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26. Urteil des Kassationshofes vom 9. Juni 1978 i.S. Y. gegen X. | |
Regeste |
Art. 32, 220 StGB, Art. 2 ZGB. Entziehen und Vorenthalten von Unmündigen. |
2. Die eigenmächtige Überschreitung des Besuchsrechts schliesst Straflosigkeit wegen erlaubter Selbsthilfe aus (E. 2). |
3. Rechtsmissbräuchliche Ausübung des Strafantragsrechts. Voraussetzungen (E. 3). | |
Sachverhalt | |
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b) Die Ausübung des Besuchsrechts gestaltete sich sehr schwierig. In der zweiten Hälfte des Jahres 1975 konnte es überhaupt nicht mehr ordnungsgemäss ausgeübt werden. Einerseits legte François X. Hindernisse in den Weg und anderseits trug auch das Verhalten verschiedener Behörden zur Behinderung bei. Am 15. März 1975 ersuchte François X. die Vormundschaftsbehörde, seinen Kindern inbezug auf das Besuchsrecht der Mutter die Handlungsfreiheit zuzugestehen, worauf der Gemeinderat von Ferenbalm am 18. Juni 1975 das Besuchsrecht mit sofortiger Wirkung auf Zusehen hin unterband. Eine von der Mutter dagegen erhobene Beschwerde wies der Regierungsstatthalter von Laupen ab, befristete aber die Wirksamkeit des Beschlusses auf den 15. Oktober 1975. Kurz hernach stellte Gisèle Y. beim Gerichtspräsidenten von Laupen das Gesuch um Urteilsvollstreckung mit dem Antrag, es sei eine Drittperson zu beauftragen, die Kinder mit polizeilicher Hilfe an den gerichtlich festgesetzten Tagen dem Vater wegzunehmen und der Mutter zu überbringen. Diesem Gesuch wurde am 9. März 1976 teilweise entsprochen, nachdem eine Beschwerde wegen Rechtsverzögerung vom Appellationshof des Kantons Bern am 17. Februar 1976 gutgeheissen worden war.
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c) Am Morgen des 19. Dezember 1975 fuhr Gisèle Y. mit ihrem Freund in dessen Auto nach Rizenbach, wo sie verkleidet auf dem Weg zum Schulhaus auf ihre Kinder wartete. Als diese sie erkannten, stiegen Patricia und Sandra freiwillig in den Wagen, während Didier sich weigerte, seinen Schwestern zu folgen. Die Mutter verbrachte darauf zusammen mit ihren Töchtern bis zum 23. Dezember 1975 die Ferien im Wallis. Nach Hause zurückgekehrt, begab sie sich am 24. Dezember 1975 zur Adjunktin des Jugendgerichts Jura, von wo aus die Kinder ihrem Vater telefonieren konnten. Dieser bestand darauf, dass sie ihm am 27. Dezember 1975 übergeben werden.
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B.- Auf Strafantrag von François X. sprach der a.o. Gerichtspräsident von Laupen Gisèle Y. am 11. Juli 1977 des Entziehens und Vorenthaltens von Unmündigen (Art. 220 StGB), begangen in der Zeit vom 19. bis 29. Dezember 1975, schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 20.-, zu den ergangenen Gerichtskosten von Fr. 475.- und zu den Interventionskosten des Privatklägers.
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Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern bestätigte am 28. Oktober 1977 das erstinstanzliche Urteil und auferlegte Gisèle Y. auch die Kosten des Berufungsverfahrens (Fr. 470.-) sowie die Interventionskosten beider Instanzen (Fr. 3200.-).
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C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Gisèle Y., das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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a) Die Beschwerdeführerin hat zwar die Kinder lediglich drei Tage zu lange bei sich behalten, wogegen ihr das Besuchsrecht in der vorangegangenen Zeit während einer bedeutend grösseren Zahl von Tagen verwehrt worden war. Dem Elternteil, dem aus irgendeinem Grund das Besuchsrecht verkürzt wurde, steht aber kein Recht zu, diesen Ausfall eigenmächtig zu kompensieren. Der Ausgleich darf nicht einseitig vom Besuchsberechtigten gegen den Willen des Inhabers der elterlichen Gewalt oder ohne richterliche Entscheidung herbeigeführt ![]() | 10 |
b) Auch der Einwand der Beschwerdeführerin, sie habe die Kinder nicht entziehen oder vorenthalten wollen, ist haltlos. Sie wusste, dass sie die Kinder länger als sieben Tage zu sich nahm, und sie tat es ohne inneren oder äusseren Zwang, also aus freien Stücken. Damit hat sie vorsätzlich gehandelt.
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c) Nicht zu ersehen ist, inwiefern die Vorinstanz Art. 8 EMRK, wonach jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens hat, verletzt haben soll. Die Beschwerde enthält keine nähere Begründung, so dass auf die Rüge nicht eingetreten werden kann (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Sie wäre zudem unbegründet, weil die elterliche Gewalt und das Besuchsrecht im ZGB gesetzlich geregelt sind und diese Ordnung in Abs. 2 von Art. 8 EMRK ausdrücklich vorbehalten wird.
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d) Die besonderen strafmindernden Umstände des vorliegenden Falles sind übrigens berücksichtigt worden, indem das Verschulden der Beschwerdeführerin als geringfügig erachtet und nur eine Busse von Fr. 20.- ausgesprochen wurde.
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Nach Art. 52 Abs. 3 OR ist nicht zu Schadenersatz verpflichtet, wer zum Zwecke der Sicherung eines berechtigten Anspruches sich selbst Schutz verschafft, wenn nach den Umständen amtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt und nur durch Selbsthilfe eine Vereitelung des Anspruches oder eine wesentliche Erschwerung seiner Geltendmachung verhindert werden ![]() | 15 |
Ob die gesetzlich erlaubte Selbsthilfe auch einen Elternteil zur eigenmächtigen Durchsetzung seines Besuchsrechts berechtige, kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Zwar verweigerte der Beschwerdegegner die Ausübung des Besuchsrechts hartnäckig, und die Beschwerdeführerin hatte Grund zur Annahme, sie werde bei den Behörden auf längere Zeit hinaus keinen Schutz finden und die Kinder könnten ihr entfremdet werden. Sie ist aber nicht nur eigenmächtig vorgegangen, um das ihr zustehende Besuchsrecht auszuüben, sondern hat es ohne Ermächtigung um drei Tage überzogen und damit das allfällige Recht zur Selbsthilfe überschritten und sich insoweit ins Unrecht versetzt. Selbst die Überschreitung von Notwehr gestattet nur Strafmilderung, nicht Straflosigkeit (Art. 33 Abs. 2 StGB). Auch erlaubte Selbsthilfe könnte daher die Beschwerdeführerin nicht völlig entlasten.
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a) Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs sind Grundsätze, welche in der gesamten Rechtsordnung Geltung haben und nicht auf das Privatrecht beschränkt sind; sie sind auch im öffentlichen und im Prozessrecht anwendbar (MERZ, Art. 2 ZGB, N. 64 ff.; DESCHENAUX, Schweiz. Privatrecht, Bd. 2, S. 158 ff.). Das gilt auch für das Gebiet des Strafantragrechts (GERMANN, ZStR 79 (1963) S. 397; VON BÜREN, Der Straftatbestand des unlauteren Wettbewerbs, in Kriminalistik 1968, S. 100, Appellationsgericht Basel-Stadt, in SJZ 39 (1942/43) S. 365 f.; a.M. REHBERG, ZStR 85 (1969) S. 272). Das Strafgesetz sieht selber in besonderen Fällen, die als Rechtsmissbrauch angesehen werden können, den Ausschluss des Verletzten vom Antragsrecht ausdrücklich vor. Ein ![]() | 18 |
b) In Anlehnung an Art. 165 Ziff. 2 Abs. 3 StGB ist die Ausübung des Antragsrechts namentlich als rechtsmissbräuchlich zu betrachten, wenn der Antragsteller durch eigenes rechtswidriges Verhalten zur strafbaren Handlung des Täters unmittelbar Anlass gegeben hat. Offenbarer Rechtsmissbrauch darf indessen nur mit Zurückhaltung angenommen werden (BGE 95 II 512). Nur wenn der Verletzte dem Täter ein objektiv grobes Unrecht zugefügt hat und zwischen seinem rechtswidrigen Verhalten und dem vom Täter herbeigeführten strafbaren Erfolg ein enger Kausalzusammenhang besteht, rechtfertigt es sich, dem Antragsteller ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Verfolgung und Bestrafung des Täters abzusprechen und demzufolge den gestellten Strafantrag als ungültig zu erachten.
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c) Aus den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz ergibt sich, dass der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin im Jahre 1975, sowohl vor dem 18. Juni als auch nach dem 15. Oktober, während einer längeren Zeitspanne an der Ausübung des ihr zustehenden Besuchsrechts gehindert hat. Sein Gesuch vom 15. März 1975 um Unterbindung des Besuchsrechts und die Tatsache, dass er sich dem Begehren der Beschwerdeführerin vom 18. Oktober 1975 um Vollstreckung des gerichtlichen Urteils widersetzte, legen den Schluss nahe, es sei ihm in Wirklichkeit um die Beseitigung des Besuchsrechts schlechthin gegangen. Für die schikanöse Einstellung des Beschwerdegegners kennzeichnend ist auch der Vorfall vom 6. Dezember 1975 vor dem Schulhaus Rizenbach, als er der ![]() | 20 |
Das angefochtene Urteil gibt jedoch keine genügenden Aufschlüsse darüber, in welcher Art und Weise und wie oft der Beschwerdegegner die Beschwerdeführerin bei ihren Versuchen, die Kinder bei ihm abzuholen, an der Ausübung des Besuchsrechts gehindert hat und welche Beweggründe für sein Verhalten massgebend waren. Das Urteil ist daher gemäss Art. 277 BStP aufzuheben, damit die Vorinstanz darüber nähere Feststellungen treffe und gestützt auf das Ergebnis die Sache unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauches neu beurteile.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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