BGE 95 IV 175 | |||
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45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1969 i.S. Balsiger gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste |
Art. 35 Abs. 2 SVG verlangt nicht, dass der Überholende im Kolonnenverkehr jederzeit, sondern nur, dass er rechtzeitig ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen kann. | |
Sachverhalt | |
A.- Die Hauptstrasse Bern-Thun verläuft ausserhalb Münsingen in einer ganz leichten Linkskurve. Sie ist auf weite Distanz zu überblicken, 9 m breit, durch Leitlinien in drei Fahrspuren von je 3 m eingeteilt. Die mittlere Spur steht zum Überholen in Richtung Thun zur Verfügung, da in der Gegenrichtung auf einer längeren Strecke ein Überholverbot signalisiert ist.
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Am 15. Dezember 1965 gegen 9.00 Uhr fuhr aus der Richtung Bern eine lockere Fahrzeugkolonne. Zuvorderst der Vauxhall Gsell, darauf der Lastwagen Tschanz, gefolgt vom Lastwagen Strahm. Zuhinterst fuhr der Beschwerdeführer Balsiger mit seinem Volvo. Alle vier Fahrzeuge hielten die rechte Fahrspur ein.
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Von Thun her kam während der ganzen massgebenden Zeitspanne nur der Volkswagen Ott gefahren. Insbesondere befand sich auf seiner rechten Fahrbahn kein landwirtschaftliches oder anderes langsames Fahrzeug, das eventuell trotz Überholverbots für Motorfahrzeuge überholt worden wäre.
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Auf dem geschilderten Strassenstück nach Münsingen überholte Strahm mit etwa 80 km/h den mit ca. 60 bis 64 km/h fahrenden Lastwagen Tschanz. Er betätigte den linken Blinker, fuhr in die mittlere Fahrspur, an Tschanz vorbei, stellte den Blinker zurück und bog in die etwa 50 m lange Lücke zwischen dem Lastwagen Tschanz und dem Personenwagen Gsell in die rechte Fahrspur ein. Als Strahm soweit wieder eingebogen hatte, dass sich sein Lastwagen ungefähr je zur Hälfte auf der rechten und auf der mittleren Fahrspur befand, bemerkte Strahm, dass der vorausfahrende Vauxhall rechts blinkte, weil Gsell etwas weiter vorne in die Einfahrt zur Fabrik GEMA fahren wollte. Strahm entschloss sich deshalb plötzlich, auch noch diesen Personenwagen zu überholen. Ohne in den Rückspiegel zu schauen oder den Blinker von neuem zu betätigen, fuhr er wieder in die mittlere Fahrspur hinüber.
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Der Beschwerdeführer Balsiger, der mit seinem Volvo mit ca. 100 km/h auf den Lastwagen Strahm aufholte, schickte sich an, die ganze Kolonne zu überholen. Er betätigte frühzeitig den Blinker, gab ein kräftiges Signal und fuhr mit sich ständig verkleinerndem Abstand hinter dem Lastwagen Strahm auf der Mittelspur. Als Strahm den Tschanz überholt hatte und wieder nach rechts einbog, lag der Volvo noch etwa 50 m zurück, knapp hinter dem auf der rechten Spur fahrenden Tschanz. Balsiger glaubte, Tschanz und auch den Lastwagen Strahm überholen zu können und fuhr deshalb im gleichen Tempo und in gleicher Richtung weiter. Als Strahm seinen Lastwagen unvermittelt wieder nach links ganz in die Mittelspur steuerte, wurde Balsiger völlig überrascht. Er leitete sofort eine Notstoppbremsung ein. In diesem Augenblick befand er sich in einem Abstand von noch mindestens 35 m hinter dem Lastwagen Strahm. Der Volvo kam durch den brüsken Stopp ins Schleudern, geriet auf die linke Spur und prallte mit grosser Wucht auf den entgegenkommenden Volkswagen Ott. Ott und Alfred Brechbühler, einer von Balsigers Mitfahrern, erlitten tödliche Verletzungen. Der zweite Mitfahrer und Balsiger wurden erheblich verletzt. Es entstand grosser Sachschaden.
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B.- Am 12. Mai 1967 sprach das Strafamtsgericht Konolfingen Balsiger und Strahm der fahrlässigen Tötung und der groben Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und verurteilte sie zu bedingten Gefängnisstrafen, Balsiger von 2 Monaten, Strahm von 3 Monaten.
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Das bernische Obergericht wies am 10. Mai 1968 die Berufung der beiden Verurteilten ab. Das begründete Urteil wurde am 16. Oktober 1969 zugestellt. Strahm hat es nicht weitergezogen.
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Balsiger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Freisprechung, eventuell zur Bestrafung gemäss Art. 90 Ziff. 1 statt Ziff. 2 SVG zurückzuweisen. Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen: | |
1. b) Der Beschwerdeführer legt die von der Vorinstanz gegebene Begründung dahin aus, sie fordere vom Überholenden, sich jederzeit in die Kolonne eingliedern zu können. Tatsächlich drückt sich das angefochtene Urteil so aus. War das wirklich die Meinung der Vorinstanz, so liegt darin eine unrichtige Auslegung des Art. 35 Abs. 2 SVG. Wohl verlangt diese Bestimmung, es dürfe nur überholt werden, wenn die Gewissheit bestehe, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer wieder einbiegen zu können. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Überholende jederzeit die Möglichkeit haben müsse, sich wieder einzugliedern. Er muss nur von Anfang an die Gewissheit haben, sein Überholmanöver sicher und ohne Gefährdung Dritter abschliessen zu können (BGE 93 IV 64 mit Hinweisen). Ist die Strecke auf grosse Distanz frei und übersichtlich, oder die Überholspur für den Gegenverkehr überhaupt gesperrt, dann darf auch eine kompakte Kolonne in einem Zug überholt werden, obwohl der Überholende sich nur unter Gefährdung der anderen Wagen in die Kolonne quetschen könnte. Er kann sich also nicht jederzeit eingliedern. Es genügt, dass er die Gewissheit hat, während des ganzen Überholmanövers niemanden zu gefährden und auch gefahrlos entweder an der Spitze der Kolonne oder in eine bereits vorhandene grössere Lücke einbiegen zu können. Das Überholen ist auch nicht unzulässig, weil weiter vorne bereits ein anderes Fahrzeug im Überholen begriffen ist. Der Führer des zweiten Fahrzeuges muss dann lediglich einen genügenden Abstand einhalten und sich davon vergewissern, dass er gefahrlos überholen kann; das blinde "Anhängen" an einen Überholenden ist gefährlich und verboten. Wie im übrigen Strassenverkehr darf auch bei solchen Überholmanövern mangels gegenteiliger Anzeichen davon ausgegangen werden, dass die übrigen Strassenbenützer die Vorschriften ebenfalls einhalten. So muss der Überholende nicht mit dem Ausbrechen eines weiter vorne befindlichen Fahrzeuges aus der Kolonne rechnen, solange dafür keine konkreten Anzeichen bestehen.
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Im vorliegenden Fall konnte der Beschwerdeführer im Augenblick, als er den Lastwagen Tschanz zu überholen begann und Strahm diesen um etwa 45 m überholt hatte, nicht jederzeit auf die rechte Spur einbiegen. Er hatte aber (was vorher näher erörtert wurde) die Gewissheit, bei korrektem Verhalten der übrigen Strassenbenützer sein Überholmanöver gefahrlos abschliessen zu können, gleichgültig, ob Strahm sofort einbog, mit grösserem Abstand auf Tschanz wieder auf die rechte Fahrspur schwenkte oder in einem Zug auch noch den Vauxhall überholte. Nichts deutete in jener ersten Phase auf ein Fehlverhalten eines der anderen Strassenbenützer.
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c) Dabei war auch unwesentlich, ob Gsell nach rechts abbiegen oder geradeaus weiterfahren wollte. Fuhr er weiter, dann blieb es bei der vorher beobachteten Reihenfolge und dem Überholen des Tschanz durch Strahm. Bremste Gsell ab, um nach rechts in die Fabrikeinfahrt zu gelangen, dann waren die hinter ihm auf der rechten Spur befindlichen Fahrzeugführer verpflichtet, ebenfalls abzubremsen. Solange auf der Mittelspur überholende Fahrzeuge zirkulierten, durften die Fahrzeuge der rechten Spur nicht nach links ausweichen, um an Gsell vorbeizufahren. Das galt insbesondere auch für Strahm. Hatte er sein Überholmanöver beendet und wieder hinter dem Vauxhall eingespurt, so musste er auf dieser Spur warten, bis der Volvo vorbei war. Befand er sich noch auf der linken Spur, so durfte er den abbremsenden Vauxhall ohne weiteres überholen, selbst wenn er ursprünglich in Aussicht genommen hatte, sich hinter ihm einzuordnen. Ob der Beschwerdeführer, als er zum Überholen des Lastwagens Tschanz ansetzte, den rechten Blinker des Vauxhall beobachten konnte und ob dieser dann schon in Funktion war, ändert somit nichts an der Rechtmässigkeit seines Verhaltens in dieser Phase.
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