BGE 138 III 225 | |||
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35. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. AG (vormals Y. AG) gegen Z. AG (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_895/2011 vom 6. März 2012 | |
Regeste |
Zustellungsfiktion und Anzeige der Konkursverhandlung. | |
Sachverhalt | |
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B. Gegen diesen Entscheid erhob die Y. AG, die bereits seit 15. August 2011 die neue Firma X. AG führt, Beschwerde und beantragte, die Konkurseröffnung aufzuheben und zur Konkursverhandlung neu vorzuladen. Ausserdem ersuchte sie um aufschiebende Wirkung. Das Obergericht des Kantons Thurgau erteilte am 27. Oktober 2011 aufschiebende Wirkung, wies die Beschwerde am 30. November 2011 ab und eröffnete den Konkurs per 30. November 2011, 14.00 Uhr.
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C. Gegen den obergerichtlichen Entscheid hat die X. AG (Beschwerdeführerin) am 21. Dezember 2011 Beschwerde in Zivilsachen erhoben. Sie ersucht um Aufhebung des angefochtenen Entscheids und der Konkurseröffnung sowie darum, zur Konkursverhandlung neu vorzuladen. Zudem ersucht sie um aufschiebende Wirkung.
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Nach Gewährung des rechtlichen Gehörs ist der Beschwerde mit Präsidialverfügung vom 17. Januar 2012 in dem Sinne aufschiebende Wirkung zuerkannt worden, als Vollstreckungsmassnahmen zu unterbleiben haben, allenfalls bereits getroffene Sicherungsvorkehren aber aufrechterhalten bleiben.
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In der Sache hat die Z. AG (Beschwerdegegnerin) auf Vernehmlassung verzichtet. Das Obergericht ersucht um Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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Das Obergericht hat erwogen, die Beschwerdeführerin habe nach der Konkursandrohung vom 14. Juli 2011 und der ihr damit angesetzten, aber ungenutzt verstrichenen Zahlungsfrist von 20 Tagen jederzeit mit einem Konkursbegehren der Beschwerdegegnerin rechnen müssen. Es hat deshalb die für nicht abgeholte, eingeschriebene Sendungen entwickelte Zustellungsfiktion angewandt, wonach die Zustellung als am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch erfolgt gilt, wenn der Adressat mit der Zustellung rechnen musste. Diese siebentägige Frist habe am 9. Oktober 2011 zu laufen begonnen und habe am 15. Oktober 2011 geendet. Die Vorladung gelte folglich als am 15. Oktober 2011 zugestellt, womit die Frist zur rechtzeitigen Anzeige der Konkursverhandlung gewahrt sei. Als unwahrscheinlich hat das Obergericht die Darstellung der Beschwerdeführerin verworfen, sie habe vor dem 15. Oktober 2011 erfolglos versucht, die Sendung abzuholen, diese sei auf der Post aber nicht mehr auffindbar gewesen.
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Erwägung 3 | |
3.1 Stellt das Gericht eine Vorladung, eine Verfügung oder einen Entscheid durch eingeschriebene Postsendung zu und wird die Postsendung nicht abgeholt, so gilt die Zustellung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt, sofern der Adressat mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO [SR 272]; sog. Zustell- oder Zustellungsfiktion). Gemäss der bundesrätlichen Botschaft zur ZPO entspricht diese Vorschrift bewährter Rechtsprechung (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7307 Ziff. 5.9.2). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Zustellungsfiktion lässt sich deshalb auf die ZPO übertragen. Wie Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO ausdrücklich festhält, kann die Zustellung eines behördlichen Aktes nur dann fingiert werden, wenn der Empfänger mit der Zustellung rechnen musste. Nach der Rechtsprechung entsteht indessen erst mit der Rechtshängigkeit ein Prozessrechtsverhältnis, das die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d.h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte zugestellt werden können, die das Verfahren betreffen. Diese prozessuale Pflicht entsteht folglich mit der Begründung eines Verfahrensverhältnisses und gilt insoweit, als während des hängigen Verfahrens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der Zustellung eines behördlichen Aktes gerechnet werden muss (BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399 mit Hinweisen). In der Lehre zur eidgenössischen ZPO wird allerdings vertreten, dass eine Partei mitunter auch vorprozessual mit einer Zustellung rechnen müsse (FRANÇOIS BOHNET, in: CPC, Code de procédure civile commenté, 2011, N. 26 zu Art. 138 ZPO; ROGER WEBER, in: ZPO, Kurzkommentar, Oberhammer [Hrsg.], 2010, N. 7 zu Art. 138 ZPO). Das Bestehen eines Prozessrechtsverhältnisses ist nach dieser Ansicht bloss ein Beispiel für einen Fall, in welchem mit Zustellungen zu rechnen ist.
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Im Gebiet des Schuldbetreibungsrechts hat das Bundesgericht entschieden, dass der Rechtsöffnungsprozess, der auf ein durch Rechtsvorschlag eingestelltes Betreibungsverfahren folgt, ein neues Verfahren darstellt. Der Schuldner muss allein aufgrund der Zustellung eines Zahlungsbefehls und des von ihm dagegen erhobenen Rechtsvorschlags noch nicht mit einem Rechtsöffnungsverfahren bzw. mit der Zustellung damit zusammenhängender Verfügungen rechnen. Die Zustellungsfiktion greift deshalb für das erste Schriftstück nicht, das dem Schuldner im Rahmen der Rechtsöffnung zugestellt werden soll (BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 400 f.; Urteile 5A_710/2010 vom 28. Januar 2011 E. 3.1; 5A_552/2011 vom 10. Oktober 2011 E. 2.1). Keine Rolle spielt, ob die Rechtsöffnung durch die Gläubigerin selber verfügt werden kann (wie im Fall der Krankenkassen und der Billag AG) oder ob dazu ein Gericht angerufen werden muss. Die erwähnte Rechtsprechung wurde zwar für Krankenkassen entwickelt (Urteil 5A_552/2011 vom 10. Oktober 2011 E. 2.1). Erst recht gilt allerdings für die gerichtliche Rechtsöffnung, dass es sich um ein neues Verfahren handelt. Die in BGE 130 III 396 entwickelte Rechtsprechung ist in diesem Sinne allgemeingültig. Das Bundesgericht hat sie denn auch kürzlich auf ein gerichtliches Rechtsöffnungsverfahren übertragen, und zwar im Anwendungsbereich von Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO (Urteil 5D_130/2011 vom 22. September 2011 E. 2). Rechtsmissbräuchliche Berufung des Schuldners auf das noch nicht begründete Prozessrechtsverhältnis findet allerdings keinen Schutz (Urteil 5D_130/2011 vom 22. September 2011 E. 2.2; vgl. auch Urteil 5A_172/2009 vom 26. Januar 2010 E. 5, in: BlSchK 2010 S. 210, zu den diversen Möglichkeiten des Gläubigers zur Schaffung von Indizien, die auf effektiven Zugang schliessen lassen).
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3.2 Das Verfahren auf Konkurseröffnung kann nicht anders behandelt werden. Es ist im Verhältnis zu den vorangegangenen Verfahrensschritten ebenfalls ein neues Verfahren. Es folgt nicht automatisch aus dem Einleitungsverfahren und auch nicht aus der Konkursandrohung (Art. 159 ff. SchKG), die der Konkursverhandlung und -eröffnung vorausgeht. Nach der Konkursandrohung muss vielmehr zuerst die zwanzigtägige Frist ablaufen, die dem Schuldner nochmals zur Begleichung seiner Schuld zur Verfügung steht (Art. 160 Abs. 1 Ziff. 3 und Art. 166 Abs. 1 SchKG). Sodann bedarf es nach Ablauf dieser Frist eines Konkursbegehrens des Gläubigers an das Konkursgericht (Art. 166 SchKG). Um das Konkursbegehren zu stellen, hat der Gläubiger eine - je nach den Umständen - mehr oder weniger lange Frist zur Verfügung: Er kann es - wie gesagt - frühestens nach Ablauf von zwanzig Tagen seit Zustellung der Konkursandrohung anbringen (Art. 166 Abs. 1 SchKG); zugleich muss er es innerhalb von 15 Monaten seit Zustellung des Zahlungsbefehls stellen, wobei diese Frist zwischen Einleitung und Erledigung eines durch einen allfälligen Rechtsvorschlag veranlassten Gerichtsverfahrens stillsteht (Art. 166 Abs. 2 SchKG). Zwischen Konkursandrohung bzw. Ablauf der letztmaligen Frist von zwanzig Tagen und der Einreichung des Konkursbegehrens kann demnach eine beträchtliche Zeitspanne liegen. Ohne die Initiative des Gläubigers gelangt das Verfahren von der Stufe des Betreibungsamts, das die Konkursandrohung ausstellt, somit nicht an das Konkursgericht.
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Die Konkursandrohung begründet folglich kein Prozessrechtsverhältnis vor dem Konkursrichter (Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 29. November 2004, in: ZR 104/2005 S. 174 ff.; DIGGELMANN/MÜLLER, in: Kurzkommentar SchKG, 2009, N. 2 zu Art. 168 SchKG). Erst durch das Konkursbegehren wird das Gerichtsverfahren auf Konkurseröffnung hängig. Der Schuldner könnte zwar allenfalls nach ungenutztem Ablauf der Zahlungsfrist und demgemäss vorprozessual mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass der Gläubiger den Konkurs anbegehren wird, sofern seit der Konkursandrohung keine allzu lange Zeitspanne verstrichen ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Pflicht zu einem Verhalten nach Treu und Glauben erst mit dem Prozessrechtsverhältnis entsteht. Der Gesichtspunkt des Bestehens oder Nichtbestehens eines Prozessrechtsverhältnisses bietet Rechtssicherheit, da sich für gleiche Verfahren jeweils gleich bestimmen lässt, ob ein Prozessrechtsverhältnis besteht und damit die Zustellungsfiktion greift oder ob dies nicht der Fall ist. Zugleich werden die Sorgfaltsanforderungen an den Schuldner nicht überspannt. Dem Schuldner kann deshalb nach Erhalt der Konkursandrohung noch nicht die Obliegenheit auferlegt werden, mit der Anzeige der Konkursverhandlung rechnen zu müssen (vgl. PIERRE-YVES BOSSHARD, Le recours contre le jugement de faillite, JdT 2010 II S. 119; a.A. PHILIPPE NORDMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. II, 2. Aufl. 2010, N. 13 zu Art. 168 SchKG; PIERRE-ROBERT GILLIÉRON, Commentaire de la loi fédérale sur la poursuite pour dettes et la faillite, 2001, N. 9 zu Art. 168 SchKG). Die Zustellungsfiktion ist folglich auf die Zustellung der Anzeige der Konkursverhandlung nicht anzuwenden.
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Die Beschwerdeführerin räumt allerdings ein, eine Abholungseinladung erhalten zu haben. Die Vorinstanz hat keine Feststellungen über den Inhalt der Abholungseinladung getroffen, und sie liegt auch nicht in den Akten. Es lässt sich demnach nicht nachweisen, dass die Beschwerdeführerin aus der Abholungseinladung auf die Art der zuzustellenden Sendung schliessen konnte und sie vom Versuch wusste, ihr die Anzeige der Konkursverhandlung zuzustellen. Somit ist von vornherein ausgeschlossen, die Abholungseinladung als Ersatz für das fehlende Prozessrechtsverhältnis zu betrachten und die Pflicht zu einem Verhalten nach Treu und Glauben auf den Empfang der Abholungseinladung zurückzubeziehen.
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3.4 Das Obergericht hat festgestellt, dass das Bezirksgericht der Beschwerdeführerin die Anzeige der Konkursverhandlung nach dem gescheiterten Zustellversuch nochmals mit gewöhnlicher A-Post gesandt und sie diese Sendung frühestens am 21. Oktober 2011 und damit am Tag der Konkursverhandlung entgegengenommen habe.
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Diese zweite Zustellung ändert am Gesagten nichts. Die Vorinstanz schliesst nicht aus, dass der Beschwerdeführerin die erneute Anzeige erst nach Durchführung der Konkursverhandlung zugestellt worden ist. Sie kann deshalb genauso wenig als vor der Konkursverhandlung zugestellt gelten wie die erste, eingeschriebene Anzeige. Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, ob die Anzeige gemäss Art. 168 SchKG überhaupt mit A-Post verschickt werden darf (Art. 138 Abs. 4 ZPO) oder ob sie mit eingeschriebener Post oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung versandt werden müsste (Art. 138 Abs. 1 ZPO). Da die Anzeige den Betroffenen die Teilnahme an der Verhandlung freistellt, handelt es sich nicht um eine Vorladung im technischen Sinne (BLUMENSTEIN, a.a.O., S. 573), so dass Art. 138 Abs. 1 ZPO jedenfalls nur analog anzuwenden wäre. Welches die Rechtsfolgen der blossen Nichteinhaltung der Dreitagesfrist sind, vermag ebenfalls offenzubleiben. Die Lehre ist in dieser Hinsicht gespalten (für die zwingende Einhaltung der Frist: WEBER/BRÜSTLEIN/REICHEL, Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl. 1901, N. 1 zu Art. 168 SchKG; WERNER BAUMANN, Die Konkurseröffnung nach dem Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 1979, S. 102; NORDMANN, a.a.O., N. 15 zu Art. 168 SchKG; dagegen: JAEGER UND ANDERE, a.a.O., N. 8 zu Art. 168 SchKG; DIGGELMANN/MÜLLER, a.a.O., N. 3 zu Art. 168 SchKG). Die Vorinstanz hält zwar für möglich (aber eben nicht für sicher), dass die zweite Anzeige der Beschwerdeführerin am Tag der Konkursverhandlung zugegangen ist, stellt aber selbst für diesen Fall nicht fest, dass ihr die Teilnahme an der Verhandlung tatsächlich noch möglich gewesen wäre. Es besteht somit kein Anlass, die Konsequenzen der blossen Nichteinhaltung der Dreitagesfrist zu untersuchen.
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