BGE 143 III 617 | |||
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77. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) |
5A_857/2016 vom 8. November 2017 | |
Regeste |
Art. 9 BV; Art. 179 ZGB; Abänderung des Unterhaltsbeitrages an den Ehegatten für die Dauer des Scheidungsverfahrens; Prozesskostenvorschusspflicht. |
Verhältnis des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtspflege im Beschwerdeverfahren zum materiell-rechtlichen Anspruch auf Leistung eines Prozesskostenvorschusses durch Ehegatten (E. 7). | |
Sachverhalt | |
A., Jahrgang 1963, und B., Jahrgang 1965, haben 2001 geheiratet. Sie sind die Eltern der C. (geb. 2000) und des D. (geb. 2006). Im August 2011 haben die Eheleute den gemeinsamen Haushalt aufgehoben; das Getrenntleben musste eheschutzrichterlich geregelt werden. Mit Entscheid vom 6. Oktober 2011 wurden die beiden Kinder unter die Obhut der Mutter gestellt und wurde A. verpflichtet, nebst Kinderunterhalt der Ehefrau einen Beitrag von Fr. 4'300.- an deren Unterhalt zu bezahlen. Die Beiträge basierten auf dem Einkommen des Ehemannes aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit in der Höhe von monatlich Fr. 14'450.- (netto). A. war damals in der Rechtsabteilung eines Grossunternehmens angestellt und befasste sich mit immaterialgüterrechtlichen Fragen, während seine Ehefrau den Haushalt besorgte und die Kinder betreute.
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Zwischen den Ehegatten ist seit dem 31. Juli 2013 ein Scheidungsverfahren hängig.
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A. wurde per Ende Oktober 2014 von seinem Arbeitgeber gekündigt. Nach erfolgloser Stellensuche machte er sich selbstständig.
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Am 17. September 2015 beantragte A. eine Abänderung der Eheschutzurteile. Mit Entscheid vom 8. Dezember 2015 setzte die Gerichtspräsidentin die Unterhaltsbeiträge wie folgt fest: für die Ehefrau Fr. 2'440.- für die Zeit ab 1. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016, Fr. 2'500.- ab Februar 2016 bis 30. Juni 2016 und Fr. 2'150.- ab Juli 2016. Ausserdem verpflichtete die Gerichtspräsidentin A., seiner Ehefrau jährlich seine Bilanz und Erfolgsrechnung bis spätestens Ende Mai des Folgejahres zukommen zu lassen und die Hälfte des Fr. 122'000.- gegebenenfalls übersteigenden Reingewinns zu überweisen, maximal jedoch Fr. 49'200.- pro Jahr.
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Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt A. (Beschwerdeführer), die Unterhaltsbeiträge an B. (Beschwerdegegnerin) wie folgt festzusetzen: Fr. 2'440.- für die Zeit ab 1. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016, Fr. 2'500.- ab 1. Februar 2016 bis 31. Dezember 2016 und Fr. 2'066.75 ab 1. Januar 2017. Ausserdem sei er zu verpflichten, der Beschwerdegegnerin jährlich seine Bilanz und Erfolgsrechnung bis spätestens Ende Mai des Folgejahres zukommen zu lassen und die Hälfte des Fr. 122'000.- gegebenenfalls übersteigenden Reingewinns zu überweisen, maximal jedoch Fr. 49'200.- pro Jahr. Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuem Entscheid an das Obergericht zurück.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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(...)
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5. Sodann hält der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Feststellung für willkürlich, in Bezug auf die mit dem Jahresabschluss 2015 untermauerte Einkommenseinbusse fehle es an der Dauerhaftigkeit der Veränderung.
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Eine dauerhafte Veränderung der Einkommensverhältnisse, die eine Abänderung von Eheschutzmassnahmen rechtfertigt (E. 3.1 oben), kann der selbstständig erwerbstätige Ehegatte in der Regel auch nur durch mehrere Jahresabschlüsse belegen, die stetig sinkende Erträge ausweisen (z.B. Urteil 5P.330/2006 vom 12. März 2007 E. 3.3). Ein einzelner besonders guter oder schlechter Jahresabschluss begründet keine dauerhafte Veränderung (z.B. Urteil 5A_617/2017 vom 28. September 2017 E. 3.2: "Or, au vu des principes énoncés, le premier juge pouvait de toute manière considérer que les comptes de la société portant sur une seule année, soit 2016, n'étaient pas susceptibles de démontrer une évolution défavorable durable de la société, voire du bénéfice réalisé.").
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5.2 Als "dauerhaft" im Sinne der Abänderungsvoraussetzungen (E. 3.1 oben) kann im Einzelfall eine mehr als vier Monate dauernde Arbeitslosigkeit gelten (Urteile 5A_138/2015 vom 1. April 2015 E. 4.1.1; 5A_972/2015 vom 22. März 2016 E. 5.2; für die Abänderung von Scheidungsurteilen: Urteile 5A_78/2014 vom 25. Juni 2014 E. 4.2, in: SJ 2014 I S. 460; 5A_352/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 4.3, in: FamPra.ch 2011 S. 230 und Praxis 2011 Nr. 104 S. 744).
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Die Rechtsprechung stützt sich auf Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG; Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung; SR 837.0) und in der Arbeitslosenversicherungsverordnung (AVIV; Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung; SR 837.02). Danach ist vorgesehen, dass Arbeitslosenentschädigung nur erhält, wer ganz oder teilweise arbeitslos ist (Art. 8 Abs. 1 lit. a und Art. 10 AVIG), und zwar unverschuldet arbeitslos ist, ansonsten der Versicherte in seiner Anspruchsberechtigung eingestellt werden kann (Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG), und dass der fortdauernde Bezug von Arbeitslosenentschädigung insbesondere voraussetzt, dass der Versicherte den von der Amtsstelle monatlich überprüften Nachweis persönlicher Arbeitsbemühungen erbringt (Art. 17 Abs. 1 AVIG i.V.m. Art. 26 AVIV), ansonsten er in seiner Anspruchsberechtigung eingestellt werden kann (Art. 30 Abs. 1 lit. c AVIG).
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Auch wenn das Massnahmengericht im Abänderungsverfahren nicht an Entscheide der Verwaltungsbehörden gebunden ist, darf es die Tatsachen, dass staatliche Arbeitslosenentschädigung zugesprochen wurde und während Monaten fortlaufend ausgerichtet wird, zumindest als Indizien dafür würdigen, dass der Betroffene tatsächlich und unfreiwillig arbeitslos ist und sich persönlich um Arbeit bemüht. Der Bezug von Arbeitslosenentschädigung während mehreren, in der Regel mindestens vier Monaten kann im Einzelfall als dauerhafte Veränderung der Einkommensverhältnisse anerkannt werden (Urteil 5P.445/2004 vom 9. März 2005 E. 2.3).
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5.3 Eine ähnlich günstige Indizienlage besteht nicht, wo ein Ehegatte während des Getrenntlebens tatsächlich und unfreiwillig seine Arbeitsstelle verliert, dann aber eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnimmt, anstatt staatliche Arbeitslosenentschädigung zu beziehen. Mit Rücksicht auf die Vergleichbarkeit der Sachverhalte stellt sich die Frage, ob dem betreffenden Ehegatten - im Gegensatz zu einem Arbeitslosenentschädigung beziehenden Ehegatten - zuzumuten ist, mehrere Jahre zu warten, bis das Massnahmengericht die Dauerhaftigkeit der Veränderung beurteilen zu können meint, weil sich die Leistungskraft eines Selbstständigerwerbenden in der Regel anhand der drei letzten Jahresabschlüsse bestimmt (E. 5.1 oben). Die Frage einfach zu bejahen, hiesse, Eigeninitiative zu bestrafen und Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln. Wo ein Ehegatte während des Getrenntlebens seine Arbeitsstelle unfreiwillig verliert und eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnimmt, darf deshalb im Abänderungsverfahren nicht schematisch vorausgesetzt werden, dass die Veränderung der Einkommensverhältnisse erst dann glaubhaft gemacht ist, wenn sie sich auf mehrere Jahresabschlüsse stützen lässt. Darüber ist vielmehr aufgrund sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls zu entscheiden.
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5.4.2 Sodann sind die Belege über das Einkommen aus der neu aufgenommenen selbstständigen Erwerbstätigkeit zu würdigen. Vorgelegt werden muss zumindest eine Zwischenbilanz, die einen Zeitraum von mehreren Monaten abdeckt. In der Würdigung stellen sich namentlich die Fragen, ob Abschreibungen oder Rückstellungen aufzurechnen sind, die tatsächlich zu Ersparnissen bzw. versteckten Gewinnen führen (vgl. Urteile 5P.307/2006 vom 25. August 2006 E. 2.3; 5A_280/2015 vom 27. November 2015 E. 4.2.3, in: FamPra.ch 2016 S. 462), oder ob gar Indizien dafür bestehen, dass das ausgewiesene nicht mit dem tatsächlichen Einkommen übereinstimmt und das Einkommen deshalb nicht auf der Grundlage der Zwischenbilanz, sondern beispielsweise anhand der Privatbezüge zu ermitteln ist (vgl. Urteile 5A_246/2009 vom 22. März 2010 E. 3, in: FamPra.ch 2010 S. 678; 5A_72/2012 vom 12. April 2012 E. 4.2, in: FamPra.ch 2012 S. 1110). Gegebenenfalls kann die Schlüssigkeit der Zwischenbilanz aufgrund amtlicher Lohnstrukturerhebungen geprüft werden (BGE 128 III 4 E. 4c/bb-cc). Die Beschwerdegegnerin hat diese Fragen im kantonalen Verfahren aufgeworfen und vorab geltend gemacht, in der vom Beschwerdeführer eingereichten Bilanz ausgewiesene "überzogene" Positionen seien aufzurechnen. Das Obergericht hat die Fragen ausdrücklich offengelassen.
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5.5 Mit den vorstehend beispielhaft aufgezählten Gesichtspunkten hat sich das Obergericht nicht befasst. Es hat das Abänderungsgesuch des Beschwerdeführers ausschliesslich deshalb abgewiesen, weil ihm allein gestützt auf einen einzigen Jahresabschluss eine dauerhafte Veränderung der Einkommensverhältnisse nicht als glaubhaft gemacht erschien. Das Obergericht ist damit zwar den für Ehegatten geltenden Grundsätzen gefolgt, die bereits vor Aufnahme und auch während des Getrenntlebens selbstständig erwerbstätig waren (E. 5.1 oben), hat aber dem besonderen Fall, dass ein Ehegatte wie der Beschwerdeführer erst während des Getrenntlebens seine Arbeitsstelle verloren und eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, keine Rechnung getragen. Darin ist eine Rechtsverweigerung zu erblicken, so dass die Abweisung des Abänderungsgesuchs mit der gegebenen Begründung der Willkürprüfung nicht standhält.
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(...)
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Der Anspruch auf Bevorschussung der Gerichts- und Anwaltskosten ist im materiellen Zivilrecht begründet und hätte vor dem zuständigen Sachgericht im kantonalen Verfahren geltend gemacht werden müssen. Ein entsprechendes Gesuch kann auch nicht als Antrag auf Erlass einer vorsorglichen Massnahme gemäss Art. 104 BGG gestellt werden und ist im bundesgerichtlichen Verfahren vielmehr unzulässig (Urteile 5A_382/2010 vom 22. September 2010 E. 1.4; 5A_97/2017 vom 23. August 2017 E. 12.1; 5A_362/2017 vom 24. Oktober 2017 E. 4).
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Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ist gegenüber dem materiell-rechtlichen Anspruch auf Bevorschussung der Prozesskosten subsidiär (BGE 142 III 36 E. 2.3). Da die Beschwerdegegnerin nicht dartut, dass ihr Gesuch um Bevorschussung der Prozesskosten für das bundesgerichtliche Verfahren durch den Beschwerdeführer erfolglos geblieben wäre, kann ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nicht entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG; Urteil 5A_508/2007 vom 3. Juni 2008 E. 5; zit. Urteil 5A_362/2017 E. 6; vgl. dazu NICOLAS VON WERDT, Die Beschwerde in Zivilsachen, 2010, S. 128 Rz. 567).
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