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47. Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1954 i. S. Gyger gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 68 Ziff. 2 StGB verlangt eine Zusatzstrafe. | |
Sachverhalt | |
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Am 2. Mai 1954 erklärte das Amtsgericht Thun ihn wegen zahlreicher Taten, von denen er die meisten vor, den kleineren Teil nach dem 4. Februar 1954 begangen hatte, der Veruntreuung, der Urkundenfälschung und der Unterdrückung von Urkunden schuldig und verurteilte ihn "zu einer Gesamtstrafe von 14 Monaten Gefängnis, abzüglich 52 Tage Untersuchungshaft, unter Einschluss der vom Amtsgericht von Burgdorf am 4. Februar 1954 ausgefällten bedingten Strafe von 10 Monaten Gefängnis".
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Auf Appellation des Verurteilten bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 1. Juli 1954 das Urteil, mit der einzigen Abweichung, dass es dem Verurteilten 93 Tage Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf die Strafe anrechnete.
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B.- Gyger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und diese Instanz anzuweisen, ihn zu einer Zusatzstrafe von vier Monaten, eventuell zu einer bedingt vollziehbaren Gesamtstrafe von zwölf Monaten zu verurteilen und die seit 1. Juli 1954 ausgestandene Sicherheitshaft in vollem Umfange auf die Strafe anzurechnen. Zur Begründung des Hauptantrages macht er geltend, die Ausfällung einer Gesamtstrafe komme einer Abänderung des rechtskräftigen Urteils des Amtsgerichtes von Burgdorf gleich und sei nach Wortlaut und Sinn von Art. 68 Ziff. 2 StGB unzulässig.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
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In der Literatur ist die Auffassung vertreten worden, der Wortlaut dieser Bestimmung lasse dem Richter, der die vor einer früheren Verurteilung begangene Handlung zu beurteilen hat, die Wahl, eine nur diese Handlung sühnende Strafe (sog. Zusatzstrafe) oder eine auch als Sanktion für die früher beurteilte Tat bestimmte Strafe (sog. Gesamtstrafe) auszufällen (WAIBLINGER, ZStrR 57 97, 58 236). Dem ist nicht beizupflichten. Wie schon in BGE 68 IV 11 ausgeführt worden ist, lässt die Fassung erkennen, dass Art. 68 Ziff. 2 die Möglichkeit der Ausfällung einer Gesamtstrafe ausschliesst. Die Bestimmung unterscheidet zwischen der beurteilten und der zu beurteilenden Tat und gebietet dem Richter, der über die letztere abspricht, die Strafe so zu bestimmen, wie wenn die mehreren strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären. Damit ist gesagt, dass es beim früheren Urteil sein Bewenden hat, die Sache auch nicht bloss hinsichtlich der Strafe wieder aufgegriffen werden darf. Unter der "Strafe", die der später urteilende Richter zu bestimmen hat, ist die Strafe für die von ihm selbst beurteilte Tat zu verstehen. Hätte das Gesetz ihm gebieten oder auch bloss ihn ermächtigen wollen, auf die frühere Strafe zurückzukommen, so hätte es das deutlich sagen müssen.
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Dem kann nicht entgegengehalten werden, wenn der Richter eine Gesamtstrafe ausfälle, beurteile er nichtsdestoweniger nur die vor dem früheren Urteil begangene ![]() | 8 |
Gerade solcher Fälle wegen tritt die Vorinstanz, wie es auch in der Literatur geschehen ist, für die Gesamtstrafe ein, wenn sie erklärt, es sei nicht Sinn von Art. 68 Ziff. 2, dass der Täter besser wegkomme, als wenn seine Handlungen alle gleichzeitig beurteilt worden wären. Diese Überlegung hält indessen nicht stand. Selbstverständlich will die Bestimmung den Täter nicht besserstellen und hat daher der Richter, der über die vor der früheren Verurteilung begangene, noch nicht beurteilte Tat abspricht, im Rahmen der ihm zukommenden Aufgabe dafür zu sorgen, dass der Täter nicht günstiger wegkomme, als wenn seine Handlungen alle gleichzeitig beurteilt worden wären (BGE 76 IV 75). Art. 68 Ziff. 2 bezweckt aber auch nicht, eine Besserstellung, die darauf zurückgeht, dass nicht alle Taten gleichzeitig beurteilt werden konnten, unter allen Umständen zu verhindern. Es wäre sonst nicht zu verstehen, weshalb die Bestimmung den Richter lediglich anweist, die Strafe so zu bestimmen, dass der Täter nicht schwerer bestraft wird, als wenn die mehreren strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären.
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Damit ist zugleich dargetan, dass es Art. 68 Ziff. 2 entgegen der Auffassung der Vorinstanz und des bereits zitierten Autors (WAIBLINGER, ZStR. 57 97, 58 233) ferne liegt, den einheitlichen Strafvollzug ermöglichen zu wollen. Das Erfordernis eines Antrags des Verurteilten für die nachträgliche Ausfällung einer Gesamtstrafe wäre unverständlich, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, es liege im öffentlichen Interesse, unter allen Umständen einen einheitlichen Strafvollzug zu erzielen. Ein solcher wäre übrigens selbst dann nicht gewährleistet, wenn der Richter nach Art. 68 Ziff. 2 eine Gesamtstrafe auszufällen hätte oder Art. 350 Ziff. 2 von Amtes wegen anzuwenden wäre; denn oft ist die früher verhängte Strafe schon ganz oder teilweise vollzogen, wenn der Richter diese Bestimmungen anzuwenden hat. Wenn die Gesamtstrafe vom Richter eines andern Kantons ausgefällt würde als die frühere Strafe, müsste ein schon begonnener Strafvollzug unterbrochen und im andern Kanton fortgesetzt werden. Die Einheitlichkeit des Strafvollzuges ist zudem ein Postulat, dem der Gesetzgeber auch sonst nicht durchwegs Beachtung geschenkt hat. Sonst hätte er die Ausfällung einer einheitlichen Strafe oder zum mindesten den einheitlichen Vollzug mehrerer Strafen auch für den Fall ![]() ![]() | 11 |
Art. 68 Ziff. 2 will nur verhüten, dass der Täter schwerer bestraft werde, als wenn alle Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären. Dieser Zweck lässt sich durch eine Zusatzstrafe immer erreichen. Es ist nicht richtig, dass der Täter schon strenger bestraft sei, wenn er zwei statt nur eine Strafe zu verbüssen hat (vgl. WAIBLINGER, ZStrR 57 97, 58 232). Sollte die Unterbrechung des Strafvollzuges für den Verurteilten eine Erschwerung bedeuten, die unter dem Gesichtspunkt von Art. 68 Ziff. 2 überhaupt beachtlich wäre, so müsste dem eben durch entsprechend mildere Bemessung der Zusatzstrafe Rechnung getragen werden, wie bereits in BGE 69 IV 58 ausgeführt worden ist.
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Die Entstehungsgeschichte bestätigt, dass der Richter im Falle von Art. 68 Ziff. 2 nicht eine Gesamtstrafe auszufällen hat. Zwar legt die Fassung der Vorentwürfe von 1893 (Art. 41) und 1894 (Art. 42) entgegen der Annahme des Kassationshofes in BGE 68 IV 11 nahe, dass damals an eine Gesamtstrafe gedacht wurde, zumal die Motive (S. 80) diesen Ausdruck verwenden. Auch ist im Vorentwurf von 1908 (Art. 56 Abs. 2) in Verbindung mit den Erläuterungen (S. 103 f.) noch keine Abkehr festzustellen. Schon in der zweiten Expertenkommission wurden dann aber Bedenken gegen die Aufhebung des früheren Urteils geäussert (Prot. 1392, 394), und sie führten dazu, dass die Kommission sich vorübergehend ausdrücklich auf den Boden der Zusatzstrafe stellte (Prot. 1451 Beschluss betreffend Art. 56bis). Später kam sie wieder auf die Gesamtstrafe zurück (Prot. 220 Art. 56bis Abs. 3, 2114), was denn auch deutlich in den Vorentwürfen vom ![]() | 13 |
Weshalb die Gesamtstrafe auf Widerstand stiess, erhellt aus den parlamentarischen Beratungen zu Art. 336 lit. d (Art. 353 lit. e des Entwurfes). Im Entwurf sah diese Bestimmung vor, dass der Richter "unter Aufhebung der Freiheitsstrafe des ersten Urteils" eine Gesamtstrafe ausfälle und dem Verurteilten die auf Grund des ersten Urteils erstandene Strafzeit anrechne. Der Nationalrat beschloss auf Antrag seiner Kommission, die Gesamtstrafe durch den Richter ausfällen zu lassen, der das frühere Urteil gefällt hat (Verhandlungen der Kommission des Nationalrates 7. Session S. 37 f.; StenBull NatR Sonderausgabe 567 f.). Auch in der Kommission des Ständerates wurden Bedenken dagegen geäussert, dass der später urteilende Richter die vom früheren ausgefällte Strafe solle aufheben können. Der Vorsitzende bemerkte dazu, die Worte "unter Aufhebung der Freiheitsstrafe des ersten Urteils" seien zu streichen, weil das erste Urteil nicht aufzuheben, sondern auf Grund des neuen zu ergänzen und zu erweitern sei. Ein anderes Mitglied der Kommission vertrat unwidersprochen die Auffassung, dass ein im ersten Urteil gewährter bedingter Strafaufschub nicht deshalb aufgehoben werden könne, weil nachträglich ![]() | 14 |
Dass man sich im Falle des Art. 350 Ziff. 2 mit der Abänderung eines Urteils durch einen anderen Richter abgefunden hat, ändert nichts. Hier, wie übrigens auch im Falle von Art. 336 lit. c, ist der Eingriff zugunsten ![]() ![]() | 15 |
Zu einer anderen Auslegung von Art. 68 Ziff. 2 StGB gibt auch Art. 49 Ziff. 2 MStG nicht Anlass. Freilich fällt auf, dass dem mit Art. 68 Ziff. 2 StGB übereinstimmenden ersten Absatz dieser Bestimmung ein zweiter Absatz folgt, der lautet: "Ist das frühere Urteil von einem bürgerlichen Gericht ausgefällt, so erkennt der Richter auf eine Zusatzstrafe". Zu sagen, dieser Satz würde jeden vernünftigen Sinnes entbehren, wenn der Richter schon nach Abs. 1 immer auf eine Zusatzstrafe erkennen müsste (WAIBLINGER, ZStrR 58 231), geht jedoch zu weit. Ohne Abs. 2 liesse sich die Auffassung vertreten, dass der Militärrichter das vom bürgerlichen Gericht ausgefällte Urteil überhaupt nicht zu beachten habe. Auch ist denkbar, dass "Zusatzstrafe" hier bedeute, der Militärrichter habe eine ganz bestimmte, nämlich eine bürgerliche Zusatzstrafe auszufällen (KURT, ZStrR 57 215). Jedenfalls setzt Abs. 2 voraus, dass der Begriff der Zusatzstrafe bekannt sei. Umschrieben ist er aber nirgends, wenn nicht eben im vorausgehenden Abs. 1. Das Militärkassationsgericht legt denn auch Abs. 1 dahin aus, dass der Richter nicht eine Gesamtstrafe, sondern eine Zusatzstrafe auszufällen habe (MKGE 5 Nr. 42).
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Man kann auch nicht sagen, eine Zusatzstrafe verletze das Gesetz, weil sie oft unter dem gesetzlich angedrohten Mindestmass der Strafart bleiben muss, damit sie zusammen mit der Grundstrafe nicht zu schwer sei, so z.B. wenn wenige Wochen Zuchthaus als Zusatz zu einer einjährigen Zuchthausstrafe ausgefällt werden. Da Art. 68 Ziff. 2 StGB verlangt, dass der Täter nicht schwerer bestraft werde, als wenn alle Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären, ist klar, dass der Richter, der die Zusatzstrafe ausfällt, das Gesetz nicht verletzt, wenn diese Strafe für sich allein unter dem gesetzlichen Mindestmass der Strafart bleibt; es genügt, dass sie es zusammen mit der Grundstrafe erreicht.
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In prozessualer Hinsicht ergäbe die Ausfällung einer Gesamtstrafe insofern Schwierigkeiten, als zur Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der früher beurteilten Handlungen nicht der Richter zuständig wäre, der die Strafe ausgefällt hat. Der Revisionsrichter müsste also entweder eine Strafe abändern, die von einer anderen Behörde, ja sogar in einem anderen Kanton ausgefällt worden ist, oder er müsste nach Feststellung der Revisionsbedürftigkeit des Gesamturteils die Sache an den Richter weisen, der die Gesamtstrafe verhängt hat. Demgegenüber hat das System der Zusatzstrafe den Vorteil der Einfachheit, indem die Behörden jeden Kantons zuständig sind, jenes Verfahren wiederaufzunehmen und bis zum Revisionsurteil weiterzuführen, das sie selbst durchgeführt haben, betreffe es eine Grundstrafe oder eine Zusatzstrafe.
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Es besteht daher kein Grund, von der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts abzuweichen, wonach Art. 68 Ziff. 2 StGB eine Zusatzstrafe verlangt. Der Richter hat auch nicht die Wahl, statt einer solchen eine Gesamtstrafe auszufällen. Ganz abgesehen davon, dass der Zweck ![]() | 20 |
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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