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80. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.E. gegen NVB - Nationales Versicherungsbüro Schweiz sowie Konkursmasse im Nachlass B.E. (Beschwerde in Zivilsachen) |
4A_241/2016 vom 19. September 2017 | |
Regeste |
Art. 42 Abs. 3 und Art. 43 Abs. 1bis OR; Tier, das im häuslichen Bereich gehalten wird. | |
Sachverhalt | |
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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Es ist unbestritten, dass die Stute X. von der Beschwerdeführerin nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten wurde. Zu prüfen ist, ob sie ein "im häuslichen Bereich" gehaltenes Tier ist. Das Bundesgericht musste bislang noch nie zu diesem Begriff Stellung nehmen.
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Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, unter anderem, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Norm wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Sinn und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben (BGE 140 II 129 E. 3.2 S. 131; BGE 140 IV 108 E. 6.4 S. 111; BGE 140 V 213 E. 4.1 S. 216 f.; je mit Hinweisen). Eine historisch orientierte Auslegung ist für sich allein nicht entscheidend; anderseits vermag aber nur sie die Regelungsabsicht des Gesetzgebers (die sich insbesondere aus den Materialien ergibt) aufzuzeigen, welche wiederum zusammen mit den zu ihrer Verfolgung getroffenen Wertentscheidungen verbindliche Richtschnur des Gerichts bleibt, auch wenn es das Gesetz mittels teleologischer Auslegung oder Rechtsfortbildung veränderten, vom Gesetzgeber nicht vorausgesehenen Umständen anpasst oder es ergänzt (BGE 140 III 616 E. 3.3 S. 621; BGE 138 III 359 E. 6.2 S. 361; BGE 137 V 13 E. 5.1 S. 17; vgl. auch BGE 140 III 206 E. 3.5.3 S. 213 f.).
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3.1 Der deutsche ("im häuslichen Bereich") und der französische Text ("milieu domestique") stimmen überein und gehen von einer räumlichen Einschränkung aus. Der - für das schweizerische Recht ungewohnte - Begriff "im häuslichen Bereich" wurde aus § 811c Abs. 1 der deutschen ZPO übernommen und erfasst dort Tiere im räumlichen Machtbereich des Tierhalters (GOETSCHEL/BOLLIGER, Das ![]() | 10 |
Demgegenüber ist der italienische Ausdruck "animali domestici" weiter. Ein Haustier ist ein Tier, das vom Menschen versorgt wird und in seiner Umgebung lebt; es ist der Gegenbegriff zum Wildtier (so auch die Gegenüberstellung in Art. 12 i.V.m. Art. 35 Abs. 1 der bei Erlass dieser Bestimmungen in Kraft gewesenen Tierschutzverordnung vom 27. Mai 1981 [aTSchV; AS 1981 575 und 580]; ähnlich nunmehr Art. 2 Abs. 1 der Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 [TSchV; SR 455.1]; vgl. auch Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 1983, S. 551 "nicht frei lebendes, an den Menschen gewöhntes Tier"). Innerhalb des so abgegrenzten Begriffs der Haustiere wird unterschieden zwischen den Nutztieren und den Tieren, die der Mensch aus emotionalen Gründen hält (GOETSCHEL/BOLLIGER, a.a.O., S. 83; DE PORET, a.a.O., S. 288 Rz. 932). Ausgehend von dieser Abgrenzung würde das (domestizierte) Freizeitpferd tel quel unter den italienischen Text "animali domestici" fallen. Stellt man aber auf den deutschen und französischen Wortlaut ab, kommt es darauf an, wie gross die räumliche Distanz zur Wohnung des Tierhalters ist. Eine Distanz von sechs Kilometern wie vorliegend wäre nicht mehr der häusliche Bereich.
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Andererseits wurden im Rahmen der Kommissionsberichte Bemerkungen zu einzelnen Bestimmungen gemacht, die Pferde ausschliessen. So heisst es im Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats zur parlamentarischen Initiative "Tier ist keine Sache" und zur parlamentarischen Initiative "Wirbeltiere. Gesetzliche Bestimmungen" vom 18. Mai 1999 zum neuen Art. 722 Abs. 1bis ZGB (Eigentumserwerb bei Fund), mit den Tieren im häuslichen Bereich seien "Tiere gemeint, zu denen der Besitzer eine besonders enge Beziehung hat, unabhängig davon, ob sie im Haus, im Garten oder im Stall gehalten werden. Eingeschränkt wird der Geltungsbereich durch die Bedingung, dass diese Tiere nicht zu Vermögens- oder Erwerbszwecken gehalten werden. In die Interessenabwägung einzubeziehen ist aber auch der wirtschaftliche Wert eines Tieres. Wer beispielsweise ein Pferd findet, kann sich nicht oder nur ausnahmsweise auf diese Bestimmung berufen, selbst dann nicht, wenn er eine enge Beziehung zum Tier entwickelt hat" (BBl 1999 8942 f. Ziff. 332.1. Wörtlich gleich: Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats zur parlamentarischen Initiative "Die Tiere in der schweizerischen Rechtsordnung" vom 25. Januar 2002, BBl 2002 4170 Ziff. 3.3.2.1). Schliesslich bemerkte der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2002 zu diesem Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats (BBl 2002 5808 Ziff. 2.2), der neu vorgeschlagene Art. 92 [Abs. 1] Ziff. 1a SchKG werde wohlkeine praktischen Wirkungen zeitigen, denn es könne davon ausgegangen werden, dass bei Tieren, die im häuslichen Bereich und ![]() | 15 |
Den Ausführungen in den Räten selber ist höheres Gewicht beizumessen als solchen in vorbereitenden Berichten. Daher sprechen die Materialien insgesamt eher für ein weites Verständnis des strittigen Begriffs, das nicht entscheidend auf die räumliche Distanz abstellt.
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Angesichts der erwähnten Hinweise im Gesetzgebungsprozess namentlich zu Art. 92 Abs. 1 Ziff. 1a SchKG lässt sich fragen, ob Pferde - sie bereiten ja vor allem Mühe bei der Abgrenzung - wegen ihres Wertes nicht erfasst sein sollten. Mit andern Worten, ob der Gesetzgeber davon ausging, Pferde würden nicht in die geschützte Kategorie fallen, andernfalls er nicht hätte ausführen können, die Verwertung der von Art. 92 Abs. 1 Ziff. 1a SchKG erfassten unpfändbaren Tiere würde ohnehin kaum zu einem Erlös führen. Ob und inwiefern ein hoher Verkehrswert eines Tieres bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, betrifft allerdings primär, wenn nicht gar ausschliesslich, diese betreibungsrechtliche Norm, denn dort stehen den Interessen des Tierhalters die Gläubigerinteressen entgegen, die wiederum in Relation zum Wert des Tieres stehen. Ob dieser ![]() | 18 |
3.5 Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass jedenfalls auch ein Pferd, das zwar in einiger Distanz zum Wohnort seines Halters gehalten wird, von seinem Halter oder dessen Familie aber selber gepflegt wird, so wie diese ein im Haus (oder unmittelbar daneben) lebendes Haustier täglich selber versorgen würden, als "im häuslichen Bereich" gehaltenes Tier im Sinne von Art. 42 Abs. 3 und Art. 43 Abs. 1bis OR zu qualifizieren ist. Nachdem diese Voraussetzung gemäss den unbestrittenen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hier erfüllt ist, ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache im Sinn des sinngemäss eventualiter gestellten Rechtsbegehrens Ziffer 3 zur Beurteilung des Quantitativen an das Bezirksgericht zurückzuweisen.
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