BGE 96 IV 5 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
2. Urteil des Kassationshofes vom 20. März 1970 i.S. Waser gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden. | |
Regeste |
1. Art. 268 Ziff. 1 BStP. |
2. Art. 31 Abs. 1 StGB. Rückzug des Strafantrages. |
Unter Urteil erster Instanz ist ein Sachentscheid zu verstehen, der im ordentlichen Gerichtsverfahren ergangen ist. Dass der Urteilsfällung eine mündliche Parteiverhandlung vorausgegangen sei, ist nicht erforderlich (Erw. 2). | |
Sachverhalt | |
A.- Waser, der überschuldet war und kein Vermögen besass, verliess Ende Dezember 1967 Frau und Kind unter dem Vorwand, er fahre mit einem Kollegen nach Amerika, um einen gemeinsamen Freund zu besuchen, und werde in zwei bis drei Wochen wieder zurück sein. In Wirklichkeit unternahm er eine abenteuerliche Reise durch Afrika. Dort borgte er von einem Schweizer einen kleineren Geldbetrag, den er entgegen seinem Versprechen nicht zurückbezahlte. Ende Mai 1968 kehrte Waser mittellos in die Schweiz zurück.
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Frau Waser, der wenige Wochen nach der Abfahrt ihres Mannes das Geld ausging, musste von der Heimatgemeinde Wolfenschiessen durch Beiträge von zusammen Fr. 750.-- unterstützt werden. Ferner war sie auf die finanzielle Hilfeleistung von Verwandten angewiesen.
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B.- Auf Strafklage der Armenverwaltung Wolfenschiessen und eine Anzeige des geschädigten Schweizers führte das Verhöramt Nidwalden gegen Waser eine Strafuntersuchung wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten und wegen Betruges.
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Am 28. Februar 1969 verurteilte das Strafgericht Nidwalden Waser auf Grund der Untersuchungsakten wegen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht und wegen Betruges zu einem Monat Gefängnis.
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Gegen dieses Urteil erhob Waser am 12. April 1969 Rekurs an das Kantonsgericht Nidwalden. Am 17. September 1969 schrieb der Armenrat Wolfenschiessen dem Anwalt des Angeschuldigten, dass er den gegen Waser gestellten Strafantrag, nachdem dieser die Unterstützungsbeiträge zurückbezahlt habe, zurückziehe und annehme, dass der Anwalt auf Grund dieser Mitteilung den Rückzug selber veranlasse. Am 4. Oktober 1969 leitete der Anwalt dieses Schreiben unter Berufung auf die Rückzugserklärung an das Kantonsgericht weiter.
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Das Kantonsgericht Nidwalden, das den Rekurs am 22. Oktober 1969 beurteilte, sprach Waser von der Anklage des Betruges frei, verurteilte ihn dagegen wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflicht (Art. 217 Ziff. 1 StGB) zu drei Wochen Gefängnis. Es nahm an, dass das Urteil des Strafgerichts vom 28. Februar 1969 ein solches erster Instanz sei, weshalb der erst nachträglich erklärte Rückzug des Strafantrages gemäss Art. 31 Abs. 1 StGB nicht mehr berücksichtigt werden könne.
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C.- Waser führt gegen das Urteil des Kantonsgerichts Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei wegen Verletzung von Art. 31 StGB aufzuheben und die Sache zur Freisprechung oder Einstellung des Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht geltend, das Verfahren vor dem Strafgericht Nidwalden sei kein ordentliches Gerichtsverfahren gewesen und das von ihm erlassene Erkenntnis kein Urteil erster Instanz, sondern ein Verwaltungsakt. Das Kantonsgericht, das nicht als zweite Instanz geurteilt habe, hätte daher infolge des rechtzeitigen Rückzuges des Strafantrages keine Strafe ausfällen dürfen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
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a) In BGE 92 IV 161 wurde in Abweichung von der früheren Rechtsprechung entschieden, dass der Strafbefehl, der regelmässig auf Grund eines summarischen Verfahrens und von einer andern Behörde (Bezirksamt, Amtsstatthalter, Bezirksanwalt usw.) als der ordentlichen unteren Gerichtsinstanz erlassen wird, erst dann einem im ordentlichen Verfahren ergangenen Gerichtsurteil gleichgestellt werden kann, wenn er mangels Anfechtung rechtskräftig geworden ist. Dass der Strafbefehl, solange die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verlangt werden kann, nicht Urteilscharakter hat, wurde hauptsächlich damit begründet, dass der Antragsteller im Strafbefehlsverfahren sehr oft keine Gelegenheit zur Mitwirkung oder Akteneinsicht habe und ohne ordentliches Gerichtsverfahren sich auch kein hinreichendes Bild über Tat und Täter machen könne, um zu entscheiden, ob er den Strafantrag aufrechterhalten oder zurückziehen wolle. Als weiterer Grund wurde angeführt, dass die Revision des Art. 268 Ziff. 1 BStP vom 25. Juni 1965 weitgehend entwertet würde, wenn der noch nicht rechtskräftige Strafbefehl als Urteil gälte, weil dann der Entscheid der unteren Gerichtsinstanz, die auf Einsprache hin zu urteilen hat, bereits ein der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof unterliegendes zweitinstanzliches Urteil wäre, obschon ein ordentliches Gerichtsverfahren erst vor einer Instanz stattgefunden hat.
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b) Der Kanton Nidwalden kennt das Strafbefehlsverfahren nicht. Alle Strafsachen werden im ordentlichen Strafverfahren, d.h. auf Grund einer vom kantonalen Verhörrichter durchgeführten Strafuntersuchung beurteilt, und zwar erstinstanzlich durch das Strafgericht, wenn es sich um leichtere Delikte handelt, sonst durch das Kantonsgericht. Soweit das Strafgericht zuständig ist, erledigt es die Straffälle entweder durch Genehmigung des vom Verhörrichter ausgefertigten und vom Betroffenen angenommenen Strafantrages oder durch Strafurteil. Strafantrag wie Strafurteil können an das Kantonsgericht weitergezogen werden (Art. 19 ff. des eingangs erwähnten Gerichtsgesetzes des Kantons Nidwalden).
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Im vorliegenden Falle entschied das Strafgericht durch Strafurteil. Der Entscheid, durch den der Beschwerdeführer erstinstanzlich verurteilt wurde, ist also von einer Gerichtsinstanz nach freier und selbständiger Würdigung des Untersuchungsergebnisses gefällt worden, so dass von einem blossen Verwaltungsakt, wie der Beschwerdeführer einwendet, nicht die Rede sein kann. Auch der weitere Einwand, das Verfahren vor dem Strafgericht sei kein ordentliches gewesen, trifft nicht zu. Richtig ist zwar, dass Urteile erster Instanz im ordentlichen Verfahren in der Regel nicht auf Grund der Akten, sondern einer mündlichen Parteiverhandlung gefällt werden. Unter dem Gesichtspunkt des Art. 31 Abs. 1 StGB ist aber die Durchführung einer mündlichen Parteiverhandlung nicht entscheidend.
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Massgebend ist, dass der Antragsteller vor der Urteilsfällung Gelegenheit hatte, in Kenntnis aller wesentlichen Umstände sich über die Aufrechterhaltung oder den Rückzug des Strafantrages schlüssig zu werden, und dass auch der Angeschuldigte im Hinblick auf eine mögliche Verständigung mit dem Geschädigten sich über seine Aussichten im Prozess ein Bild machen konnte. Diese Voraussetzungen waren hier gegeben. Es wurde nicht nur ein vorläufiges Ermittlungsverfahren, sondern eine umfassende Strafuntersuchung durchgeführt, und sowohl dem Angeschuldigten als auch der Antragstellerin ist vom Abschluss der Untersuchung Kenntnis gegeben worden mit der Aufforderung, innert der gesetzten Frist in die Untersuchungsakten Einsicht zu nehmen und gegebenenfalls Vervollständigungsbegehren zu stellen. Beide konnten sich demnach anhand der vollständigen Akten über die Sachlage, wie sie dem Strafgericht zur Beurteilung unterbreitet wurde, Rechenschaft geben und vor der Urteilsfällung die für einen allfälligen Rückzug des Strafantrages erforderlichen Entschlüsse fassen. Dass die Antragstellerin nur berechtigt, aber nicht verpflichtet war, in die Akten Einsicht zu nehmen, ändert nichts; auch im Verfahren mit mündlicher Hauptverhandlung ist dem Geschädigten freigestellt, ob er in die Akten Einblick nehmen und vor Gericht erscheinen will.
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Der Entscheid des Strafgerichts war somit ein Urteil erster Instanz im Sinne des Art. 31 Abs. 1 StGB, so dass der erst nachträglich erfolgte Rückzug des Strafantrages vom Kantonsgericht zu Recht nicht berücksichtigt worden ist.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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