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Informationen zum Dokument  BGE 91 IV 60  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1965 i.S. Müller gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
 
Regeste
 
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB.  
2. Wie sie festzustellen ist, beurteilt sich nach dem kantonalen Verfahrensrecht, dessen Anwendung der Kassationshof nicht zu überprüfen hat (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b. BStP).  
 
Sachverhalt
 
BGE 91 IV, 60 (61)Aus dem Tatbestand:
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A.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte am 15. September 1959 Herta Müller wegen Betruges zu zwei Monaten Gefängnis. Es schob den Vollzug der Strafe bedingt auf und setzte der Verurteilten fünf Jahre Probezeit.
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Am 3. Januar 1964 leitete die Bezirksanwaltschaft Zürich auf Antrag des Hotels Argovia in Zürich gegen Herta Müller eine Untersuchung wegen Zechprellerei ein. Nachdem die Bezirksanwaltschaft bereits Anklage erhoben hatte, wurde die Hotelrechnung, die sich auf Fr. 340.-- belief, durch die Reformierte Kirchenpflege Zollikon bezahlt, worauf das Hotel den Strafantrag zurückzog und das Bezirksgericht Zürich am 10. März 1964 den Prozess als erledigt abschrieb.
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B.- Am 26. März 1965 beschloss das Obergericht, den der Herta Müller im Urteil vom 15. September 1959 gewährten bedingten Strafvollzug zu widerrufen. Der Beschluss stützt sich darauf, dass Herta Müller sich vom 8. Januar bis 8. Februar 1963 im Hotel Argovia beherbergen liess, obwohl sie sich bewusst war oder zum mindesten in Kauf nahm, dass sie die Rechnung von Fr. 340.-- nicht wie vereinbart bis zum 8. Februar 1963 werde bezahlen können.
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C.- Herta Müller führt gegen diesen Beschluss Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, ihn aufzuheben.
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BGE 91 IV, 60 (62)Aus den Erwägungen:
 
Der Kassationshof hat in BGE 79 IV 113 entschieden, dass nach Art. 41 Ziff. 3 StGB über das während der Probezeit verübte Vergehen oder Verbrechen kein Strafverfahren eröffnet zu sein braucht; der Richter, der über den Vollzug einer bedingt aufgeschobenen Strafe zu erkennen habe, könne das Vergehen oder Verbrechen selber feststellen, es vorfrageweise strafrechtlich würdigen und ihm als Täuschung des richterlichen Vertrauens Rechnung tragen. BGE 86 IV 85 machte dazu die Einschränkung, dass das neue Verbrechen oder Vergehen ohne weiteres und unzweifelhaft feststehen müsse. In den andern Fällen dürfe der Widerrufsrichter nicht auf die Gefahr hin vorgreifen, dass widersprechende Entscheidungen gefällt würden. Die Bestimmung von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB, dass vorsätzliche Verbrechen oder Vergehen, die in der Probezeit begangen werden, den Widerruf des bedingten Strafvollzuges unter Vorbehalt von Abs. 2 zwingend nach sich zögen, habe grundsätzlich den Sinn, dass die neue Straftat in dem dafür vorgesehenen, mit den entsprechenden Garantien versehenen Urteilsverfahren festgestellt werde.
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Diese Rechtsprechung ist von SCHULTZ in ZBJV 98 104 kritisiert worden, weil sie für den Fall, dass noch kein Strafverfahren eröffnet worden sei, den Widerrufsrichter selber zur Feststellung des neuen Verbrechens oder Vergehens befugt erkläre. SCHULTZ befürwortet eine Rückkehr zur früheren, bewährten Praxis von BGE 68 IV 119 und BGE 74 IV 17, nach der das zuständige Gericht durch rechtskräftiges Urteil entschieden haben müsse, dass der zu einer bedingt vollziehbaren Strafe Verurteilte in der Probezeit vorsätzlich ein Verbrechen oder Vergehen begangen habe. BGE 86 IV 85 bedeute eine hocherfreuliche Rückwendung zu dieser Praxis, doch sollte eine vorbehaltlose Rückkehr vollzogen werden.
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Die Kritik übersieht, dass sich die Urteile in BGE 68 IV 119 und BGE 74 IV 17 nur mit der Frage befassen, ob dann, wenn über das neue Verbrechen oder Vergehen ein rechtskräftiges Urteil vorliege, der Widerrufsrichter vom Bundesrecht aus dieses Urteil auf seine materielle Richtigkeit zu prüfen habe. Im ersten Urteil wurde diese Frage verneint, und im zweiten wurde erkannt, dass das Bundesrecht eine solche Prüfung sogar ausschliesse. Davon, dass der Widerruf immer ein rechtskräftiges BGE 91 IV, 60 (63)Urteil über die neue Straftat voraussetze, der Widerrufsrichter also dann, wenn kein solches Urteil vorliege, sie nicht von sich aus feststellen dürfe, steht nichts in den beiden Urteilen. Es kann daher keine Rückkehr zu dieser Rechtsprechung geben, noch war BGE 86 IV 85 eine beschränkte Rückwendung dazu.
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Die Grundsätze, die in BGE 79 IV 113 und BGE 86 IV 85 aufgestellt wurden, aufzugeben, wäre entgegen der Ansicht von SCHULTZ auch sachlich nicht gerechtfertigt. Ist über die neue Straftat ein Verfahren eröffnet worden, so soll der Widerrufsrichter in der Regel dessen Ergebnis abwarten und der Entscheidung nur ausnahmsweise, wenn das Verbrechen oder Vergehen ohne weiteres und unzweifelhaft feststeht, vorgreifen. Wenn kein Strafverfahren eröffnet oder es aus irgendwelchen prozessualen Gründen - zu denen auch der Rückzug des Strafantrages gehört - wieder eingestellt worden ist, muss dagegen der Widerrufsrichter die neue Straftat selber und ohne besondere Voraussetzungen feststellen können. Die Notwendigkeit der Feststellung zeigt sich gerade in den Fällen, wo ein Verfahren vor dem zuständigen Richter nicht mehr zu erwarten ist, so bei den Verbrechen und Vergehen, die nur auf Antrag verfolgt werden und bei denen entweder innert der dreimonatigen Frist kein Antrag gestellt oder ein gestellter nachträglich zurückgezogen wurde. Könnte der Widerrufsrichter die Straftat in einem solchen Falle nicht vorfrageweise selber feststellen und würdigen, so müsste sie bei der Entscheidung über den Strafvollzug überhaupt unberücksichtigt bleiben. Das wäre nicht nur stossend im Verhältnis zu den Fällen, in denen es zu einem Urteilsverfahren gekommen ist, sondern vor allem auch unerträglich im Vergleich mit einem das richterliche Vertrauen täuschenden Verhalten des Verurteilten, das keinen Straftatbestand darstellt. Das Gesetz könnte es nicht verantworten, dass ein solches Verhalten zum Vollzug der Strafe oder zumindest zu einer Ersatzmassnahme nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB führen müsste, eine vielleicht viel schwerer wiegende Täuschung des richterlichen Vertrauens durch ein Verbrechen oder Vergehen dagegen völlig zu übersehen wäre, nur weil aus irgendeinem Grunde das Verfahren darüber nicht durchgeführt werden konnte. WAIBLINGER hat den in BGE 79 IV 113 aufgestellten Grundsatz denn auch vorbehaltlos gebilligt (s. ZBJV 92 221).
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Der Umstand, dass das Verfahren wegen Zechprellerei gegen die Beschwerdeführerin eingestellt werden musste, weil der BGE 91 IV, 60 (64)Strafantrag zurückgezogen wurde, konnte und durfte deshalb die Vorinstanz nicht hindern, den Tatbestand unter dem Gesichtspunkt des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB selber festzustellen und zu würdigen. Wie er festzustellen war, ob es genügte, die Beschwerdeführerin durch einen Sekretär des Obergerichts ein vernehmen zu lassen, ist eine Frage des kantonalen Prozessrechtes, dessen Anwendung der Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht zu überprüfen hat (Art. 269 Abs. 1, 273 Abs. 1 lit. b BStP).
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