BGE 100 IV 76 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
21. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1974 i.S. Roth gegen Generalprokurator des Kantons Bern | |
Regeste |
Art. 35 Abs. 3 SVG: |
2. Fall eines Überholenden, der beim Ausschwenken und Wiedereinschwenken vom mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h fahrenden Überholten nur 25 m Abstand wahrt (Erw. 2). |
Art. 35 Abs. 2 SVG: |
Ob der Gegenverkehr behindert wird, erklärt sich nicht nach dem subjektiven Empfinden des Lenkers des entgegenkommenden Wagens, sondern danach, ob der Überholende zu Beginn des Manövers nach der objektiven Verkehrslage annehmen durfte, er werde den Gegenverkehr nicht behindern (Erw. 3). | |
Sachverhalt | |
A.- Roth fuhr Sonntag nachmittags, den 17. Juni 1973 mit seinem Personenwagen auf der geraden Solothurnstrasse von Pieterlen gegen Biel. In der Gegend des Ausstellplatzes beim Schutzwald unterhalb des Schiessplatzes Bözingenmoos überholte er mit 100 km/h einen mit 80 km/h fahrenden Personenwagen, wobei sich ihm ein von Biel herkommender Personenwagen näherte, der ebenfalls 80 km/h inne hatte. Die Strasse ist dort durch eine Leitlinie in zwei Fahrbahnen von je 3,6 m Breite geteilt, an die je ein Radfahrerstreifen von 1,4 oder 1,5 m angrenzt. Roth fuhr beim Überholen vollständig auf die linke Fahrbahn. Vor dem überholten Fahrzeug schwenkte er wieder auf die rechte Fahrbahn ein noch ehe er den entgegenkommenden Wagen kreuzte. Polizeikorporal Leu, der beim Ausstellplatz den Verkehr kontrollierte und an dem Roth und das überholte Fahrzeug ungefähr gleichzeitig vorbeifuhren, hatte jedoch den Eindruck, Roth habe die beiden anderen Wagen gefährdet; der entgegenkommende habe ihn gezwungen, den Überholweg zu kurz zu gestalten. Er zeigte Roth daher wegen Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG an.
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B.- Mit Urteil vom 15. Oktober 1973 erklärte der Gerichtspräsident von Büren Roth der Widerhandlung gegen diese beiden Bestimmungen schuldig und verurteilte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu Fr. 90.- Busse. Die hiegegen erhobene Appellation wies die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils am 11. Januar 1974 ab.
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Das Obergericht kam zum Schluss, bei Geschwindigkeiten von 100 km/h bzw. 80 km/h der beteiligten Fahrzeuge erfordere korrektes Überholen vom Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen eine Strecke von mindestens 450 m. Es sei technisch allerdings gerade noch möglich, bei diesen Geschwindigkeiten auf 300 m zu überholen. Als Roth ausbog, müsse er somit von Leu noch etwa 150 m entfernt gewesen sein. Leu müsse diese Entfernung unterschätzt haben, als er sie mit 100 m angab.
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Diese Unterschätzung liege aber im Bereich des Möglichen. Deshalb sei davon auszugehen, dass Roth das Überholen auf einer Strecke von ca. 300 m ausgeführt habe. Eine solche Verkürzung des Überholweges sei aber nur bei knappem Aus- und Einbiegen möglich. Das knappe Wiedereinbiegen müsse zu Lasten des überholten Fahrzeuges gegangen sein und habe eine Behinderung desselben dargestellt.
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Weiter stehe fest, dass das entgegenkommende Fahrzeug Lichtzeichen gegeben habe, der Fahrer sich also gefährdet fühlte. Bewiesen sei auch, dass nie drei Fahrzeuge gleichzeitig nebeneinander fuhren. Aus den Zeugenaussagen könne nicht geschlossen werden, das überholte Fahrzeug habe sich an den äussersten rechten Rand der Fahrbahn gehalten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass es eher im Bereich der Mitte seiner Fahrbahnhälfte gefahren sei. Das entgegenkommende Fahrzeug sei auch nicht zuäusserst rechts gefahren, sonst hätte sein Führer sich nicht veranlasst gesehen, Lichtzeichen zu geben. Da Roth seinerseits mit der ganzen Wagenbreite links der Mittellinie gefahren sei, hätte die zur Verfügung stehende Motorfahrzeugspur von 3,6 m Breite zum Kreuzen nicht ausgereicht. Wenn es ihm auch gelungen sei, noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden Fahrzeuges wieder einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen, so habe er mit diesem riskanten Manöver doch eine Gefährdung des entgegenkommenden Fahrzeuges in Kauf genommen.
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C.- Roth führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
1. Die Feststellung des Obergerichtes, der Beschwerdeführer habe vom Ausbiegen bis zum Wiedereinbiegen nach rechts etwa 300 m zurückgelegt, ist tatsächlicher Natur und bindet daher das Bundesgericht (Art. 277bis BStP). Auf die Behauptung des Beschwerdeführers, die Überholstrecke müsse 450 m betragen haben, kann nicht eingetreten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Sie wird nicht dadurch zulässig, dass er die Auffassung des Obergerichtes als willkürliche Annahme hinstellt, die sich auf die Aussage des Polizeikorporals stütze, der ja auch nach der Meinung des Obergerichtes unrichtig geschätzt habe.
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Die Längen der beiden Fahrzeuge sind nicht festgestellt. Der Wagen des Beschwerdeführers war ein "Alfa Romeo" und der unbekannt gebliebene überholte Wagen soll nach Angaben des Polizeikorporals ein solcher der Mittelklasse oder ein Kleinwagen gewesen sein. Es darf deshalb davon ausgegangen werden, dass die beiden Wagenlängen zusammen 9 m nicht überstiegen. Zieht man diese 9 m von den 60,37 m ab, die der Beschwerdeführer während des Überholens mehr zurücklegte als der überholte Wagen, so verbleiben 51,37 m. Verteilt man diese Strecke auf die Abstände, die der Beschwerdeführer vor dem Ausbiegen nach links und nach dem Wiedereinbiegen nach rechts vom anderen Wagen einhalten musste, so ergeben sich Abstände von je rund 25,5 m. Dass der Abstand vor und nach dem Überholen ungefähr gleich gross gewesen sein muss, ergibt sich daraus, dass nach der Feststellung des Obergerichtes der Wagen des Beschwerdeführers beim Ausbiegen etwa 150 m vom Polizeikorporal entfernt war, ungefähr gleichzeitig wie der überholte Wagen an Leu vorbeifuhr und zur Beendigung des Überholens nochmals etwa 150 m zur Verfügung hatte.
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Der ermittelte Abstand von rund 25 m zwischen dem Überholenden und dem Überholten war allerdings erst in der Schlussphase des Überholmanövers erreicht, d.h. im Moment, da das überholende Fahrzeug seine Stelle am rechten Strassenrand wieder eingenommen hatte. Zuvor - während des Wiedereinbiegens - bestand diese Distanz nicht. Sie vergrösserte sich erst im Verlaufe des Einbiegens wegen der höheren Geschwindigkeit von dem Punkt, in welchem die Fahrzeuge auf gleicher Höhe sich befanden, bis zu jenen 25 m bei Abschluss des Manövers. Da aber das überholende Fahrzeug zwischen diesen beiden Punkten einer vor dem überholten Wagen durchgehenden Schräge folgte, kam das erstere in bedrohliche Nähe des zweiten.
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Nach Art. 35 Abs. 3 SVG muss derjenige, der überholt, auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf jene, die er überholen will, besondere Rücksicht nehmen. Das Überholen einzelner oder mehrerer Fahrzeuge ist nur erlaubt, wenn der Überholende sein Vorhaben gefahrlos abschliessen, d.h. ohne Behinderung des Gegenverkehrs und des zu Überholenden nach dem Manöver rechts wieder einschwenken kann (BGE 93 IV 64 mit Verweisungen). Kann der Überholte seine Fahrt nicht ungestört fortsetzen, ist er vielmehr genötigt, wegen des zu engen Wiedereinbiegens des Überholenden seine Geschwindigkeit herabzusetzen, wird er dadurch behindert. Der Überholende lässt es in einem solchen Fall an der Rücksichtnahme ermangeln, zu der er nach Art. 35 Abs. 3 SVG verpflichtet ist (BGE 93 IV 65 unten).
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Wenn Roth in der Schlussphase seines Überholmanövers lediglich 25 m Abstand vom Überholten hatte, muss er diesen beim Wiedereinschwenken nach rechts gefährdet haben. Bei den gegebenen Geschwindigkeiten hätte er für ein gefahrloses Überholen eine erheblich längere Strecke benötigt, als die 300 m, die ihm zur Verfügung standen. Nach dem vom Kassationshof immer wieder verwendeten Paravit-Kreisschieber hätte der Überholweg hier 550 m betragen. Auch nach der in der Literatur verwendeten Berechnungsformel würde die fragliche Strecke etwa gleich lang sein (BUSSY/RUSCONI, Code suisse de la circulation routière, N. 2.9 zu Art. 35 SVG auf S. 135). Danach muss derjenige, der einen anderen Wagen mit mehr als 70 km/h überholt, von diesem beim Aus- und beim Wiedereinschwenken einen Abstand von 50 m wahren. Die Summe dieser Strecken plus die Längen der beiden Wagen multipliziert mit der Geschwindigkeit des Überholenden und das Ganze geteilt auf die Differenz zwischen der Geschwindigkeit des Überholenden und derjenigen des Überholten ergibt im vorliegenden Fall 545 m (50 + 50 + 4,5 + 4,5) x 100: 20 = 545 m. Selbst wenn man diese Richtwerte etwas herabsetzen würde, falls es sich beim Überholenden um einen erfahrenen Motorfahrzeugführer handelt (BUSSY/RUSCONI, a.a.O. S. 136 oben), ergäbe das niemals eine so kurze Überholdistanz, wie sie Roth zur Verfügung stand. Der Beschwerdeführer ist somit seinen Rücksichtspflichten gemäss Art. 35 Abs. 3 SVG nicht nachgekommen, weshalb die Vorinstanz ihn zu Recht wegen Verletzung dieser Gesetzesbestimmung verurteilt hat.
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Sie lässt sich nicht schon deshalb bejahen, weil der Lenker dieses Wagens den Beschwerdeführer durch ein Lichtzeichen warnte. Aus dem Zeichen ist an sich nur zu schliessen, dass er den Beschwerdeführer auf den entgegenkommenden Wagen aufmerksam machen wollte. Dass dieser Wagen die Geschwindigkeit herabsetzte, ist nicht festgestellt und behauptet auch der Polizeikorporal nicht.
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Fuhr er aber mit unveränderter Geschwindigkeit (von 80 km/h) weiter, so kann sich sein Führer vernünftigerweise trotz des abgegebenen Lichtzeichens nicht als gefährdet betrachtet haben, zumal er nicht einmal auf den Radfahrerstreifen auswich.
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Übrigens kommt auf das subjektive Empfinden des Führers des entgegenkommenden Fahrzeuges nichts an. Entscheidend ist nur, ob der Beschwerdeführer nach der objektiven Verkehrslage beim Beginn des Überholens annehmen musste, er werde das entgegenkommende Fahrzeug im Sinne des Art. 35 Abs. 2 SVG behindern, und er deshalb vom Überholen hätte absehen sollen.
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Der festgestellte Sachverhalt reicht zur Beantwortung dieser Frage nicht aus. Das Obergericht weiss nicht, wo sich das entgegenkommende Fahrzeug unmittelbar nach der Beendigung des Überholens befand. Es drückt sich reichlich unbestimmt dahin aus, es sei dem Beschwerdeführer gelungen, "noch vor dem Kreuzen des entgegenkommenden Fahrzeuges wieder einzubiegen oder doch mit dem Einbiegen zu beginnen". Es nimmt auch nicht zur Behauptung des Polizeikorporals Stellung, der entgegenkommende Wagen sei nur noch etwa 60-80 m von ihm, Leu, entfernt gewesen, als Roth an ihm, Leu, vorbeifuhr. Diese Behauptung ist übrigens offensichtlich unvereinbar mit der feststehenden Tatsache, dass der Beschwerdeführer vom Polizeikorporal aus bis zur Stelle, wo er das Überholen beendete, noch etwa 150 m zurückzulegen hatte. Die von Leu angegebenen 60-80 m liegen innerhalb dieser Strecke. Wäre die Behauptung Leus richtig, so hätte es unfehlbar zu einem frontalen Zusammstoss kommen müssen. Wenn der Beschwerdeführer, wie festgestellt ist, ungefähr 150 m vom Polizeikorporal entfernt das Überholen unbehelligt beenden konnte, muss der entgegenkommende Wagen noch wesentlich mehr als 150 m vom Polizeikorporal entfernt gewesen sein, als der Beschwerdeführer an diesem vorbeifuhr; denn während der Beschwerdeführer die 150 m zurücklegte - wofür er 5,39 Sekunden benötigte - näherte sich der mit 80 km/h entgegenkommende Wagen dem Polizeikorporal um 5,39 x 22,2 = 119,65 m. Wenn der entgegenkommende Wagen das Fahrzeug des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Beendigung des Überholens kreuzte, muss er somit, als der Beschwerdeführer am Polizeikorporal vorbeifuhr, noch etwa 119,65 + 150 = 269,65 m von diesem entfernt gewesen sein.
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Falls das Obergericht nicht in der Lage ist, zuverlässig festzustellen, wo der Beschwerdeführer den entgegenkommenden Wagen kreuzte, wird es den Beschwerdeführer vom Vorwurf, diesen Wagen behindert zu haben, freisprechen müssen. Der blosse Vorwurf, der Beschwerdeführer habe zu wenig berücksichtigt, dass dieser Wagen seine Fahrweise ändern oder der Beschwerdeführer sich verschätzen könnte, reicht zur Verurteilung wegen Übertretung der Art. 34 Abs. 4 und 35 Abs. 2 SVG nicht aus.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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