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Informationen zum Dokument  BGE 90 IV 156  Materielle Begründung
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Regeste
Aus den Erwägungen:
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1964 i.S. Künzler gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
 
 
Regeste
 
Art. 90 SVG, 237 StGB.  
 
BGE 90 IV, 156 (156)Aus den Erwägungen:
 
Nach Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder Busse bestraft, wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt. Ziff. 2 Abs. 1 dieser Bestimmung bedroht mit Gefängnis oder Busse, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Ziff. 2 Abs. 2 sodann bestimmt, dass Art. 237 StGB in diesen Fällen keine Anwendung findet.
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BGE 90 IV, 156 (157)Mit "diesen Fällen", auf die Art. 237 StGB nicht anwendbar erklärt wird, können nach dem Wortlaut und der Stellung von Ziff. 2 Abs. 2 nur jene der Ziff. 2 Abs. 1 gemeint sein. Bezöge sich die Ausnahmebestimmung auch auf Ziff. 1, so hätte sie folgerichtig in einer besondern Ziff. 3 untergebracht werden müssen. Nach der allgemeinen Regel des Art. 102 Ziff. 1 Abs. 2 SVG, der die besondern Bestimmungen des Strafgesetzbuches ausdrücklich vorbehält, käme demnach in den Fällen des Art. 90 Ziff. 1 SVG, wenn die einfache Verletzung von Verkehrsregeln zu einer konkreten Gefährdung von Leib und Leben führt, Art. 237 Ziff. 2 StGB zur Anwendung. Diese Lösung erscheint nicht zum vornherein als abwegig, wenn berücksichtigt wird, dass Art. 90 Ziff. 1 SVG nur Haft oder Busse vorsieht, bei konkreter Gefährdung aber unter Umständen eine Gefängnisstrafe gerechtfertigt sein kann, selbst wenn eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln nicht vorliegt.
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Die Entstehungsgeschichte des Art. 90 SVG zeigt indessen, dass die Anwendung des Art. 237 StGB in allen von Art. 90 SVG erfassten Fällen ausgeschlossen werden wollte. Während der Gesetzesberatung wurde die bisherige Praxis zu Art. 237 StGB als zu uneinheitlich und zu weitgehend beanstandet. Kistler rügte vor allem, dass Art. 237 StGB schon in Fällen leichten verkehrswidrigen Verhaltens Anwendung finde, auf rücksichtslose Fahrer dagegen nicht, wenn keine (konkrete) Gefährdung anderer oder nur eine solche der Wageninsassen vorliege. Er schlug deshalb im Bestreben, im SVG eine bessere und zugleich abschliessende Regelung zu treffen, vor, den bundesrätlichen Entwurf, der in Art. 83 lediglich den Übertretungstatbestand der heutigen Ziff. 1 des Art. 90 vorsah, dahin zu ergänzen, dass in einem weiteren Absatz die rücksichtslose Verletzung von Verkehrsregeln sowie die auf diese Weise geschaffene Gefährdung anderer mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder Busse bedroht werde und dass in einem dritten Absatz die Anwendung von Art. 237 StGB auf Verkehrsteilnehmer BGE 90 IV, 156 (158)ausgeschlossen werde (Prot. Komm. NR S. 368; StenBull NR 1956 S. 300 f.). Die Kommission des Nationalrates stimmte den Grundgedanken dieses Antrages zu, beschloss aber, den Text anders zu fassen, und erhob die von Pfister vorgelegte Fassung, die mit dem heutigen Art. 90 und seiner Gliederung übereinstimmt, zum Kommissionsantrag, der von beiden Räten ohne Änderung angenommen wurde. Aus welchem Grunde die Vorschrift über den Ausschluss von Art. 237 StGB nicht als Ziff. 3, sondern als Abs. 2 von Ziff. 2 in den Text aufgenommen wurde, ist nirgends begründet worden. Die nationalrätliche Kommission ging jedoch davon aus, dass Art. 237 StGB - im Unterschied zur bisherigen Praxis - nur noch in schweren, nicht mehr in leichten Fällen anwendbar sein solle, weshalb sie in Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG, der jene Bestimmung ersetzen sollte, das Vergehen der Gefährdung anderer mit den Worten "grobe Verletzung" und "ernstliche Gefahr" enger als in Art. 237 StGB umschrieb (Prot. Komm. NR S. 384, 423). Nach dieser Auffassung stellte sich die Frage der Konkurrenz zwischen Art. 237 StGB und Art. 90 Ziff. 1 SVG gar nicht mehr, was erklärlich macht, dass der Ausschluss von Art. 237 StGB auf die Fälle des Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG beschränkt wurde. Dass die Anwendung von Art. 237 StGB entgegen dem Wortlaut und der Systematik des Art. 90 SVG sowohl in den Fällen der Ziff. 2 wie der Ziff. 1 dieser Bestimmung ausgeschlossen werden wollte, ergibt sich auch aus den Ausführungen der Berichterstatter Guinand und Eggenberger im Nationalrat (StenBull NR 1957 S. 267-269).
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Bei bloss leichter Verletzung von Verkehrsregeln und konkreter Gefährdung Art. 237 Ziff. 2 StGB anzuwenden, verstiesse also gegen den Sinn des Art. 90 SVG, der will, dass die von Strassenbenützern bewirkte Gefährdung anderer nur noch unter den Voraussetzungen der Ziff. 2 Abs. 1 mit Gefängnis geahndet werde. Wäre in Fällen der Ziff. 1 von Art. 90 SVG weiterhin Art. 237 Ziff. 2 StGB anwendbar, so würde überdies die uneinheitliche BGE 90 IV, 156 (159)Praxis zu dieser Bestimmung fortbestehen und die Anwendung des Art. 90 SVG erschwert, was auch der Absicht des Gesetzgebers, die bisherige Ordnung durch eine einfachere zu ersetzen (StenBull NR 1957 S. 267/8), zuwiderliefe. Art. 90 Ziff. 2 Abs. 2 hat daher auch für die Fälle von Ziff. 1 dieser Bestimmung zu gelten (ebenso DUBS, Festgabe für Gerwig, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 55, S. 7 ff.; SCHULTZ, Strafbestimmungen des SVG, S. 176).
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Eine andere Frage ist, ob Art. 90 SVG nach richtiger Auslegung auch die vorsätzliche Gefährdung erfasse, d.h. ob Art. 237 Ziff. 1 StGB neben dieser Bestimmung anwendbar sei. Sie stellt sich im vorliegenden Falle nicht und kann daher offen bleiben.
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