BGE 138 III 641 - Leitkultur als verbaler Rassismus | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher | |||
96. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. S.-Stiftung gegen X. (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_82/2012 vom 29. August 2012 | |
Regeste |
Art. 28 ZGB; Ehrverletzung durch ein gemischtes Werturteil. | |
Sachverhalt | |
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Nur rund 20 Personen beteiligen sich an einer Junge SVP-Kundgebung für ein Minarettverbot. Gemäss dem Veranstaltungsbericht betont X., Präsident der JSVP Thurgau, dass es an der Zeit sei, der Ausbreitung des Islams Einhalt zu gebieten. Und weiter fügt er an: Die Schweizer Leitkultur, welcher das Christentum zugrunde liege, dürfe sich nicht von anderen Kulturen verdrängen lassen. Ein symbolisches Zeichen wie das Minarettverbot sei daher ein Ausdruck für den Erhalt der eigenen Identität.
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Der Eintrag "Frauenfeld TG, 5. November 2009" findet sich unter dem Tatbestand "Verbaler Rassismus". Neben der Liste mit Tatbeständen sind die Ereignisse auch nach Monaten geordnet. Unter "November 09 (21)" ist der Eintrag "Frauenfeld TG, 5. November 2009" an vierter Stelle verzeichnet mit der Anmerkung "Verbaler Rassismus" in Klammern.
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X. erhob gegen die Stiftung eine Klage wegen Verletzung seiner Persönlichkeit durch den unter "Verbaler Rassismus" veröffentlichten Eintrag "Frauenfeld TG, 5. November 2009". Das Obergericht schützte die Klage und erliess gegen die Stiftung das Verbot, den Eintrag unter der Überschrift "Frauenfeld TG, 5. November 2009" über X. weiter auf ihrer Internetseite sowie in ihren anderen Publikationsmitteln unter dem Titel oder in der Rubrik "Verbaler Rassismus" zu publizieren.
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Die Stiftung (Beschwerdeführerin) beantragt dem Bundesgericht, die Klage abzuweisen. X. (Beschwerdegegner) schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
3. Das Einordnen und Kommentieren der Äusserungen einer Person als "Verbaler Rassismus" verletzt die betreffende Person in ihrer Ehre. Nicht nur vor dem Hintergrund des Straftatbestandes der Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB), sondern ganz allgemein ist die fragliche Bezeichnung nach Massgabe des Durchschnittslesers geeignet, die Person, deren Äusserungen als "Verbaler Rassismus" eingeordnet und kommentiert werden, im Ansehen der Mitmenschen empfindlich herabzusetzen, wird ihr doch ein sozial missbilligtes Verhalten in Gestalt von rechtsstaatlich zumindest bedenklichem Handeln vorgeworfen (vgl. BGE 127 III 481 E. 2b/aa S. 487; BGE 129 III 49 E. 2.2 S. 51 und 715 E. 4.1 S. 722). Die Beschwerdeführerin hat die Rede, die der Beschwerdegegner an der öffentlichen Kundgebung vom 5. November 2009 gehalten hat, auf ihrer im Internet frei zugänglichen Website unter der Rubrik "Verbaler Rassismus" eingeordnet und mit dem Begriff "Verbaler Rassismus" kommentiert. Sie hat damit die Ehre des Beschwerdegegners als Teil seiner Persönlichkeit im Sinne von Art. 28 Abs. 1 ZGB verletzt. Die Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist (Art. 28 Abs. 2 ZGB).
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4.1.1 Die Verbreitung wahrer Tatsachen ist grundsätzlich durch den Informationsauftrag der Presse gedeckt, es sei denn, es handle sich um Tatsachen aus dem Geheim- oder Privatbereich oder die betroffene Person werde in unzulässiger Weise herabgesetzt, weil die Form der Darstellung unnötig verletzt (vgl. BGE 126 III 305 E. 4b/aa S. 306; BGE 132 III 641 E. 3.2 S. 645). Allerdings ist der Informationsauftrag der Presse kein absoluter Rechtfertigungsgrund und eine Interessenabwägung im Einzelfall unentbehrlich. Eine Rechtfertigung dürfte regelmässig gegeben sein, wenn die berichtete wahre Tatsache einen Zusammenhang mit der öffentlichen Tätigkeit oder Funktion der betreffenden Person hat (vgl. BGE 126 III 209 E. 3a S. 212 und E. 4 S. 215 f.; BGE 127 III 481 E. 2c/aa S. 488 f.).
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4.1.2 Die Veröffentlichung unwahrer Tatsachen ist demgegenüber an sich widerrechtlich. An der Verbreitung von Unwahrheiten kann nur in seltenen, speziell gelagerten Ausnahmefällen ein hinreichendes Interesse bestehen. Indessen lässt noch nicht jede journalistische Unkorrektheit, Ungenauigkeit, Verallgemeinerung oder Verkürzung eine Berichterstattung insgesamt als unwahr erscheinen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erscheint eine in diesem Sinne unzutreffende Presseäusserung nur dann als insgesamt unwahr und persönlichkeitsverletzend, wenn sie in wesentlichen Punkten nicht zutrifft und die betroffene Person dergestalt in einem falschen Licht zeigt bzw. ein spürbar verfälschtes Bild von ihr zeichnet, das sie im Ansehen der Mitmenschen - verglichen mit dem tatsächlich gegebenen Sachverhalt - empfindlich herabsetzt (vgl. BGE 126 III 305 E. 4b/aa S. 307 f.; BGE 129 III 49 E. 2.2 S. 51 f.).
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4.3 Unter "Rassismus" wird einerseits die "Lehre" verstanden, "nach der bestimmte Rassen od. auch Völker hinsichtlich ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit anderen von Natur aus überlegen sind", und andererseits die "entsprechende Einstellung, Denk- und Handlungsweise gegenüber Menschen (bestimmter) anderer Rassen od. auch Völker" (vgl. Duden, Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden, Bd. 5, 1980, S. 2099). Das Eigenschaftswort "Verbal" beschreibt den Rassismus als "mit Worten, mit Hilfe der Sprache [erfolgend]" (vgl. Duden, a.a.O., Bd. 6, 1981, S. 2730). "Verbaler Rassismus" ist deshalb nicht mehr bloss eine bestimmte Gesinnung, sondern weitergehend die durch Sprache (statt z.B. in Taten) - hier öffentlich - zum Ausdruck gebrachte Gesinnung. Mit "Verbaler Rassismus" könnte somit Rassendiskriminierung im strafrechtlichen Sinne gemeint sein, wie der Beschwerdegegner das behauptet. Entscheidend ist indessen, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, dass das blosse Aufzeigen einer Verschiedenheit zwischen zwei Individuen oder Gruppen noch keinen Rassismus darstellt. Rassismus beginnt dort, wo der Unterschied gleichzeitig eine Abwertung der Opfer bedeutet und das Hervorheben von Unterschieden letztlich nur ein Mittel ist, die Opfer negativ darzustellen und deren Würde zu missachten.
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4.4.3 An der Beurteilung ändert nichts, dass im überwiegenden Informationsinteresse der Öffentlichkeit ein erhöhtes Mass an Publizität und einen herabgesetzten Persönlichkeitsschutz in Kauf nehmen muss, wer sich in einer politischen Auseinandersetzung exponiert, wie das der Beschwerdegegner im Abstimmungskampf um die Minarettinitiative getan hat (vgl. BGE 105 II 161 E. 3b S. 165; BGE 107 II 1 E. 3b S. 5). Der besondere Rahmen gestattet zwar die Beurteilung von Ehrverletzungen nach einem etwas anderen Massstab, vermag aber weder die Verbreitung von wahrheitswidrigen Tatsachen noch die Veröffentlichung von Werturteilen zu rechtfertigen, die mit Rücksicht auf den ihnen zugrunde liegenden Sachverhalt nicht als vertretbar erscheinen.
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4.5 Aus den dargelegten Gründen kann die obergerichtliche Verneinung eines Rechtfertigungsgrundes im Sinne von Art. 28 Abs. 2 ZGB nicht beanstandet werden. Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, inwieweit sich die Beschwerdeführerin auf einen der Presse vergleichbaren Informationsauftrag berufen kann, wie sie das geltend gemacht hat.
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