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44. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_793/2014 vom 18. Mai 2015 | |
Regeste |
Art. 313 ZPO; Anschlussberufung. | |
Sachverhalt | |
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B. Am 4. November 2010 reichten die Parteien beim Bezirksgericht Baden einen gemeinsamen Scheidungsantrag ein. Zugleich ersuchte B. um unentgeltliche Rechtspflege. Am 12. November 2010 ersuchte A. ebenfalls um unentgeltliche Rechtspflege.
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Am 13. Januar 2011 stellte B. Anträge zu den Scheidungsfolgen. Unter anderem verlangte er, A. zur Bezahlung eines angemessenen Prozesskostenvorschusses (mindestens Fr. 6'000.-) zu verpflichten und ihm eventualiter die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
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Am 11. Mai 2011 stellte A. Anträge zu den Scheidungsfolgen.
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Am 21. August 2012 ersuchte B. (wiedererwägungsweise) um nochmalige Prüfung seiner Gesuche um Prozesskostenvorschuss sowie (eventualiter) unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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Mit Entscheid vom 12. Oktober 2012 schied das Bezirksgericht die Ehe und regelte die Scheidungsfolgen. Ausserdem änderte es die Verfügung vom 29. April 2011 ab und verpflichtete A., B. einen Prozesskostenvorschuss von Fr. 6'000.- zu bezahlen.
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C. Gegen diesen Entscheid erhoben am 19. November 2012 sowohl B. wie auch A. Berufung an das Obergericht des Kantons Aargau. B. wandte sich einzig gegen die ihm auferlegte güterrechtliche Ausgleichszahlung. Zudem verlangte er einen Prozesskostenvorschuss von Fr. 16'043.- und eventualiter die Gewährung unentgeltlicher Rechtspflege und Verbeiständung für das Berufungsverfahren. A. wandte sich gegen die erstinstanzliche Unterhaltsregelung. Sie ersuchte um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Berufungsverfahren.
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Das Obergericht verwies B. für den Prozesskostenvorschuss an das Bezirksgericht, welches das Gesuch am 10. April 2013 abwies.
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Am 17. Juni 2013 erstattete A. die Berufungsantwort und erhob zugleich Anschlussberufung. Mit der Anschlussberufung verlangte sie die Aufhebung des bezirksgerichtlichen Urteils hinsichtlich der ihr auferlegten Pflicht zur Zahlung eines Prozesskostenvorschusses an B.
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Am 17. Juni 2013 beantragte B. die Abweisung der Berufung von A. Am 21. August 2013 beantragte er zudem, auf die Anschlussberufung nicht einzutreten und sie allenfalls abzuweisen.
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Mit Verfügungen vom 15. Oktober 2013 wies das Obergericht die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ab.
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Mit Entscheid vom 20. August 2014 trat das Obergericht auf die Anschlussberufung von A. nicht ein. Die Berufung von B. wies es ab und diejenige von A. ebenfalls, soweit darauf einzutreten war.
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D. Am 13. Oktober 2014 hat A. (Beschwerdeführerin) Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht erhoben. Sie wendet sich ![]() | 14 |
Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. B. ersucht um Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist die Sache zur Beurteilung der Anschlussberufung an das Obergericht zurück.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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2.2 Art. 313 Abs. 1 ZPO bestimmt, dass die Gegenpartei in ihrer Berufungsantwort Anschlussberufung erheben kann. Die Anschlussberufung ist das Rechtsmittel, mit dem der Berufungsbeklagte in einem vom Berufungskläger bereits eingeleiteten Berufungsverfahren beantragt, dass der angefochtene Entscheid zuungunsten des Berufungsklägers abgeändert wird. Die Anschlussberufung ist nicht auf den Gegenstand der Berufung beschränkt und kann sich demnach auf einen beliebigen, mit diesem nicht notwendig in Zusammenhang stehenden Teil des Urteils beziehen (BGE 138 III 788 E. 4.4 S. 790 f.). Sie hat jedoch keine selbstständige Wirkung: Zieht die Gegenpartei ![]() | 20 |
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In der Lehre ist die Frage umstritten: Ein Teil der Autoren ist (unter Bezugnahme auf die ehemaligen kantonalen Zivilprozessordnungen sowie die kantonale Praxis) der Ansicht, dass eine Anschlussmöglichkeit in diesen Fällen zu bejahen ist. Eine Anschlussberufung sei trotz der Erhebung einer selbstständigen Berufung zulässig, da die betreffende Partei mit einer Hauptberufung der Gegenpartei konfrontiert wird, deren Anträge sie im Zeitpunkt der Abfassung ihrer eigenen Hauptberufungsanträge noch nicht habe kennen können. Entsprechend sei die Partei auch nicht in der Lage, durch Rückzug ihrer eigenen Hauptberufung die Hauptberufung der Gegenpartei zu Fall zu bringen, und habe daher den Verlust ihres Teilerfolges vor erster Instanz zu befürchten. Die Partei sei Hauptberufungskläger und Hauptberufungsbeklagter, was sie zur Anschlussberufung legitimiere. Die Tatsache der Erhebung einer eigenen Hauptberufung bringe (nur) zum Ausdruck, dass eine Partei mit dem erstinstanzlichen Entscheid nicht einverstanden sei; gerade deshalb sollte eine Hauptberufung führende Partei nicht schlechter gestellt werden, als eine Partei, welche überhaupt keine eigene Hauptberufung ergriffen habe und mit dem erstinstanzlichen Entscheid grundsätzlich einverstanden gewesen wäre. Es entspreche denn auch einem praktischen Bedürfnis, auf eine Hauptberufung der Gegenpartei adäquat reagieren zu können, was denn auch der Zweck des Instituts der Anschlussberufung überhaupt sei. Welcher Art dieses Bedürfnis sei, zeige sich jedoch erst nach Zustellung der Hauptberufung der ![]() ![]() | 22 |
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Im Vordergrund muss deshalb eine an Sinn und Zweck der Anschlussberufung orientierte Auslegung stehen. Dabei vermögen die von den Befürwortern der Zulassung einer Anschlussberufung angeführten ![]() | 24 |
Die Möglichkeit zur Kumulation rechtfertigt sich des Weiteren dadurch, dass Hauptberufung und Anschlussberufung nicht dieselben Ziele verfolgen und sich in ihren Wirkungen unterscheiden: Die Hauptberufung zielt direkt gegen den angefochtenen Entscheid; die Anschlussberufung zielt gegen die Hauptberufung der anderen Partei, wobei die Anfechtung des erstinstanzlichen Entscheids Mittel zu diesem Zweck darstellt (vgl. oben E. 2.2). Während die Partei mit einer Hauptberufung kundtut, dass sie in der einen oder anderen Weise mit dem angefochtenen Entscheid nicht einverstanden ist, so tut sie dies mit der Anschlussberufung nicht direkt, sondern nur in Abhängigkeit von der Hauptberufung der Gegenpartei. Durch den Verzicht auf die Hauptberufung in einem bestimmten Punkt hat sie zu erkennen gegeben, dass sie sich insoweit mit dem angefochtenen Entscheid abfinden könnte. Auch wenn sie allenfalls damit nicht völlig einverstanden ist, kann sie beispielsweise auf eine Berufung in einem bestimmten Punkt verzichten, um eine weitere Verlängerung des Prozesses zu verhindern oder weitere Kosten zu vermeiden. Eine Stellungnahme, wie sie auf eine allfällige Hauptberufung der Gegenpartei reagieren würde, ist damit jedoch nicht verbunden. Vielmehr können die Motive, die sie zum (teilweisen) Verzicht auf die Hauptberufung bewogen haben, angesichts der gegnerischen Hauptberufung ihre Bedeutung verloren haben (vgl. BGE 138 III 788 E. 4.4 S. 790 f.). Darüber, wie auf die Hauptberufung zu reagieren ist (ob mit blosser Berufungsantwort oder mit Anschlussberufung), kann - wie bereits gesagt - die Partei erst entscheiden, wenn die Gegenpartei tatsächlich Hauptberufung erhoben hat. Es besteht ![]() | 25 |
In der Zulassung der Anschlussberufung nach eigener Hauptberufung liegt keine Ungleichbehandlung der Parteien, wie die Vorinstanz befürchtet: Beiden Parteien, die Hauptberufung erhoben haben, steht es grundsätzlich frei, je Anschlussberufung zu erheben. Beide Parteien können sich damit grundsätzlich in der gleichen Weise und gleich oft äussern, wobei die Möglichkeit zur Anschlussberufung unter der Bedingung der Erhebung einer Hauptberufung durch die Gegenseite steht. Mit der vorliegenden Lösung haben beide Parteien die jeweils gleichen Handlungsmöglichkeiten: In einem ersten Schritt kann jede über die selbständige Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils befinden, und sodann - wenn die Gegenseite Berufung erhoben hat - in einem zweiten Schritt über ihre Reaktion auf die gegnerische Berufung. Die Vorinstanz sieht die Ungleichbehandlung allerdings darin, dass in einer Konstellation wie der vorliegenden die anschlussberufungsbeklagte Seite auf die Anschlussberufung der Gegenseite hin keine eigene Anschlussberufung erheben kann (im ![]() | 26 |
Dass die Verfahren durch die Zulassung der Anschlussberufung nach Erhebung einer eigenen Hauptberufung unnötig kompliziert würden, ist nicht zu befürchten. Die oberen kantonalen Gerichte sehen sich dadurch - bei zwei Beteiligten - maximal zwei Haupt- und zwei Anschlussberufungen gegenüber.
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Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Anschlussberufung beantragt, die ihr vom Bezirksgericht auferlegte Verpflichtung zur Zahlung eines Prozesskostenvorschusses aufzuheben. Tatsächlich hat sie sich bereits in der Berufung zu diesem Punkt geäussert und das erstinstanzliche Urteil kritisiert. Allerdings stehen ihre Äusserungen im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Berufungsverfahren. Angesichts dessen, dass sie sich in diesem Rahmen zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen äussern musste, ist es nachvollziehbar, dass sie ![]() | 29 |
2.6 Aus dem Gesagten folgt, dass die Beschwerde in diesem Punkt begründet ist und die Sache an das Obergericht zur weiteren Beurteilung der Anschlussberufung zurückgewiesen werden muss. Das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin an der Beurteilung ihrer Anschlussbeschwerde ist nicht dadurch entfallen, dass das Obergericht die Beschwerde des Beschwerdegegners abgewiesen hat. Es liegt keiner der Fälle gemäss Art. 313 Abs. 2 ZPO für das Dahinfallen der Anschlussberufung vor. Die oberen Gerichte müssen eine Anschlussberufung auch dann beurteilen, wenn sie in der Urteilsberatung zum Schluss kommen, dass sie die Hauptberufung, auf die sich die Anschlussberufung bezieht, abweisen wollen (zur "Verselbständigung" der Anschlussberufung vgl. Urteil 4A_333/2014 vom 23. Juli 2014 E. 2.3).
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