Bundesgericht Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen (Art. 189 Abs. 2 BV) auf Klage gemäss Art. 120 BGG hin, die die bisherige staatsrechtliche Klage ersetzt hat (vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202, 4351 f. Ziff. 4.1.5). Die Frage der interkantonalen Zuständigkeit für die Weiterführung einer Beistandschaft kann dem Bundesgericht somit weiterhin auf dem Klageweg unterbreitet werden (Art. 120 Abs. 1 lit. b BGG).
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2.3 Das Alters- und Pflegeheim P. heisst richtig "P. Haus für Pflege und Betreuung" bzw. ab August 2009 "P. Raum für Pflege & Betreuung". Es ist kein gewöhnliches Alters- und Pflegeheim, sondern hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen aller Altersgruppen, mit verschiedenen Krankheitsbildern, sowie Menschen, die den Lebensabend verbringen, umfassend zu betreuen. Zwölf der insgesamt vierzig Heimplätze bilden den Bereich der Betreuung von erwachsenen Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung. Für diesen Behindertenbereich besteht ein eigenes Konzept. Danach wird die Betreuung erwachsener Menschen mit Behinderung, die noch nicht pensioniert sind, als weitgehend selbstständiger Bereich innerhalb des auf dem gleichen Areal liegenden "P. Haus für Pflege und Betreuung" geführt. Aufnahme finden Erwachsene mit psychischer, geistiger oder körperlicher Behinderung, sofern sie das Angebot nutzen und mindestens teilweise einer Erwerbstätigkeit oder Beschäftigung nachgehen können. Menschen mit schweren Behinderungen, akut Suchtkranke und solche, die einen geschlossenen Raum benötigen, können nicht aufgenommen werden. Das Heim verfügt über Fachpersonal unter anderem aus den Bereichen der Sozialpädagogik, Psychiatriepflege und Behindertenbetreuung und über ein breites Angebot, das insbesondere eine Betreuung für eine möglichst selbstständige Lebensgestaltung, interne wie externe und auch geschützte Arbeitsplätze, ein Kunstatelier u.v.a.m. umfasst.
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2.5 Weil X. im Heim gut integriert ist und - soweit es ihre Mobilität zulässt - an Anlässen der örtlichen Frauengruppe teilnimmt und Konzerte und Gottesdienste im Ort besucht, zu S. SG hingegen heute keine institutionellen oder emotionalen Bindungen mehr pflegt, hat der Beistand sie auf einen Wohnsitzwechsel nach T. TG angesprochen. Nach seiner Schilderung hat X. sehr erfreut reagiert. Sie hat sich am 19. November 2009 bei der Gemeinde T. TG angemeldet und die Ausweispapiere hinterlegt. Die Einwohnerkontrolle hat den Zuzug von S. SG registriert und den Schriften-Empfangsschein ausgestellt.
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3.2 Die Vertretung durch einen Beistand wird von der Vormundschaftsbehörde am Wohnsitz der Person angeordnet, die der Beistandschaft bedarf (vgl. Art. 396 Abs. 1 ZGB), während die Anordnung einer Vermögensverwaltung durch die Vormundschaftsbehörde des Ortes erfolgt, wo das Vermögen in seinem Hauptbestandteil verwaltet worden oder der zu vertretenden Person zugefallen ist (vgl. Art. 396 Abs. 2 ZGB). Besteht - wie hier - eine sog. kombinierte Beistandschaft, ist für die Zuständigkeit im Einzelfall zu klären, ob die Massnahme mehr persönlichkeitsorientiert ist (Vertretung) oder das vermögensrechtliche Element (Verwaltung) im Vordergrund steht (vgl. SCHNYDER/MURER, a.a.O., N. 49 f., und GEISER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 4. Aufl. 2010, N. 7, je zu Art. 396 ZGB). Im Falle der kombinierten Beistandschaft über X. sind sich die Parteien einig, dass das Bedürfnis nach persönlicher Betreuung (vgl. Art. 392 Ziff. 1 ZGB) die Notwendigkeit des Vermögensschutzes (vgl. Art. 393 Ziff. 2 ZGB) überwiegt. Davon abzuweichen, besteht für das Bundesgericht auch auf Grund des Beweisverfahrens (vgl. E. 2.4 hiervor) kein Anlass. Die Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde beurteilt sich deshalb nicht nach dem Ort der Vermögensverwaltung, sondern nach dem Wohnsitz von X.
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3.5 Wer trotz Art. 26 ZGB am Ort der Anstalt Wohnsitz erwerben will, muss freiwillig dorthin gegangen sein und in für Dritte erkennbarer Weise die Absicht bekundet haben, am entsprechenden Ort auf Dauer zu verweilen (vgl. Urteil 5C.16/2001 vom 5. Februar 2001 E. 4a, in: Pra 90/2001 Nr. 131 S. 787 f.; BGE 135 III 49 E. 6.2 S. 56; BGE 137 II 122 E. 3.6 S. 126 f.). Die Streitfrage lautet somit dahingehend, ob die unter Beistandschaft stehende X. freiwillig in das Alters- und Pflegeheim eingetreten ist und in T. TG ihren rechtlichen Wohnsitz begründet hat (so der Kläger) oder ob X. im Alters- und Pflegeheim untergebracht worden ist und in T. TG auch keinen rechtlichen Wohnsitz begründet hat (so der Beklagte).
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4.3 X. wurde bei der Auswahl des Heims von ihrem Bruder unterstützt (vgl. E. 2.2 hiervor). Der Beistand berichtet, dass X. "das Heim mit Unterstützung ihres Bruders B. ausgewählt" habe. Die Würdigung der Beweisurkunde durch den Beklagten, dass die Verbeiständete das Heim "mit Hilfe bzw. unter Einwirkung ihres Bruders ausgewählt hat", findet weder im Wortlaut des Schreibens noch in den übrigen Akten eine Grundlage und entspricht auf Grund der tatsächlichen Gegebenheiten auch nicht der Lebenserfahrung. Zum einen ist X. in einer Grossfamilie aufgewachsen. Sie hat vier Schwestern und drei Brüder, die allesamt in der näheren und weiteren Region "Ostschweiz" wohnhaft sind. In Anbetracht dessen überzeugt es wenig, dass der Heimeintritt "unter Einwirkung" eines Geschwisters allein hätte erfolgen können. Zum anderen hat die Heimleitung berichtet, dass X. zuvor in einem anderen Heim und in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gelebt habe (vgl. E. 2.2 hiervor). Eine Versorgung durch den Bruder, wie sie der Beklagte antönt, wäre deshalb naheliegenderweise in eine dieser bereits bekannten Institutionen erfolgt und nicht in ein den Beteiligten fremdes Heim. Es ist insgesamt davon auszugehen, dass X. das Alters- und Pflegeheim P. "mit Unterstützung" bzw. "mit Hilfe" ihres Bruders ausgewählt hat. Blosse Unterstützung oder Hilfeleistung beeinträchtigt die Freiheit des Willensentschlusses nicht (vgl. BGE 127 V 237 E. 2c S. 241; BGE 134 V 236 E. 2.3 S. 240 f.).
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4.4 Dass X. wegen ihrer Krankheit (vgl. E. 2.1) in einem dafür geeigneten Heim wie dem Alters- und Pflegeheim P. (vgl. E. 2.3) der intensiven Betreuung bedarf (vgl. E. 2.4 hiervor) und insoweit auf Grund der Umstände zu einem Heimeintritt gezwungen war, ist nicht streitig und durch das Beweisverfahren erstellt. Dieser "Zwang der Umstände" macht den Eintritt von X. in das Alters- und Pflegeheim indes weder unfreiwillig noch fremdbestimmt im Sinne der Rechtsprechung (E. 4.1 soeben). Die gegenteilige Auffassung des Beklagten stützt sich entweder auf kantonale Entscheide, die von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung abweichen (z.B. Entscheide des Justiz- und Polizeidepartements des Kantons St. Gallen, in: ZVW 52/1997 S. 97 ff., E. 2c S. 100, und 56/2001 S. 340 ff., E. 2c S. 342) oder eigentliche Sonderfälle betreffen. Es ist nämlich denkbar, dass ein Eintritt in eine spezialisierte Klinik nicht mehr als freiwillig und selbstbestimmt angesehen werden könnte, wenn die Patientin wegen ihres Leidens gezwungen ist, die Dienste gerade dieser Klinik in Anspruch zu nehmen; das Fehlen einer freien Anstaltswahl käme insofern einer "Unterbringung" gleich (so BRÜCKNER, Das Personenrecht des ZGB, 2000, S. 103 N. 360). Wie es sich damit verhält, kann dahingestellt bleiben. Mit Blick auf das Leitbild und das Angebot des Alters- und Pflegeheims P. (vgl. E. 2.3 hiervor) kann nicht angenommen werden, X. sei in ihrer Wahl eingeschränkt gewesen und hätte kein ebenso geeignetes anderes Heim finden können.
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5.4 Der soeben geschilderte Sachverhalt über die Lebensverhältnisse von X. im Alters- und Pflegeheim P., aber auch im Anstaltsort T. TG selber bestreitet der Beklagte nicht. Er wendet sich gegen die Darstellung des Beistandes, dass X. zu S. SG heute keine institutionellen oder emotionalen Bindungen mehr pflegt. Er weist darauf hin, dass sie nach wie vor ihren Psychiater in St. Gallen habe. Beim zitierten Beleg handelt es sich um eine Schreibkarte mit dem Logo des Heims, mit der die Sachbearbeiterin den Beklagten für den offenbar nachgefragten Arztbericht an Dr. med. D. in T. TG oder an den Psychiater Dr. E. in St. Gallen verwiesen hat. Es kann daraus geschlossen werden, dass X. für die allgemeinmedizinischen Fragen offenbar von einem Hausarzt vor Ort behandelt wird. Dieses Indiz lässt wiederum darauf schliessen, dass sich der Lebensmittelpunkt für Dritte erkennbar in T. TG befindet. Dagegen spricht nicht, dass X. für ihr psychisches Wohlbefinden den bisherigen Arzt des Vertrauens beibehalten hat. Ein derartiges Patientenverhalten entspricht vielmehr der Lebenserfahrung.
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7. Mit Bezug auf die Kosten- und Entschädigungsfolgen im Klageverfahren kann davon ausgegangen werden, dass beide Parteien in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse gehandelt hat, das Bundesgericht in Anspruch genommen haben. Anhaltspunkte, die das Gegenteil nahelegen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Parteien werden deshalb nicht kostenpflichtig. Eine Parteientschädigung ist nicht zuzusprechen, da der Kläger in seinem amtlichen Wirkungskreis obsiegt und im Übrigen auch nicht anwaltlich vertreten ist (vgl. Art. 69 BZP i.V.m. Art. 66 Abs. 4 und Art. 68 Abs. 3 BGG).
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