BGE 96 IV 91 | |||
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23. Entscheid der Anklagekammer vom 29. Juni 1970 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen gegen Verhöramt des Kantons Glarus. | |
Regeste |
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, Art. 263 BStP. |
2. Umstände, die bei Aufdeckung neuer Straftaten eine solche Änderung rechtfertigen (Erw. 2). | |
Sachverhalt | |
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Am 3. März 1970 traf die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen einen "Gerichtsstands-Entscheid", den sie ausser den Behörden des Kantons Schwyz auch dem Verhöramt des Kantons Glarus und den Staatsanwaltschaften der Kantone Graubünden und Aargau mitteilte. Sie stellte darin fest, es lägen gegen Spillmann sechs Strafanzeigen wegen Einbruchsdiebstahls vor, wobei sich der Tatort in je einem Falle in den Kantonen St. Gallen, Glarus, Aargau und Graubünden und in zwei Fällen im Kanton Schwyz befinde. Ausserdem werde Spillmann in drei Fällen des Betruges verdächtigt, wovon der eine zum Nachteil einer im Kanton Zürich wohnenden Person und die beiden anderen in Italien begangen worden seien. Ferner würden ihm mit Travellerchecks in Deutschland und in Paris begangene Betrüge zur Last gelegt. Die im Ausland gesetzten Tatbestände seien erst im Verlaufe des Untersuchungsverfahrens bekannt und in das Verfahren einbezogen worden. Der erste zur Anzeige gelangte Tatbestand sei der im Kanton St. Gallen (Weesen) begangene Einbruch, der am 16. März 1968 angezeigt worden sei. Alle Taten seien mit gleicher Strafe bedroht, weshalb Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB anwendbar sei. Es lägen keine Umstände vor, die eine Abweichung vom gesetzlichen Gerichtsstand aufdrängten. Für die im Ausland verübten Taten wäre gemäss Art. 348 Abs. 1 StGB mangels eines Wohnortes des Beschuldigten der Heimatkanton Zürich zuständig, so dass die acht Tatbestände in fünf Kantonen gesetzt worden seien. Von einem Schwerpunkt könne also nicht die Rede sein. Im Sinne dieser Erwägungen werde die Zuständigkeit des Kantons St. Gallen gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB anerkannt und das Bezirksamt Gaster mit der Durchführung der Untersuchung betraut. Am 9. März 1970 liess das Verhöramt des Kantons Schwyz Spillmann dem Bezirksamt Gaster zuführen. Die Untersuchung, die dieses fortsetzte, ergab, dass der Beschuldigte weitere strafbare Handlungen begangen hatte. Es werden ihm nunmehr insgesamt fünfzehn Einbruchsdiebstähle zur Last gelegt, wovon fünf im Kanton Glarus, einer im Kanton St. Gallen, drei im Kanton Zug, drei im Kanton Aargau, zwei im Kanton Schwyz und einer im Kanton Graubünden begangen wurden. Die Fälle von Betrug, die der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen schon am 3. März 1970 bekannt waren, bilden weiterhin Gegenstand des Verfahrens. Daneben wird Spillmann ein weiterer Betrug vorgeworfen, den er durch Verkauf eines gestohlenen Radioapparates begangen haben soll, nach seinen Angaben vermutlich in Zürich, eventuell in Deutschland. Es stellte sich heraus, dass nicht mehr der im Kanton St. Gallen (Weesen) verübte Einbruchsdiebstahl, der am 16. März 1968 um 7.10 Uhr angezeigt worden war, Anlass zur ersten Untersuchungshandlung gegeben hatte, sondern ein im Kanton Glarus (Bilten) begangener, von dem die Kantonspolizei des Kantons Glarus am 16. März 1968 um 6.20 Uhr Kenntnis erhalten hatte.
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Unter Berufung auf den neuen Sachverhalt ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen am 27. Mai 1970 das Verhöramt des Kantons Glarus, die Strafverfolgung zu übernehmen. Das Verhöramt des Kantons Glarus lehnte dies am 29. Mai 1970 ab.
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B.- Mit Eingabe vom 16. Juni 1970 an die Anklagekammer des Bundesgerichtes beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, die Behörden des Kantons Glarus zur Verfolgung und Beurteilung aller dem Spillmann zur Last gelegten strafbaren Handlungen zuständig zu erklären. Sie beruft sich auf Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.
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Das Verhöramt des Kantons Glarus beantragt, die Behörden des Kantons St. Gallen zuständig zu erklären. Es ist der Auffassung, es bestehe kein triftiger Grund, den Gerichtsstand zu ändern.
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Die Anklagekammer zieht in Erwägung: | |
1. Nach der Rechtsprechung der Anklagekammer ist die nachträgliche Änderung eines von ihr festgesetzten oder von den Kantonen vereinbarten Gerichtsstandes nur aus triftigen Gründen zulässig (BGE 69 IV 46Erw. 2,BGE 71 IV 61, BGE 85 IV 210 Erw. 3). Diese Rechtsprechung geht darauf zurück, dass gewisse Kantone, wenn sie die Strafverfolgung wegen der in ihrem Gebiete verübten strafbaren Handlungen nachträglich einstellen, sich der Pflicht zur Verfolgung und Beurteilung der übrigen Taten zu entziehen versuchten. In der teilweisen Einstellung der Verfolgung konnte die Anklagekammer nicht leichthin einen Grund zur Änderung des Gerichtsstandes sehen, weil Einstellungsbeschlüsse in der Regel erst gefasst werden, wenn der Sachverhalt, soweit überhaupt möglich, abgeklärt, die Untersuchung also abgeschlossen ist. Auch wollte sie der Versuchung der Behörden, zuerst nur die im eigenen Kanton ausgeführten Taten zu untersuchen und sich nachher der Sache zu entledigen, vorbeugen.
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In der vorliegenden Sache verhält es sich anders. Es liegt kein Einstellungsbeschluss vor. Das Bezirksamt Gaster hat sich bemüht, die vorerst nur teilweise bekannt gewesene Kette strafbarer Handlungen des Beschuldigten umfassend zu ermitteln. Der "Gerichtsstands-Entscheid" der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen vom 3. März 1970 beruhte auf unvollständiger Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Würden in einem solchen Falle der Änderung des Gerichtsstandes durch die Rechtsprechung der Anklagekammer erhebliche Hindernisse in den Weg gelegt, so müsste die Bereitschaft der Kantone, die Untersuchung vorläufig an die Hand zu nehmen und weitere Abklärung zu schaffen, erlahmen. Die Strafverfolgung würde dadurch gerade in jenen Fällen, in denen die Zusammenarbeit der Kantone am nötigsten ist, erheblich leiden (vgl. BGE 94 IV 47). Allerdings soll auch bei nachträglicher Aufdeckung neuer strafbarer Handlungen der Gerichtsstand nicht jedesmal sofort geändert werden. Den Kantonen kann aber zugemutet werden, in solchen Fällen die Änderung leichter anzuerkennen, und die Anklagekammer hat sie eher zu verfügen. Der "triftige Grund" ist hier weiter auszulegen als in den Fällen, die zu der erwähnten Rechtsprechung Anlass gegeben haben.
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2. Das Verhöramt des Kantons Glarus geht fehl, wenn es geltend macht, es rechtfertige sich nicht, wegen des geringfügigen zeitlichen Unterschiedes von fünfzig Minuten, mit dem die beiden Strafanzeigen vom 16. März 1968 erstattet wurden, den Gerichtsstand zu ändern. Der entscheidende Grund der nachgesuchten Änderung liegt nicht in diesem Zeitunterschied, sondern darin, dass dem Beschuldigten am 3. März 1970 nur sechs Fälle von Einbruchsdiebstahl zur Last gelegt wurden, während es heute deren fünfzehn sind, und dass damals der Tatort nur je in einem Falle in den Kantonen Glarus und St.Gallen lag, heute aber in fünf Fällen im Kanton Glarus und nach wie vor nur in einem Falle im Kanton St. Gallen. Das Verhöramt des Kantons Glarus versucht zwar das Verbrechen, das Spillmann in der Nacht vom 15. auf 16. März 1968 in Weesen beging, in drei Fälle aufzulösen, weil der Beschuldigte damals in drei Baracken eingedrungen sei. Die drei Baracken standen aber aneinander gereiht im gleichen Steinbruch und gehörten em und derselben Firma, die daselbst ein Hartschotterwerk betreibt. Diebstähle wurden nur in zwei dieser Baracken begangen, und die Schlüssel zur dritten lagen in der zweiten, wo der Täter sie denn auch behändigte. Das ganze Vorgehen ist offensichtlich als ein einziges Verbrechen zu würdigen, gleich wie wenn ein Einbrecher in einem Geschäftshause in mehrere Räume eindringt. Dem Verhöramt des Kantons Glarus kann auch nicht beigepflichtet werden, wenn es im Bestreben, die Gerichtsbarkeit in weiteren Fällen dem Kanton St. Gallen zuzuschreiben, geltend macht, Spillmann habe vor seiner Ausreise in das Ausland bei seinen Eltern in Amden und vorher bei seiner (nunmehr geschiedenen) Ehefrau in Buchs (SG) gewohnt, so dass für die im Ausland begangenen Handlungen St. Gallen zuständig wäre. Bei der Gerichtsstandsvereinbarung vom 3. März 1970 sind die Behörden davon ausgegangen, Spillmann habe in der Schweiz keinen Wohnort, so dass er für die im Ausland verübten Taten an sich in seinem Heimatkanton Zürich verfolgt werden müsste (Art. 348 Abs. 1 StGB). Hieran hat sich nichts geändert.
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Bleibt es somit dabei, dass heute der Kanton St. Gallen nach wie vor nur mit dem Falle von Weesen an der Sache beteiligt ist, der Kanton Glarus dagegen in fünf Fällen, die zudem auch im Hinblick auf die Diebsbeute erheblich schwerer wiegen als der St. Galler Fall, so rechtfertigt es sich, Glarus zuständig zu erklären, das nach dem Grundsatz der Prävention in der Anhebung einer Untersuchung (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) zuständig ist. Ob das im Kanton Glarus liegende Übergewicht der verbrecherischen Tätigkeit Spillmanns es auch rechtfertigen würde, in Anwendung des Art. 263 BStP vom Gerichtsstand des Art. 350 Ziff. 1 StGB abzuweichen, wenn sich dieser im Kanton St. Gallen befände, kann offen bleiben. Der gesetzliche Gerichtsstand befindet sich nicht im Kanton St. Gallen, sondern im Kanton Glarus, weshalb sich diese Frage gar nicht stellt.
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Dem Verhöramt des Kantons Glarus hilft auch der Einwand nicht, die Untersuchung sei bald abgeschlossen. Sollte dies zutreffen, so werden die Behörden des Kantons Glarus umso mehr aus der vom Bezirksamt Gaster geleisteten Arbeit Nutzen ziehen; sie haben diese Arbeit nicht nochmals zu leisten (BGE 94 IV 48). Den Behörden des Kantons St. Gallen kann auch nicht etwa vorgeworfen werden, sie hätten die Untersuchung verschleppt und die Änderung des Gerichtsstandes über Gebühr hinausgeschoben. Vom 3. März bis zum Ansuchen vom 27. Mai 1970 sind nicht einmal drei Monate verstrichen.
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Demnach erkennt die Anklagekammer:
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