BGE 92 IV 89 | |||
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23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. Juli 1966 i.S. Stämpfli gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 137 Ziff. 1, Art. 140 Ziff. 1 StGB. | |
Sachverhalt | |
A.- Margrit Stämpfli begab sich am Nachmittag des 22. August 1963 in den Selbstbedienungsladen des Migros-Marktes an der Marktgasse in Bern, um einen Pullover zu kaufen. Sie wählte in der Kleiderabteilung zwei Pullover aus und betrat zur Anprobe eine Umkleidekabine. Dort entschloss sie sich, den einen der beiden Pullover ohne Bezahlung zu behalten. Nachdem sie die Preisetiquette entfernt und ihren eigenen Pullover über dem neuen angezogen hatte, legte sie den nicht passenden Pullover auf das Regal zurück und versorgte sich in einer andern Abteilung mit weiteren Waren. An der Kasse bezahlte sie nur diese Gegenstände, verheimlichte dagegen die Mitnahme des Pullovers.
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B.- Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern erklärte Margrit Stämpfli am 30. März 1965 des Diebstahls schuldig und verurteilte die vermindert zurechnungsfähige Angeschuldigte zu einer auf zwei Jahre bedingt aufgeschobenen Strafe von sechs Tagen Haft.
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C.- Die Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, es sei das Obergericht anzuweisen, dem Strafverfahren keine Folge zu geben oder sie freizusprechen. Sie macht geltend, sie habe nur eine geringfügige Veruntreuung nach Art. 142 StGB oder allenfalls eine Entwendung gemäss Art. 138 StGB begangen und könne daher, da ein Strafantrag nicht gestellt wurde, nicht verurteilt werden.
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Aus den Erwägungen: | |
Im Falle Honauer (BGE 89 IV 187), auf den sich die Beschwerdeführerin beruft, wurde in Ergänzung der bisherigen Rechtsprechung (BGE 80 IV 55, 153; BGE 88 IV 18) ausgeführt, der Begriff des Anvertrauens nach Art. 140 Ziff. 1 StGB setze nicht voraus, dass die Sache vom Inhaber des Gewahrsams übergeben worden sei, sondern sie könne auch anvertraut sein, wenn sie der Täter mit ausdrücklicher oder stillschweigender Ermächtigung des Eigentümers zur Begründung eines Vertrauensverhältnisses selber behändigt habe. Das treffe z.B. zu, wenn in einem Selbstbedienungsladen der Kunde die Ware in der Absicht an sich nehme, sie pflichtgemäss an der Kasse vorzuweisen und zu bezahlen.
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Es kann dahingestellt bleiben, ob die beiden Pullover der Beschwerdeführerin bereits anvertraut waren, als sie sie zur Anprobe in die Umkleidekabine mitnahm, oder ob ein Vertrauensverhältnis erst zustandegekommen wäre, wenn sie sich entschlossen hätte, einen der Pullover zu kaufen und ihn an der Kasse zur Bezahlung vorzuweisen. Auch im Falle des Anvertrautseins der zur Probe ausgesuchten Waren hat sich die Beschwerdeführerin nicht der Veruntreuung, sondern des Diebstahls oder der Entwendung schuldig gemacht. Der Mitgewahrsam, den sie mit Willen des Eigentümers an der Ware erlangt hatte, schliesst Diebstahl nicht aus. Das wurde mit Bezug auf eine Sache, die dem Täter nicht anvertraut war, bereits im Falle Iseli (BGE 80 IV 153) entschieden, gilt aber auch, wenn dem Täter die Sache, an der er Mitgewahrsam hat, anvertraut ist. Auch dann hat er die tatsächliche Gewalt über die Sache nicht allein, sondern sie wird neben ihm vom Eigentümer oder einem Dritten ausgeübt, und diesen Mitgewahrsam des andern bricht er, wenn er sich die Sache zu alleiniger Verfügung aneignet (WAIBLINGER, ZBJV 1947, 371). In BGE 71 IV 9 hat der Kassationshof freilich angenommen, dass der Bruch fremden Mitgewahrsams, wenn die Sache dem Täter anvertraut ist, nicht unter Art. 137 StGB, sondern unter die mildere Bestimmung des Art. 140 StGB falle, weildie Versuchung zur Aneignung bei einer anvertrauten Sache grösser sei. An der Auffassung, dass in solchen Fällen stets Veruntreuung vorliege, kann jedoch nicht festgehalten werden. Es ist vielmehr im einzelnen Falle zu unterscheiden, ob Art und Grad des Anvertrautseins die Anwendung des Art. 140 Ziff. 1 StGB rechtfertigen oder ob die Schwere des Gewahrsamsbruchs die Tat als Diebstahl kennzeichne (vgl. GERMANN, ZStR 1940, 350 f.; SCHWANDER, ZStR 1961, 93).
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In den Selbstbedienungsläden wird dem Kunden das Behändigen von Waren regelmässig nur unter der Voraussetzung gestattet, dass er die von den Gestellen genommenen Gegenstände in einen dazu bestimmten offenen Drahtkorb lege und dass er sich vor dem Verlassen des Geschäftes mit den eingesammelten Waren an die Kasse begebe, damit er sie dort zum Zwecke der Kontrolle und Bezahlung vorweise. Dieser gesamte Vorgang wickelt sich zudem mehr oder weniger unter den Augen von Geschäftsangestellten ab, denen eigens die Beaufsichtigung der Kunden obliegt. Dem Kunden steht somit über die Waren, solange sie ihm anvertraut sind, nur eine geringe Verfügungsmacht zu, während jene des Geschäftsinhabers nahezu unbeschränkt bestehen bleibt. Der Bruch fremden Gewahrsams übertrifft daher den zugleich begangenen Vertrauensmissbrauch erheblich an Bedeutung und ist das die Tat kennzeichnende Merkmal, so dass sie als Diebstahl oder Entwendung, nicht als Veruntreuung zu würdigen ist.
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Weggenommen hat die Beschwerdeführerin den Pullover, als sie ihn in ihren ausschliesslichen Gewahrsam brachte. Das geschah dadurch, dass sie in der Umkleidekabine den fremden Pullover unter dem eigenen versteckte, um ihn sich anzueignen. Da das Delikt vollendet war, bevor die Beschwerdeführerin die Kasse passierte, fällt auch eine allfällige Bestrafung wegen Betruges ausser Betracht (vgl. SCHULTZ, ZBJV 1965, 24 oben).
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